Für 2020 wird allein Deutschland erstmals
Militärausgaben von rund 55 Mrd. Dollar
(50 Mrd. Euro) bei der NATO melden
– schon das ist annähernd so viel, wie die
etwa 60 Mrd. Dollar, auf die das
schwedische Friedensforschungsinstitut Sipri
das russische Militärbudget beziffert.
Wolfgang Wagner
Informationsstelle Militarisierung
Wir schreiben das Jahr 2020. Das russische Militär führt ein großes Manöver in Kaliningrad durch, einer russischen Exklave an der Ostsee, die an die NATO-Mitgliedstaaten Litauen und Polen grenzt. Ein Beobachtungsflugzeug aus dem westlichen Bündnis dringt versehentlich in den russischen Luftraum ein und wird von einer Boden-Luft-Rakete abgeschossen. Die NATO verlegt Luftwaffengeschwader und Kampfschiffe in die Region. Beide Seiten warnen, dass sie den Einsatz von Atomwaffen in Betracht ziehen würden, wenn ihre Lebensinteressen bedroht wären.
Die NATO und Russland – nach der Invasion der Krim, den zunehmenden Spannungen im Nahen Osten, dem Zusammenbruch von Rüstungskontrollabkommen und der Stationierung neuer Atomwaffen bereits nervös – bereiten sich plötzlich auf einen Konflikt vor. In Washington, wo der Präsidentschaftswahlkampf bereits im Gange ist, kämpfen die Kandidaten darum, die jeweils härteste Linie gegen Russland einzuschlagen. Nachdem die russische Führung begriffen hat, dass sich Antiamerikanismus auszahlt, eskaliert sie ihre harsche Rhetorik gegen Washington.
Beide Seiten befinden sich in hoher Alarmbereitschaft. Da erfolgt ein Cyberangriff unbekannter Herkunft gegen russische Frühwarnsysteme, der einen Luftangriff der NATO auf Luft- und Marinebasen in Kaliningrad simuliert. Moskau beschließt, unverzüglich zu reagieren, und startet konventionelle Marschflugkörper von Kaliningrader Stützpunkten gegen die baltischen Flugplätze der NATO; die NATO reagiert ebenfalls unverzüglich mit Luftangriffen auf Kaliningrad. NATO-Verstärkungen treffen ein. Moskau befürchtet, dass eine NATO-Bodeninvasion folgen wird, und gelangt zu dem Schluss, eskalieren zu müssen, um die Eskalation der Gegenseite zu stoppen und einen Weg für eine Verhandlungslösung zu Moskauer Bedingungen zu öffnen. Russland lanciert einen niedrigkalibrigen Atomschlag gegen Nuklearwaffendepots auf einer NATO-Luftwaffenbasis. Aber das Deeskalationskalkül erweist sich als illusorisch, ein atomarer Schlagabtausch setzt ein …“
Dieses Szenarium für das gerade begonnene Jahr setzten Sam Nunn, der frühere Vorsitzende des Streitkräfteausschusses im US-Senat, und sein Co-Autor Ernest J. Moniz an den Anfang eines „The Return of Doomsday“ betitelten Beitrages, den sie im August 2019 in Foreign Affairs publizierten.
Darüber hinaus diagnostizierten die beiden Experten: „Die Rüstungskontrolle ist verkümmert und die Kommunikationskanäle haben sich geschlossen, während veraltete nukleare Haltungen des Kalten Krieges neben neuen Bedrohungen im Cyberspace und gefährlichen Fortschritten in der Militärtechnologie […] bestehen geblieben sind. Die Vereinigten Staaten und Russland befinden sich […] in einem Zustand der strategischen Instabilität […]. Doch im Gegensatz zum Kalten Krieg scheinen beide Seiten vorsätzlich blind für die Gefahr zu sein.“ Und: „Diese giftige Mischung aus verfallener Rüstungskontrolle und neuen […] Waffen wird noch gefährlicher, weil es keinen Dialog zwischen Russland und dem Westen gibt, insbesondere keinen zwischen zivilen und militärischen Fachleuten in den Verteidigungs- und Außenministerien.“
Die Autoren ihrerseits plädierten – allen Gegensätzlichkeiten im Verhältnis zu Russland zum Trotz – dafür, gegenüber Moskau prinzipiell von der „Anerkennung des gemeinsamen lebenswichtigen Interesses an der Verhinderung des Einsatzes von Kernwaffen“ auszugehen. In den USA sei es jedoch zunächst einmal erforderlich, eine „Arbeitsbeziehung zwischen der Trump-Administration und dem Kongress über die Russlandpolitik“ wiederherzustellen.
Die seit Publikation des Essays vergangenen Monate rechtfertigen leider keinerlei Optimismus, dass dies noch in der ersten Amtszeit Trumps geschehen könnte. Damit dürften auch die weiterführenden Vorschläge von Nunn und Moniz, wie etwa, dass „die Vereinigten Staaten, die NATO und Russland einen Dialog über Krisenmanagement wiederaufnehmen [sollten], der auch die militärischen Nuklearbefehlshaber einschließt“, auf absehbare Zeit keine Realisierungschancen haben.
Auch von westeuropäischen NATO-Staaten gibt es keine substantiellen Initiativen im Hinblick auf eine sicherheitspolitische Versachlichung der Beziehungen zu Russland zu vermelden. Zwar hat sich Frankreichs Präsident Macron in seinem vielbeachteten Interview mit dem Economist Anfang November 2019 dafür ausgesprochen, den „Dialog mit Russland wiederaufzunehmen“, doch bisher – keine Butter bei die Fische. Und nach dem kurzfristig anberaumten Arbeitsbesuch der deutschen Bundeskanzlerin und ihres Außenministers im Kreml Anfang Januar verlautbarte ebenfalls nichts, das auch nur ansatzweise mit einem Abbau der sich aufschaukelnden militärischen Konfrontation an der sogenannten NATO-Ostflanke in Verbindung gebracht werden könnte.
Welche konkreten Vorschläge in dieser Richtung von deutschen Experten inzwischen vorgelegt worden sind, darüber hatte Jerry Sommer in der Ausgabe 23/2019 im Blättchen berichtet. So hat zum Beispiel Wolfgang Richter von der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ (SWP), dem Think Tank der Bundesregierung, angeregt, im Grenzbereich zwischen NATO und Russland in Osteuropa – in geografischen Räumen von 300 bis 600 Kilometer Tiefe – offensivfähige, für Überraschungsangriffe besonders geeignete Großwaffensysteme (Kampfpanzer, gepanzerte Fahrzeuge, Artillerie, Kampfflugzeuge und Kampfhubschrauber) beiderseits ebenso zu begrenzen wie die Anzahl und die Größe militärischer Manöver. Letztere sollten einem Regime frühzeitiger Ankündigungen unterworfen werden.
Damit hat Richter einerseits konzeptionelle Überlegungen zu militärischem Disengagement wieder aufgenommen, die bereits während des späten Kalten Krieges in West und Ost, aber auch zwischen beiden Seiten, intensiv diskutiert worden waren, und andererseits hat er, was konventionelle Großwaffensysteme anbetrifft, an den Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa von 1990 angeknüpft, in dessen Zentrum eine starke Reduzierung dieser fünf Systemtypen stand. Das mag wenig originell erscheinen. Aber andererseits muss man das Fahrrad ja nicht jedes Mal neu erfinden, wenn sich eine Lage wieder vergleichbar zugespitzt hat …
… und wohl weiter zuspitzen wird. Denn die USA und die NATO – deren gesamte Militärausgaben das SIPRI für 2018 mit 963 Milliarden US-Dollar auswies (zum Vergleich – Russland: 61,4 Milliarden; seit einigen Jahren überdies rückläufig) – intensivieren ihre militärischen Vorbereitungen auf einen kriegerischen Konflikt mit Russland an der Ostflanke des Paktes in einem seit Kalten-Kriegs-Zeiten nicht mehr gekannten Ausmaß:
- Die bereits unter Obama begonnene sogenannte European Deterrence Initiative zur Vorausstationierung von schwerem US-Kriegsmaterial in Europa (unter anderem in der Bundesrepublik) sowie zur raschen Verlegbarkeit großer Truppenkontingente aus den USA ist im laufenden US-Finanzjahr um weitere 734 Millionen US-Dollar auf nunmehr 7,47 Milliarden aufgestockt worden.
- Bereits 2014 war die Aufstellung einer Ultraschnellen NATO-Eingreiftruppe (VJTF) im Umfang von 5000 Mann beschlossen worden – laut BMVg „innerhalb von 48 bis 72 Stunden einsatzbereit an jedem Ort […], wo die Truppe jeweils benötigt wird“. Die VJTF ist Bestanteil der auf 40.000 Mann aufgestockten NATO Response Force (NRF), die ebenfalls auf eine kurzfristige Verlegbarkeit hin strukturiert und ausgerüstet ist.
- Die 2016 beschlossene permanente Stationierung einer Enhanced Forward Presence in Form von vier kampfbereiten NATO-Bataillonen à 1000 Mann im Baltikum und in Polen ist inzwischen realisiert. (Den Verband in Litauen führt die Bundeswehr.)
- 2018 beschloss die NATO eine sogenannte Readiness Initiative, auch bekannt als 30-30-30-30-Plan: 30 Heeresbataillone, 30 Luftkampfstaffeln und 30 Kriegsschiffe sollen innerhalb von 30 Tagen nach der Alarmierung einsatzbereit sein – zusammen (und zusätzlich zur NRF) rund 25.000 Soldaten und 300 Kampfflugzeuge. Bereits im Dezember 2019 waren laut Süddeutscher Zeitung „rund 90 Prozent der benötigten Einheiten vorhanden“.
- Ebenfalls 2018 beschloss die EU-Kommission, weil, wie Die Welt online vermeldete, die „Infrastruktur in Europa […] für schnelle Truppentransporte gen Osten teils völlig ungeeignet“ sei, ab 2021 „für 6,5 Milliarden panzertaugliche Straßen“ zu bauen sowie Schienennetze und Brücken entsprechend zu ertüchtigen.
- Zugleich sind Anzahl und Umfang der militärischen NATO-Manöver im Bereich der Ostflanke seit 2014 deutlich verstärkt worden. Nachdem das NATO-Mitglied Polen bereits 2016 mit „Anakonda“ das bis dato größte multinationale Manöver in Osteuropa seit Ende des Kalten Krieges (mit 31.000 Soldaten aus 24 NATO- und Partnerstaaten) ausgerichtet hatte, soll es in den nächsten Monaten mit der US-Übung „Defender 2020“ (samt Beteiligung von NATO-Partnern, auch Deutschlands) weiter voran in Richtung Osten gehen: eine US-Division (20.000 Mann) soll aus den USA bis quasi an die russische Grenze verlegt werden. Dabei sollen 33.000 Waffensysteme und anderes Material auf dem Landwege 4000 Kilometer quer durch Europa verlegt werden. Deutschland wird als logistische Drehscheibe dienen, und das 2013 gebildete Multinationale Kommando Operative Führung in Ulm wird seine – der Begriff darf hier nahezu wörtlich genommen werden – Feuertaufe zu bestehen haben.
Für gefechtsnahes Flair bei „Defender 2020“ sollen unter anderem die Querung eines Flusses in Polen mit 11.000 Soldaten sowie Fallschirmjägereinsätze in Georgien sorgen.
Insgesamt sollen mehr als 37.000 Soldaten aus 17 NATO-Staaten sowie aus Finnland und Georgien mobilisiert werden.
Teilweise parallel laufen werden NATO-Übungen wie Astral Knight; Allied Spirit XI; Dynamic Front; Joint Warfighting Assessment; Saber Strike; Swift Response; Trojan Footprint.
Defender-Manöver zur transatlantischen Truppenverlegung sollen künftig wieder jährlich stattfinden – und zwar im Wechsel als jeweils schwere oder leichte Übungen. Damit nehmen die USA eine Praxis wieder auf, die sie in den Hochzeiten des Kalten Krieges, nämlich 1969, eingeführt hatten. Die damaligen Manöver liefen unter der Bezeichnung Reforger (Return of Forces to Germany) und waren erst 1993 eingestellt worden.
Damit müsste die Aufzählung noch keineswegs beendet werden, denn die laufende Umstrukturierung des Heeres der Bundeswehr auf drei mechanisierte Divisionen mit zusammen 60.000 Mann, die, wie es in der offiziellen „Konzeption der Bundeswehr“ heißt, befähigt werden sollen, „auch am Rande des Bündnisgebietes eingesetzt zu werden“, sowie zahlreiche weitere nationale und multilaterale Maßnahmen diverser NATO-Staaten lassen sich ebenfalls in den hier skizzierten Kontext einordnen.
Parallel zu all diesen Entwicklungen hat die NATO seit 2014 jegliche praktische Kooperation mit Russland auf Eis gelegt. Dass seit einiger Zeit der sogenannte NATO-Russland-Rat sporadisch wieder tagt, ist vor diesem Hintergrund belanglos, weil die zusammentretenden Botschafter keinen realen Verhandlungsspielraum haben, so dass sich nichts weiter verschlechterte, fänden auch diese Treffen nicht statt.
Man könnte formulieren wie Theo Sommer, der langjährige Chefredakteur und Herausgeber der ZEIT: Die NATO ist „politisch […] ein Totalausfall. Vom Harmel-Rezept aus den Sechzigern für den Umgang mit Russland – ‚Rüsten und Reden‘ – praktiziert sie nur die erste Hälfte“.
Der russische Generalstabschef Waleri Gerassimow machte kürzlich – und man darf vermuten, mit Billigung, wenn nicht im Auftrag von ganz oben – seine Sicht der Dinge öffentlich: In den baltischen Staaten und in Polen, im Schwarzen Meer und in der Ostsee nähmen die Militäraktivitäten und die Intensität der Militärübungen der NATO zu. Ihre Szenarien wiesen darauf hin, dass sich das Bündnis zielbewusst darauf vorbereitete, ihre Truppen in einem großen Militärkonflikt einzusetzen.
Fazit: Die NATO arbeitet seit geraumer Zeit mit Nachdruck daran, die Voraussetzungen spürbar zu „verbessern“, dass sich im Falle eines (auch unbeabsichtigten) militärischen Zusammenstoßes mit Russland an ihrer Ostflanke ein Eskalationsszenario wie das von Nunn und Moniz entworfene mit umso größerer Zwangsläufigkeit abspulen kann, als das noch vor wenigen Jahren überhaupt vorstellbar gewesen wäre.
Von einem solchen Ende her gedacht, unterminiert der Kurs der NATO auf gefährliche Weise jene (unsere) Sicherheit, zu deren Stärkung er offiziellen Verlautbarungen des Paktes zufolge eingeschlagen worden ist.
Das ist nicht, wie Macron diagnostiziert hat, „hirntot“.
Nur hochgradig schizophren.
Ein Trost ist das freilich nicht.
P.S.: Trotz des nun schon Jahre währenden antirussischen Trommelfeuers in den deutschen Qualitätsmedien setzen 54 Prozent der Deutschen – laut einer Umfrage von YouGov – immer noch auf mehr Zusammenarbeit mit Moskau denn auf militärische Abschreckung. Diese Einstellung denunzierte der Ressortleiter Ausland der WELT, Clemens Wergin, als „Schmusekurs“, „sicherheitspolitische[n] Analphabetismus“ und „Russland-Tick der Deutschen“.
Diese Deutschen haben möglicherweise in ihrem Bauchgefühl mehr sicherheitspolitischen Sachverstand als manch anderer Zeitgenosse dort, wo bei unserer Spezies üblicherweise das Gehirn vermutet wird.
Schlagwörter: Atomwaffen, Harmel, Militär, NATO, Ostflanke, Russland, Streitkräfte, Westen, Wolfgang Schwarz, Zusammenstoß