Dass hiesige Leit- und Qualitätsmedien die deutsche Öffentlichkeit nicht durch Berichterstattung beunruhigen, wenn „hinten, weit, in der Türkei“ Besorgniserregendes geschieht, muss man immer wieder zur Kenntnis nehmen. So auch dieser Tage.
Am 4. Februar hat das Pentagon in einer Pressemitteilung bestätigt, dass die USA den niedrigkalibrigen Atomsprengkopf W76-2 auf U-Boot-gestützten ballistischen Raketen (SLBM) in Dienst gestellt haben. Mit Stand vom Vormittag des 11. Februar, als dieser Beitrag verfasst wurde, war das den Online-Ausgaben von ARD, Spiegel, Zeit, FAZ, Süddeutscher & Co. keine Meldung wert.
Eine Reaktion des russischen Außenministeriums allerdings erfolgte prompt, schon am 5. Februar: „Die Stationierung von Atomwaffen mit geringer Sprengkraft […] zeigt, dass die Vereinigten Staaten […] die nukleare Schwelle senken und annehmen, einen begrenzten Atomkrieg führen und […] gewinnen zu können“. Und Scott Ritter – ehemals als Offizier für Aufklärung der US-Marineinfanterie in die Überprüfung der Umsetzung des INF-Vertrages involviert und von 1991 bis 1998 Waffen-Chefinspekteur der UNO in Irak – warnt, dass diese neuen taktischen Kernwaffen „zur globalen Vernichtung einladen – weil ihre verminderte, aus technischer Sicht in der Tat ‚kontrollierte‘ Sprengkraft prinzipiell die Hemmschwelle zum Einsatz von Nuklearwaffen aufseiten der USA schwächt“.
Träger des W76-2-Sprengkopfes sind SLBM vom Typ Trident II, die mit bis zu 11.300 Kilometern Reichweite als strategische Nuklearsysteme gelten und als solche den Limits des New-Start-Abkommens mit Russland unterliegen. Diese Raketen können bis zu acht Sprengköpfe aufnehmen und sind üblicherweise mit thermonuklearen Köpfen der Typen W76-1 (Sprengkraft: 90 Kilotonnen TNT) und W88 (475 Kilotonnen) armiert. Der neue Kopf hat demgegenüber eine Sprengkraft von geschätzt lediglich fünf Kilotonnen, was zwar nur etwa ein Drittel der Stärke der Hiroshima-Bombe darstellt, aber immer noch 450 mal mehr ist als bei der stärksten konventionellen Waffe im Arsenal der USA.
W76-2 ist eine Modifizierung von W76-1: Indem die Kernfusionskomponente des letztgenannten Modells entfernt wurde, besteht die neue Waffe praktisch nur mehr aus dem Kernspaltungszünder (auf Plutoniumbasis) der Vorgängervariante. W76-2 gilt mit seiner Detonationskraft als sogenannte Mini-Nuke, als „lediglich“ taktische Kernwaffe.
Bereits im Dezember 2019 ist nach einem Bericht der Experten William Arkin und Hans Kristensen von der Federation oft American Scientists als erstes teilumgerüstetes Träger-U-Boot die „USS Tennessee“ (SSBN-734) von der Kings Bay Submarine Base im Bundesstaat Georgia in See gestochen. Arkin und Kristensen schätzen, „dass eine oder zwei der 20 Raketen auf der USS Tennessee und den nachfolgenden U-Booten mit dem W76-2 bewaffnet sein werden, entweder einzeln oder mit mehreren Sprengköpfen“ und dass „etwa 50 W76-2-Gefechtsköpfe produziert worden sind“.
Erstmals angekündigt worden war der neue Sprengkopf im Februar 2018 vom Nuclear Posture Review der Trump-Regierung. Das System solle „dabei […] helfen, einer falschen Wahrnehmung einer ausnutzbaren ‚Lücke‘ in den regionalen Abschreckungsfähigkeiten der USA entgegenzuwirken“ – laut Arkin und Kristensen „ein Hinweis auf Russland“. Damit lagen die beiden Experten richtig, denn dieser Tage nannte der stellvertretende Verteidigungsminister John Rood gegenüber der Presseagentur AP Ross und Reiter: Der neue Sprengkopf diene dazu, „Russland davon abzubringen, einen begrenzten Atomkonflikt zu riskieren“.
Konkret unterstellen die USA, dass Moskau eine nukleare Eskalationsstrategie zum Zwecke der Deeskalation einer konventionellen Auseinandersetzung entwickelt habe. Bei dieser Strategie sei der Ersteinsatz von Atomwaffen geplant, falls Russland bei einer konventionellen Aggression gegen die NATO eine Niederlage drohe.
Dieses Militärkauderwelsch ins zumindest semantisch Verständlichere übertragen, besagt: Russland greift zum Beispiel das Baltikum und Polen konventionell an, worauf die NATO ihr nach allen messbaren Parametern hoch überlegenes konventionelles Potenzial mobilisiert und Russland dadurch eine Niederlage droht. Moskau greift daraufhin zu taktischen Kernwaffen, um den An- und Aufmarsch dieses Potenzials zu unterbinden und eine Verhandlungslösung zu seinen Bedingungen zu erzwingen. Das könnte gelingen, so die Verfechter dieses Konstrukts, weil die USA über keine erfolgversprechenden Mittel verfügten, taktisch-nuklear entsprechend zu parieren. Zwar hätte Washington etwa 1000 taktische Nuklearwaffen zum Einsatz mit amerikanischen Kampfbombern und solchen Deutschlands sowie anderer europäischer NATO-Staaten (nukleare Teilhabe) zur Verfügung, aber ob die die modernen russischen Flugabwehrsysteme vom Typ S-400 und S-500 überwinden könnten, sei zweifelhaft. Sicher sei dies hingegen bei Trident II-Raketen.
Belege für die Existenz einer russischen „Escalete-to-deescalate“-Strategie sind von den USA bisher nicht erbracht worden. Ritter nennt das Ganze denn auch schlicht eine „falsche Prämisse“.
Nicht minder fehlt es an plausiblen Argumenten dafür, was Moskau zu einem selbstmörderischen Überfall auf NATO-Mitglieder veranlassen könnte. Auf russischer Seite ist – im Unterschied zu Washington – vielmehr eine Erkenntnis offenbar noch präsent, die am Ende des Kalten Krieges Ost-West-Konsens war: dass es nämlich in einem Atomkrieg keine Sieger geben würde und ein solcher nie geführt werden dürfe (Präsident Ronald Reagan in einer Radio Address to the Nation on Nuclear Weapons vom 17. April 1982). Im September 2019 erinnerte der russische Außenminister Sergej Lawrow vor der UN-Vollversammlung an einen Vorschlag, den Moskau bereits ein Jahr zuvor eingebracht hatte, wonach die Präsidenten Russlands und der USA den Atomkrieg, „in dem es weder Sieger noch Verlierer geben kann“, gemeinsam für unzulässig erklären sollten.
Diese Herangehensweise hat in der geltenden russischen Militärdoktrin insofern ihren Niederschlag gefunden, als ein Kernwaffeneinsatz lediglich für zwei existenzielle Extremfälle vorgesehen ist: als Reaktion auf einen Angriff mit Atomwaffen oder anderen Massenvernichtungsmitteln auf Russland und als Antwort auf eine Aggression mit konventionellen Waffen gegen die Russische Föderation, bei der die Existenz des Staates selbst in Gefahr gerät.
In den USA hatten vor der Stationierung von W76-2 namhafte Experten grundsätzliche Zweifel an der offiziellen Begründung für diesen Schritt geäußert. Am 22. Mai 2018 hatte eine Gruppe von Politikern und Militärs in einem Brief an Mitch McConnell, den republikanischen Mehrheitsführer im Senat, festgestellt, dass die Behauptung der Trump-Regierung, es bestehe eine „Lücke“ im Spektrum der Fähigkeiten, „den Einsatz von Kernwaffen durch Russland abzuschrecken“, ein „falsches Narrativ“ sei. Der Brief, zu dessen Unterzeichnern der ehemalige Außenminister George Schultz, der frühere Verteidigungsminister William Perry und der frühere stellvertretende Vorsitzende der Joint Chiefs of Staff James Cartwright gehörten, enthielt zugleich folgende Warnung: „Der vielleicht größte Fehler in der ganzen Argumentation besteht in der falschen und gefährlichen Annahme, dass ein ‚kleiner’ Nuklearkrieg klein bleiben würde. Es gibt keine Basis für die dubiose Theorie, dass, sollte Russland eine niedrigkalibrige Kernwaffe einsetzen und sollten die USA ebenso antworten, der Konflikt auf eben diesem Niveau verharren würde.“
Die Verfasser des Briefes hielten für einen solchen Fall offenbar eine (unkontrollierbare) Eskalation bis zu einem allgemeinen thermonuklearen Schlagabtausch für die sehr viel wahrscheinlichere Variante.
Und W76-2 erhöht diese Wahrscheinlichkeit weiter, denn dieser Sprengkopf – und das ist der entscheidende Dammbruch im nuklearen Beziehungsgefüge zu Russland, den die USA mit seiner Indienststellung herbeigeführt haben – hebt die bisherige klare Unterscheidbarkeit von strategischen und taktischen Atomwaffen auf.
Welche Konsequenzen das im Falle des Falles hätte, zeigt ein weiterer Blick auf das russische Herangehen. 2018 hatte Präsident Putin vor dem Waldai-Klub erläutert, „dass unsere Atomwaffen-Doktrin keinen Präventivschlag vorsieht. Unser Konzept basiert auf einem reziproken Gegenschlag. […] Das bedeutet, dass wir nur dann bereit sind und Atomwaffen einsetzen werden, wenn wir sicher wissen, dass ein potenzieller Aggressor Russland, unser Territorium, angreift.“ Putin verwies auf das russische Raketen-Frühwarnsystem: „Dieses System überwacht den Globus, warnt vor dem Abschuss einer strategischen Rakete auf See und identifiziert das Gebiet, von dem aus sie abgeschossen wurde. Zweitens verfolgt das System die Flugbahn eines Raketenfluges. Drittens lokalisiert es eine nukleare Sprengkopfabwurfzone. Erst wenn wir sicher wissen […], dass Russland angegriffen wird, werden wir einen Gegenschlag ausführen.“ Und zwar noch bevor das gegnerische Projektil sein(e) Ziel(e) in Russland erreicht hätte.
Das wäre also das Verfahren, sollte jemals eine Trident II-Rakete – egal mit welchem Gefechtskopf – auf Russland abgeschossen werden. Im Übrigen wäre kein Raketen-Frühwarnsystem in der Lage zu unterscheiden, ob eine ballistische strategische Langstreckenrakete „nur“ taktisch armiert wäre …
Nun gut, könnte man sagen: Mögen die USA potenzielle russische Aggressionsabsichten inklusive der Bereitschaft zum Einsatz taktischer Atomwaffen unterstellen. Wenn Russland keine derartigen Absichten hegt und auch keine entsprechende Strategie in Hinterhand hat, wozu dann die Aufregung über den neuen W76-2-Sprengkopf? Weil auch ohne „russische Aggression“ der Fall des Falles eintreten könnte – etwa durch einen aus dem Ruder laufenden ungewollten militärischen Zwischenfall. (Siehe dazu meinen Beitrag in der Blättchen-Ausgabe 2/2020.)
Schlagwörter: Atomwaffen, Deeskalation, Doktrin, Eskalation, konventionell, Russland, USA, Wolfgang Schwarz