Regierung erwartet Verständnis
für Stationierung von US-Waffen
Handelsblatt, 12.07.2024
Immerhin 47 Prozent der Deutschen
befürchten laut einer Forsa-Umfrage,
dass mit den US-Marschflugkörpern
die Gefahr für einen Konflikt mit Russland steige.
Nur 17 Prozent glauben, ihr Leben werde sicherer.
Focus, 30/2024
Bisher manifestierte sich die Scholzsche Zeitenwende in einer exorbitanten Steigerung der deutschen Rüstungsausgaben und einer damit einhergehenden zunehmenden allgemeinen Militarisierung des Landes[1], die der von Bundesverteidigungsminister Pistorius bereits 2023 ausgegebenen, vom Kanzler sanktionierten und am 5. Juni 2024 von Pistorius im Bundestag bekräftigten Devise folgt: „Wir müssen bis 2029 kriegstüchtig sein.“[2] Überdies manifestiert sich die Zeitenwende in einer Milliarden an Steuergeldern verpulvernden Ukrainehilfe, die primär darauf angelegt zu sein scheint, die militärischen und wirtschaftlichen Ressourcen Russlands nachhaltig zu verschleißen, denn darauf den Krieg möglichst rasch zu beenden.[3]
Seit jüngstem dekliniert sich Zeitenwende nun auch noch folgendermaßen: Während für die Stationierung von atomaren US-Mittelstreckenwaffen in Westeuropa, die Anfang der 1980er Jahre stattfand, nicht nur eine einstimmige Entscheidung der Mitgliedstaaten des Nordatlantikpaktes, der sogenannte NATO-Doppelbeschluss von 12. Dezember 1979[4], erforderlich war, sondern für Deutschland überdies ein gesonderter Mehrheitsbeschluss des Bundestages vom 22. November 1983, um tatsächlich – nur Tage später – mit der Stationierung zu beginnen, genügte dieses Mal eine Entscheidung der US-Regierung, abgenickt vom Kanzler und verkündet auf einer Pressekonferenz am Rande des jüngsten NATO-Gipfels, der vom 9. bis 11. Juli 2024 in Washington stattgefunden hat: Ab 2026 sollen in Deutschland drei Typen bodengestützter US-Langstreckenwaffen stationiert werden: Tomahawk-Marschflugkörper, Standard Missile 6/SM-6 (in der Ausführung als Boden-Boden-Raketen) und derzeit noch in der Entwicklung befindliche Hyperschallraketen (vermutlich vom Typ Dark Eagle).[5] Letzteren spricht Wassili Kaschin, Direktor des Moskauer Zentrums für umfassende europäische und internationale Studien, CCEIS, eine Reichweite von 3000 Kilometern zu.[6] Stückzahlen sind bisher nicht genannt worden. Ein paralleles Verhandlungsangebot an Moskau wie beim NATO-Doppelbeschluss war mit der jetzigenVerkündung nicht verbunden. Die übrigen NATO-Staaten blieben dieses Mal ebenso außen vor wie der Bundestag.
Im Unterschied zur Berichterstattung in manchen Medien, die von einer bloß zeitweisen Stationierung der US-Systeme sprachen,[7] heißt es im US-amerikanisch-deutschen Statement: „Die Vereinigten Staaten werden im Jahr 2026 mit episodischen Einsätzen der Langstreckenfeuerfähigkeiten ihrer Multi-Domain Task Force in Deutschland beginnen, die Teil der Planung für eine dauerhafte Stationierung dieser Fähigkeiten in der Zukunft sind (Hervorhebung – W.S.).“[8]
Der Ex-SPD-Vorsitzende Norbert Walter-Borjans hat sich im Deutschlandfunk verwundert darüber geäußert, dass es trotz dieser sicherheitspolitisch einschneidenden, vom Bundeskanzler im Alleingang – quasi nach Gutsherrenart – getroffenen Entscheidung „eine […] beängstigende Stille in der gesamten Gesellschaft gibt“[9]. Auf die Öffentlichkeit gemünzt und schon gar im Rückblick auf die sich Anfang der 1980er Jahre gegen den Doppelbeschluss formierende mächtige Friedensbewegung[10] ist Walter-Borjans Wahrnehmung gewiss zutreffend, doch genau dies dürfte der ausgebuffte Politprofi Scholz nüchtern kalkuliert haben: In einer Gesellschaft, für die nahtlos ineinander übergehende Krisen in zentralen Lebensbereichen seit Jahren kräftebindender und -zehrender Normalzustand sind, begleitet durch die täglichen Wasserstandsmeldungen zum Kriegsgeschehen in benachbarten Regionen (Ukraine, Naher Osten), wird die Ankündigung der Stationierung von ein paar auf Russland zielenden Raketen mehr niemanden hinter dem Ofen hervorlocken. Auch nicht, wenn ein paar einsame Rufer in der Wüste sich durchaus vernehmen lassen – so wieder einmal der SPD-Fraktionschef im Bundestag, Rolf Mützenich: „Mir erschließt sich […] nicht, warum allein Deutschland derartige Systeme stationieren soll. Unter Lastenteilung habe ich bisher etwas anderes verstanden.“[11]
Andere hingegen halten mit ihrer vorbehaltslosen Zustimmung zur geplanten Raketenstationierung nicht hinter dem Berge, darunter einmal mehr führende Grüne. Allen voran, so vermeldete die Tagesschau, hat „Außenministerin Annalena Baerbock […] die geplante Stationierung weitreichender US-amerikanischer Raketen in Deutschland gegen Kritik verteidigt“[12]. Und „Bundeswirtschaftsminister Habeck“, laut Deutschlandfunk, „bezeichnete die Entscheidung als notwendig, auch wenn er sich mit Aufrüstung nicht leicht tue.“[13]
Die Reaktion aus Moskau auf die jetzige Stationierungsentscheidung erfolgte prompt, und sie machte deutlich, worin die gravierendste Folge einer Umsetzung der Entscheidung bestünde. In seiner Rede bei der Marineparade in Sankt Petersburg am 28. Juli erklärte Präsident Putin, dass durch entsprechende US-Systeme in Deutschland wichtige russische Staats- und Militäreinrichtungen sowie Industriebetriebe angreifbar wären, wobei die US-Raketen nur etwa zehn Minuten Zeit bräuchten, um ihre Ziele in Russland zu erreichen.[14]
Damit nahm Putin offensichtlich die angekündigten Hyperschallwaffen vom Typ Dark Eagle[15] in den Blick, die mit einer Geschwindigkeit von Mach 5[16] operieren sollen und damit eine Situation zurückbringen würden, wie sie ab 1983 durch die damalige Pershing-II-Stationierung bereits einmal bestanden hat: Eine extrem verkürzte Vorwarnzeit lädt nach Auffassung von Experten dazu ein, die betreffenden Systeme in einer sich zuspitzenden Krisensituation präventiv auszuschalten. Diesen Zusammenhang hatte der Erhard-Eppler-Kreis wohl bei seiner Äußerung vor Augen: Es gehe „um nicht weniger als um die Frage, ob unser dicht besiedeltes Land zum Ziel eines atomaren Erstschlags werden könnte“[17]. Ein solcher Angriff wäre natürlich in höchstem Maße völkerrechtswidrig, die Frage an sich jedoch für Deutschland im Nachhinein allenfalls noch von akademischer Bedeutung. Einer Einschätzung, wie sie Wolfgang Richter getroffen hat, kann daher nur zugestimmt werden: Die Stationierungsentscheidung „verändert die strategische Lage Deutschlands“[18].
Allerdings – Präventivschlagsdenken ist auch namhaften deutschen Sicherheitsexperten keineswegs fremd. Schon wenige Tage nach der jetzigen Stationierungsverkündung äußerte Claudia Major von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) – das ist jene mit dem Anspruch, Denktank der Bundesregierung und des Bundestages zu sein – in einem Plädoyer, das das Handelsblatt unter die apodiktische Überschrift „Europa braucht die US-Mittelstreckenraketen“ stellte: „Im Ernstfall müssen NATO-Staaten auch selbst angreifen können, zum Beispiel um russische Raketenfähigkeiten zu vernichten, bevor diese NATO-Gebiet angreifen können, und um russische Militärziele zu zerstören, wie Kommandozentralen.“[19]
Ebenfalls einigermaßen befremdlich erscheint es in diesem Zusammenhang auch, wenn ausgerechnet Chrismon, die Zeitschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), einen Privatdozenten an der Münchener Bundeswehr-Universität vor „Desinformationsschleudern“, denen dann wohl der Autor des vorliegenden Beitrages ebenfalls zuzurechnen wäre, warnen lässt, die „den Menschen jetzt […] unnötig Angst vor dem Atomtod einreden“[20]. Andererseits – wenn man das jahrhundertelange Segnen von Waffen und Kriegszügen durch Amtsträger christlicher Kirchen in Rechnung stellt …
Alternativ könnte Moskau die Einleitung eines Gegenschlags für den Fall eines Angriffs – präventiv quasi à la Major mit den künftigen US-Systeme aus Deutschland – weitgehend automatisieren und damit sicherstellen, dass eine militärische Antwort erfolgt, bevor die ersten feindlichen Raketen einschlagen. Entsprechende Überlegungen sind von westlichen Fachleuten unter Begriffen wie launch on warning und launch under attack während des ersten Kalten Krieges wiederholt diskutiert worden – inklusive der damit verbundenen Risiken. So gäbe es bei einem automatisierten Gegenschlag etwa im Falle eines Fehlalarms – wie am 25. September 1983 in einem Gefechtsführungszentrum des damaligen sowjetischen Frühwarnsystems – praktisch keine menschlichen Eingriffsmöglichkeiten mehr, um einen kaskadierenden Ablauf in Richtung einer atomaren Apokalypse noch zu verhindern.[21]
Es liegt auf der Hand, dass mit launch on warning oder launch under attack das Risiko eines Atomkrieges zwischen Russland und dem Westen ebenfalls deutlich über das heutige Maß hinaus ansteigen könnte.
Dass Russland seine Gegenmaßnahmen im Übrigen nicht auf Deutschland und Westeuropa beschränken wird, haben russische Medien bereits am 12. Juli durchblicken lassen, als sie Wassili Kaschin daran erinnern ließen, dass man „die Erklärungen der obersten russischen Militärführung nicht vergessen“ sollte, „dass wir, wenn Raketen in der Nähe unserer Grenzen auftauchen, symmetrisch einen zusätzlichen Druckpunkt in der Nähe der Vereinigten Staaten schaffen werden“[22]. In diesen Kontext passt eine Bemerkung Donald Trumps auf dem Konvent der Republikaner, der vom 15. bis 18. Juli 2024 in Milwaukee abgehalten wurde: „Russische Kriegsschiffe und Atom-U-Boote operieren nur 60 Meilen vor der Küste von Kuba. Haben Sie das gewusst?“[23] Diese Bemerkung bezog sich offenbar darauf, dass im Juni drei Kampfschiffe und ein atomgetriebenes U-Boot der russischen Kriegsmarine Havanna einen offiziellen Besuch abgestattet hatten. Allerdings ohne Kernwaffen mit sich zu führen, wie kubanische Behörden versicherten.
Putin seinerseits unterstrich in seiner erwähnten Rede in Sankt Petersburg laut RT DE: „Russland werde je nach Handlungen der USA sowie ‚ihrer Satelliten in Europa und anderen Regionen der Welt‘ spiegelgleich reagieren.“[24]
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Abschließend zu einigen Einlassungen in der bisherigen Debatte um die amerikanisch-deutsche Stationierungsankündigung:
- Marcus Faber (FDP), seit 12. Juni 2024 neuer Vorsitzender des Verteidigungsausschusses des Bundestages, nahm Rolf Mützenich aufs Korn: „Ich habe von Herrn Mützenich bisher kein Statement zu Putins Mittelstreckenraketen in Kaliningrad gehört.“[25] Damit dürften die konventionell wie atomar armierbaren ballistischen Raketen vom Typ Iskander gemeint sein. Dass Mützenich sich dazu nicht äußert, könnte damit zusammenhängen, dass diese Raketen, wenn auch nicht im Gebiet von Kaliningrad, schon zu Zeiten, als der INF-Vertrag noch nicht torpediert war, völlig unbeanstandet existierten: Mit ihrer Reichweite von bis zu 500 Kilometern kam selbst in den USA damals niemand auf die Idee, von Mittelstreckenraketen zu sprechen. Nach Kaliningrad wurden solche Raketen erst verlegt, als amerikanische Raketenabwehrsysteme des Typs Aegis Ashore in Polen Gestalt annahmen, die aus russischer Sicht auch strategisch offensivfähig[26] und deshalb im Kriegsfall auszuschalten wären. – Von hiesigen Politikern und Medien immer mal wieder gern bemüht wird schließlich die Horrorvision, mit Iskander könnte Moskau Berlin nuklear angreifen. Selbst wenn es nur ein geringer Trost ist: Der leider viel zu früh verstorbene Atomwaffenexperte Otfried Nassauer hatte in Zusammenarbeit mit dem dänischen Experten Hans Kristensen, Direktor des Nuclear Information Projects bei der Federation of American Scientist, schon vor Jahren ermittelt, das Iskander-Raketen selbst vom südwestlichsten Zipfel Kaliningrads aus allenfalls Eberswalde erreichen könnten.
- Die Berliner Zeitung berichtete in ihrer Print-Ausgabe vom 29. Juli 2024 unter Berufung auf dpa in einem mit „Putin droht mit Antwort“ betitelten Beitrag: „Auch russische Kriegsschiffe könnten […] mit Raketen als Antwort [auf die Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland – W.S.] ausgestattet werden.“ Fakt ist jedoch – dpa hin, dpa her –, dass Russland bereits seit 2012 über seegestützte Marschflugkörper vom Typ Kalibr verfügt, die konventionell oder atomar bestückt werden können. 2015 wurden diese Waffen erstmals eingesetzt – vom Kaspischen Meer aus gegen Ziele in Syrien, wo die Intervention Moskaus bekanntlich zum entscheidenden Faktor wurde, den von den USA und anderen NATO-Staaten massiv unterstützten Versuch eines Staatsstreiches der syrischen Opposition gegen das Assad-Regime zu vereiteln. Putin lobte seinerzeit die „hochtechnologischen, hochgenauen, modernen“ Waffen. Die Raketen seien über eine Entfernung von 1500 Kilometern und in einer Höhe zwischen 80 und 1300 Metern geflogen und hätten dabei 147 mal ihre Flugrichtung geändert. In einem Fernsehinterview äußerte der russische Präsident: „Es ist eine Sache, auf Expertenebene zu wissen, dass Russland solche Waffen hat, und eine ganz andere, sich davon zu überzeugen, dass es sie erstens tatsächlich gibt, dass sie von unserer Rüstungsindustrie hergestellt werden, dass sie zweitens von hoher Qualität sind, dass es drittens Menschen gibt, die sie effizient einsetzen können, und dass viertens Russland auch dazu bereit ist, sie einzusetzen.“[27]
- Claudia Major und andere Stationierungsbefürworter betonen, dass es sich bei den neuen US-Trägersystemen, die ab 2026 nach Deutschland kommen sollen, nicht um atomare, sondern (bloß?) um konventionelle Waffen handeln werde.[28] Soll das beruhigen? Dazu besteht mindestens im Hinblick auf die Tomahawks leider keine Veranlassung. Für Russland wäre im Falle des Falles nicht auszumachen, wie anfliegende Marschflugkörper dieses Typs bewaffnet sind – herkömmlich oder nuklear. Daher wird ein noch vor Einschlag der Cruise Missiles ausgelöster Gegenschlag mit hoher Wahrscheinlichkeit vom worst case bestimmt sein. Damit jedoch könnte sich Majors Mutmaßung, die NATO habe ab 2026 „dank dieser konventionellen Systeme zusätzliche Handlungsoptionen im Eskalationsmanagement unterhalb der nuklearen Schwelle“, im Ernstfall als suizidale Fehlkalkulation erweisen.
Dass solch ein Risiko besteht, hatte Moskau im Übrigen schon vor einigen Jahren deutlich gemacht, als die USA begannen, auf einzelnen strategischen Trägersystemen – seegestützten ballistischen Interkontinentalraketen vom Typ Trident – die großkalibrigen Gefechtsköpfe vom Typ W76-1 (Sprengkraft: 90 Kilotonnen) gegen taktische W76-2 mit vergleichsweise geringer Sprengkraft (geschätzt acht Kilotonnen[29]) auszutauschen.[30] (Erstmals erfolgte dies 2019 auf der USS Tennessee, einem atomgetriebenen Träger-U-Boot.[31]) Frühwarnsysteme könnten nämlich nicht unterscheiden, ob ein strategisches Trägersystem – quasi ausnahmsweise – „nur“ einen taktischen Sprengkopf befördert.[32] - Wolfgang Richter, Bundeswehroberst a. D., mehrjährig bei der SWP und aktuell am Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik tätig, hat die bis dato profundeste Einschätzung des US-amerikanisch-deutschen Stationierungscoups vorgelegt. Sie ist öffentlich zugänglich, daher sollen hier nur drei seiner zentralen Aussagen wiedergegeben werden, die Richter im Übrigen dezidiert unterlegt:
Erstens – Die Aufstellung von US-Mittelstreckenwaffen langer Reichweite in Deutschland hätte „das Potential, das strategische Gleichgewicht zwischen den USA und Russland zu verändern, die Chancen einer Wiederbelebung der nuklearen Rüstungskontrolle signifikant zu reduzieren und die politische und militärische Konfrontation zwischen der NATO und Russland weiter zu verschärfen.“[33]
Zweitens – „Mit der bilateralen Stationierungsmitteilung weicht Deutschland zum ersten Mal von seinem tradierten Kurs ab, sich nicht singularisieren zu lassen und die Risiken politisch sensitiver und folgenschwerer Entscheidungen mit anderen Bündnispartnern zu teilen.“[34]
Drittens – „Unklar bleibt auch, wie künftig die Befehlsgewalt über den Einsatz konventioneller Langstreckenwaffen aus Deutschland mit strategischen Wirkungen in Russland geregelt werden soll. Bleibt ihr Einsatz einer rein nationalen Entscheidung der USA vorbehalten, kommt Deutschland ein Mitspracherecht zu oder soll ihr Einsatz nur in einem Bündniskontext und nach einer Bündnisabstimmung erfolgen? Sollte erstere Regelung zutreffen, hätte Deutschland sein Schicksal in einem Konfliktfall den strategischen Interessen und Entscheidungen der USA ausgeliefert.“[35]
Letzteres wäre allerdings kein Novum. In dieser Situation befindet sich die Bundesrepublik bereits seit Jahrzehnten – durch ihre sogenannte nukleare Teilhabe: die Bereitstellung deutscher Kampfbomber als Trägersysteme für US-amerikanische Atombomben, über deren Einsatz allein in Washington entschieden wird.[36]
PS: Ebenfalls während des NATO-Gipfels in Washington unterzeichneten die Verteidigungsminister von Deutschland, Frankreich, Italien und Polen eine Absichtserklärung zur Entwicklung von Waffen, die gegnerische Ziele in der Tiefe präzise treffen können. Konkret geht es um eine landgestützte, nicht zuletzt von mobilen Plattformen aus einsetzbare Abstandswaffe mit bis zu 2000 Kilometern Reichweite. Dieses sogenannte LCM (Land Cruise Missile System) soll zum Teil aus bereits entwickelten Marschflugkörpern abgeleitet werden, wie Frankreich sie auf Kriegsschiffen einsetzt und Deutschland mittels Flugzeugen.[37]
[1] – Siehe dazu ausführlicher Blättchen 4/2024 und 9/2024.
[2] – Deutscher Bundestag, Dokumente 2024 – aufgerufen am 08.08.2024.
[3] – Wie anders sollte denn sonst die Eigentümlichkeit der Politik der Bundesregierung interpretiert werden, einerseits neben den USA den Hauptanteil der westlichen Ukrainehilfe beizusteuern und andererseits durch Bürgergeld zig-Tausenden männlicher Ukraineflüchtlinge hierzulande finanziell zu ermöglichen, sich ihrer heimatlichen Wehrpflicht zu entziehen?
[4] – Der Beschluss sah vor, neue landgestützte atomare US-Mittelstreckensysteme in Westeuropa zu stationieren: 464 Cruise Missiles (Marschflugkörper) vom Typ Tomahawk (Reichweite bis zu 2500 Kilometer) und 108 ballistische Pershing-II-Raketen (Reichweite bis zu 1800 Kilometer). Als Stationierungsländer für die Cruise Missiles fungierten Belgien, die BRD, Großbritannien, Italien und die Niederlande; die Pershing-II waren ausschließlich für die BRD vorgesehen.
Alle Systeme konnten Ziele in der damaligen Sowjetunion erreichen. Die Pershing-II mit ihrer Fähigkeit, sowjetische militärische und politische Führungs- und Kommandozentralen bis Moskau mit einer Vorwarnzeit deutlich unter zehn Minuten auszuschalten, wurde nicht nur von Moskau als Erstschlagswaffe eingestuft, um die UdSSR im Falle eines atomaren Überraschungsangriffs der USA daran zu hindern, rechtzeitig einen vernichtenden Gegenschlag auszulösen, also Moskaus bis dahin gesicherte Zweitschlagsfähigkeit auszuhebeln. Moskau verfügte über vergleichbare militärische Möglichkeiten gegenüber den USA zur damaligen Zeit nicht.
Zugleich enthielt der NATO-Doppelbeschluss das Angebot an die UdSSR, Rüstungsbegrenzungs-, respektive Abrüstungsverhandlungen über landgestützte Mittelstreckenwaffen aufzunehmen, und im Falle einer vertraglichen Vereinbarung den NATO-Nachrüstungsbedarf erneut zu prüfen.
Entsprechende sowjetisch-amerikanische Verhandlungen kamen zwar zustande, verliefen aber ergebnislos. Die Stationierung begann Ende 1983.
Mit dem sowjetisch-amerikanischen INF-Vertrag vom 08.12.1987 wurde schließlich eine doppelte Null-Lösung vereinbart: Die landgestützten Mittelstreckenwaffen beider Seiten mit einer Reichweite von 500 bis 5000 Kilometer wurden vollständig abgerüstet, entsprechende Systeme für beide Seiten weltweit untersagt.
Die USA verfügten zu jener Zeit allerdings auch über luft- und seegestützte atomare Cruise Missiles vom Typ Tomahawk. Diese waren weder Gegenstand des INF-Vertrages noch späterer russisch-amerikanischer Rüstungskontroll- und Abrüstungsvereinbarungen.
[5] – Vgl. Joint Statement from United States and Germany on Long-Range Fires Deployment in Germany, whitehouse.gov., July 10, 2024 – aufgerufen am 08.08.2024.
[6] – Vgl. Aljona Sadoroschnaja: Russland wird zur Schaffung eines Druckpunkts in der Nähe der USA gezwungen, RT DE, 12.07.2024 – aufgerufen am 07.08.2024.
[7] – Zum Beispiel die Berliner Zeitung (online), 11.07.2024 – aufgerufen am 07.08.2024.
[8] – Joint Statement from United States and Germany …, a.a.O.
[9] – Walter-Borjans (SPD): Die Debatte über die Stationierung von US-Raketen führen, Deutschlandfunk, 30.07.2024 – aufgerufen am 08.08.2024.
[10] – Genau einen Monat vor der Stationierungsentscheidung des Bundestages, am 22. Oktober 1983, hatte die Friedensbewegung im Bonner Hofgarten Hunderttausende Protestierer aus allen Schichten der Bevölkerung und an diesem Tage bundesweit insgesamt 1,3 Millionen Menschen mobilisiert. Vgl. „22. November 1983: Bundestag bestätigt Entscheidung zum NATO-Doppelbeschluss“, Bundeszentrale für politische Bildung, 21.11.2018 – aufgerufen am 08.08.2024.
[11] – Zit. nach Berliner Zeitung (online), 20.07.2024 – aufgerufen am 08.08.2024.
[12] – Tagesschau (online) 21.07.2024 – aufgerufen am 08.08.2024.
[13] – Deutschlandfunk (online), 15.07.2024 – aufgerufen am 08.08.2024.
[14] – Vgl. „Putin kündigt Russlands Reaktion auf US-Langstreckenraketen in Deutschland an“, RT DE, 28.07.2024 – aufgerufen am 08.08.2024.
[15] – Zu diesem Waffensystem ausführlich bei Wolfgang Richter: Stationierung von U.S. Mittelstreckenraketen in Deutschland, Friedrich-Ebert-Stiftung, Juli 2024, S. 3 – aufgerufen am 08.08 2024
[16] – Vgl. David Wright / Cameron Tracy: Hypersonic weapons are mediocre. It’s time to stop wasting money on them, The Bulletin of the Atomic Scientists, March 12, 2024 – aufgerufen am 08.08.2024.
[17] – Zit. nach Berliner Zeitung (online), 29.07.2024 – aufgerufen am 08.08.2024.
[18] – Wolfgang Richter, a.a.O., S. 2.
[19] – Claudia Major: Europa braucht die US-Mittelstreckenraketen, Handelsblatt (online), 19.07.2024 – aufgerufen am 08.08.2024.
[20] – Constantin Lummitsch: „Sahra Wagenknecht und die AfD schüren falsche Ängste“, Chrismon (online), 17.07.2024 – aufgerufen am 08.08.2024.
[21] – Den konkreten Ablauf in jenem sowjetischen Gefechtsführungszentrum am 25.09.1983 schilderte der seinerzeit diensthabende Offizier, Oberst Stanislaw Petrow, 2013 in einem Interview: „Der Alarm ging gegen 0.15 Uhr los, vollkommen unerwartet. Wir hatten das oft geprobt, aber nun war es ernst. Die ganze Festbeleuchtung ging an, die Sirenen heulten, und auf den Bildschirmen blinkte in großen, roten Buchstaben: ‚Raketenstart‘ mit maximaler Wahrscheinlichkeit. Es war ein Schock, wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Ich war der Diensthabende, der Älteste und vom Dienstgrad her Ranghöchste, die anderen waren jüngere Offiziere, die dafür zuständig waren, die Raketen scharf zu machen. Sie waren durcheinander und blickten mich an. Alle warteten auf meine Entscheidung. […] Ich zweifelte an der Information. Der Computer meldete eine einzelne Rakete. Wir hatten erwartet, dass der Gegner massiv zuschlägt. Das haben die amerikanischen Falken oft genug gesagt: Wir schlagen, wenn erforderlich, auch als erste, mit einem Massenstart zu. Damit würde etwa die Hälfte der sowjetischen Bevölkerung sowie wichtige Infrastruktur vernichtet werden. […] Meine erste Meldung erstattete ich nach zwei Minuten. Soviel Zeit hatte ich, um die Situation zu analysieren. Ich meldete einen Fehlalarm, und noch während ich mit dem Generalstab telefonierte, meldete der Computer einen zweiten Raketenstart und dann einen dritten, vierten und fünften. Die Sirene ging wieder los, was mein Vorgesetzter durch das Telefon auch direkt mitbekam. Aber ich sagte: Auch das ist falscher Alarm. Ich kläre, was hier passiert, und melde mich dann noch einmal. […] 17 Minuten, dann meldeten die Radaranlagen, dass keine Raketen im Anflug waren. […] Nach dreieinhalb Monaten fanden wir heraus, dass die Beobachtungs-Satelliten wohl Sonnenstrahlen, die von der Erdoberfläche reflektiert wurden, als Raketenstart interpretiert hatten, und das ausgerechnet auch noch über einer amerikanischen Militärbasis. Eine solche Blendung […] durch die Sonne war extrem unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich.“ (Stefan Locke: „Der rote Knopf hat nie funktioniert“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.02.2013 – aufgerufen am 07.08.2024.)
[22] – Zit. nach Aljona Sadoroschnaja, a.a.O.
[23] – Zit. nach Berliner Zeitung, 27./28. Juli 2024, S, 23.
[24] – „Putin kündigt Russlands Reaktion …“, a.a.O.
[25] – Zit. nach Berliner Zeitung, 30.07.2024, S. 13.
[26] – Dazu ausführlich Blättchen 4/2019 und Blättchen 5/2019.
[27] – Zit. nach Julia Smirnova: Russland nutzt Syrien als Testgebiet für neue Waffen, Die Welt, 14.10.2015 – aufgerufen am 08.08.2024. – Eine nuklear bewaffnete landgestützte Kalibr-Version nahmen die USA einige Jahre später zum Vorwand, den INF-Vertrag zu kündigen. Sie behaupteten, der Marschflugkörper hätte eine Reichweite von mehr als 500 Kilometern und sei damit ein Vertragsverstoß. Russland dementierte wiederholt, bot eine Vor-Ort-Überprüfung allerdings erst nach längerem Zögern an. Die USA gingen darauf nicht ein …
[28] – Vgl Claudia Major, a.a.O.
[29] – Vgl. Hans M. Kristensen / Matt Korda: Nuclear Notebook – United States nuclear weapons, 2023, thebulletin.org, January 16, 2023 – aufgerufen am 08.08.2024.
[30] – Siehe dazu ausführlich Blättchen 4/2020.
[31] – Siehe Hans M. Kristensen / Matt Korda, a.a.O.
[32] – Siehe dazu ausführlich Blättchen 4/2020.
[33] – Wolfgang Richter, a.a.O., S. 2.
[34] – Ebenda, S. 8.
[35] – Ebenda, S. 9.
[36] – Siehe dazu ausführlich Blättchen 11/2020.
[37] – Vgl. Thomas Gutschker: Eine neue Waffe, die Moskau treffen könnte, faz.net, 11.07.2024 – aufgerufen am 08.08.2024 – und Markus Fasse: Raketen-Alternative zum „Tomahawk“, Handelsblatt (online), 16.07.2024 – aufgerufen am 08.08.2024.
Schlagwörter: atomar, Deutschland, Mittelstreckenwaffen, NATO, Raketen, USA, Wolfgang Schwarz