von Jerry Sommer
Seit der Ukraine-Krise 2014 und den Aktionen Russlands fühlen sich vor allem die baltischen Staaten und Polen von Moskau bedroht. Die NATO hat mit der rotierenden Stationierung von rund 4000 Soldaten in der Region sowie dem Aufbau einer schnellen Eingreiftruppe reagiert. Dadurch wiederum sieht Russland seine von NATO-Staaten umgebene Enklave Kaliningrad gefährdet. Die Folge sind vermehrte Manöver und Truppenstationierungen. Dadurch steigt allerdings die Gefahr militärischer Zwischenfälle.
Einem wachsenden Rüstungswettlauf in der Region möchte Wolfgang Richter von der Berliner „Stiftung Wissenschaft und Politik“ (SWP) einen Riegel vorschieben – durch ein regionales Rüstungskontrollregime. Der ehemalige Bundeswehr-Oberst möchte die gegenseitigen Ängste vor möglichen Überraschungsangriffen durch zwei wesentliche Elemente reduzieren: „Das ist das Element der Begrenzungen von gewissen Truppenteilen und Waffensystemen, und das ist das Element einer verstärkten Transparenz, die dann auch auf Verifikation und Vor- Ort-Inspektionen beruht.“
Richter schlägt vor, die Militärpotenziale an den Außengrenzen Russlands und der NATO-Staaten im Baltikum in einem Raum von 300 bis 600 Kilometern Tiefe zu begrenzen. Auf der einen Seite umfasst diese Zone die baltischen Staaten, Polen und auch die neuen Bundesländer Deutschlands. Auf der anderen Seite sind Weißrussland sowie Kaliningrad und die an die baltischen Staaten grenzenden russischen Militärbezirke Pskow und Sankt Petersburg einbezogen.
Begrenzt werden sollen in diesem Raum Waffensysteme, die für einen Überraschungsangriff besonders geeignet sind: Also Kampfpanzer, gepanzerte Fahrzeuge, Artillerie, Kampfflugzeuge und Kampfhubschrauber. Für diese fünf Waffenkategorien sind schon 1990 im Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa Obergrenzen vereinbart worden. Doch die allein reichen heute nicht mehr aus, meint Wolfgang Richter: „Es geht darum, auch Luftverteidigungssysteme, die eine große Reichweite haben und sehr viele Flugziele gleichzeitig erfassen können, mit hineinzunehmen in dieses subregionale Begrenzungsregime.“
Der Sicherheitsexperte hält es insbesondere für wichtig, dass sich NATO und Russland endlich auf eine Definition einigen, was genau unter „substanziellen Kampftruppen“ zu verstehen ist. Nach der NATO-Russland-Grundakte von 1997 dürfen nämlich in den östlichen NATO-Ländern keine – wie es wörtlich heißt – „zusätzlichen substanziellen Kampftruppen dauerhaft stationiert“ werden. Russland wiederum verpflichtete sich zu entsprechenden Begrenzungen in den an die baltischen Staaten angrenzenden Regionen Pskow und Sankt Petersburg.
Bisher halten sich beide Seiten daran.
Diese Vereinbarung zu bekräftigen und nun zugleich genau zu definieren, was unter „substantiellen Kampftruppen“ zu verstehen ist, würde ein Signal der Zurückhaltung senden, glaubt Wolfgang Richter.
Der Militärexperte Hans-Joachim Schmidt von der „Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung“ (HSFK), sieht alles, was über eine 1500 bis 5000 Mann umfassende Brigade hinausgeht, als „substantielle Kampftruppe“ an. Und eine solche Zahl könnte bald überschritten werden, befürchtet er: „Polen hat sogar den Amerikanern angeboten, die Stationierung einer ganzen amerikanischen Division dort zu bezahlen – und eine Division hat sicherlich zwei bis drei Brigaden. Das haben die USA bisher nicht gemacht. Es wird aber diskutiert und bis zum Winter will die US-Regierung hier entsprechende Schritte ankündigen.“
In der 300 bis 600 Kilometer tiefen Kernzone sollen nach dem Vorschlag von Richter auch die Anzahl und Größe der militärischen Übungen beider Seiten begrenzt werden. Und dies bei strikter Verifikation – inklusive frühzeitiger Ankündigung und der Möglichkeit, Übungen vor Ort beobachten zu können. Die verminderte Höchstgrenze für Übungsteilnehmer und Übungen sowie Transparenz würden weit über die bisher getroffenen Vereinbarungen hinausgehen.
Neben dem 300 bis 600 Kilometer-Raum ist das zweite Element im Vorschlag von Richter eine sogenannte „Transparenzzone“. In diesem weit ausgedehnteren Bereich sollten umfassende Informationspflichten- und Überprüfungsmöglichkeiten für Waffensysteme vereinbart werden, die von außerhalb in die Kernzone hineinwirken können – zum Beispiel See- und Luftstreitkräfte, aber auch weitreichende Raketen und Marschflugkörper. Richter hält es bei diesen Waffen nicht für möglich, eine quantitative Begrenzung zu vereinbaren. Aber: „Es sollte zumindest ein Transparenzregime hier greifen, sodass beide Seiten eine gewisse Berechenbarkeit haben, dass es hier nicht zu überraschenden Angriffen kommt.“
Der Rüstungskontrollvorschlag von Richter für das Baltikum hat seinen Reiz, meint Joachim Krause vom Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel. Aber er hat Bedenken. Erstens hat er Zweifel, dass Russland zu solchen Maßnahmen bereit wäre, weil Putin nach Ansicht von Krause aus innenpolitischen Gründen eine begrenzte Konfrontation mit der NATO bewusst suche und nicht aufgeben würde. Und zweitens, weil so ein Rüstungskontrollregime die baltischen Staaten nicht wirklich schützen könnte; „Der Effekt bleibt gering wegen den hohen Fähigkeiten der Russen zur Luftverlegung. Sie sind in der Lage, relativ kurzfristig sehr große Truppen in den baltischen Raum zu verlegen. Dieses Problem kriegen sie nicht in den Griff durch schöne Erklärungen oder vertrauensbildende Maßnahmen, die dann, wenn sie gebraucht werden, möglicherweise nicht zum Einsatz gebracht werden.“
Tatsächlich werde, so auch Richter, die regionale russische Überlegenheit im Baltikum nicht wegverhandelt werden können. Die Geographie sei nun einmal nicht zu verändern. Aber ebenso wenig könne man die Überlegenheit der NATO in Gesamteuropa wegdiskutieren.
Mit Rüstungskontrollregelungen könnten jedoch die gegenseitigen Angriffsfähigkeiten eingeschränkt und Frühwarnung gewährleistet werden, um im Konfliktfall rechtzeitig militärisch reagieren zu können. Diese Einschätzung von Richter teilen auch Experten aus Ost und West, die in einem ThinkTank-Netzwerk der „Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ Ende letzten Jahres eine Studie erstellt haben. Einer dieser Experten, Hans-Joachim Schmidt, warnt davor, die positiven militärischen Auswirkungen von Rüstungskontrollmaßnahmen zu unterschätzen: „Wir wollen ja gerade durch zusätzliche militärische Maßnahmen den militärischen Status quo dahingehend verändern, dass er berechenbarer, sicherer und stabiler wird.“ Damit sollte zugleich dem Risiko von Fehlwahrnehmungen gegengesteuert werden, die zu einem militärischen Konflikt führen könnten, und die Gefahr eines Überraschungsangriff so weit wie möglich minimiert werden.
Allerdings sei der Widerstand insbesondere in den baltischen Staaten und in Polen gegen solche Rüstungskontrollmaßnahmen sehr groß, sagt Lukasz Kulesa vom Warschauer „Institut für Internationale Beziehungen“: „Alle Länder in der Region gehen davon aus, dass sie ihre militärische Verteidigung stärken müssen. Sie glauben nicht daran, dass sie mehr Sicherheit durch Diplomatie erreichen können.“
Das wiederum sei eine Fehleinschätzung, meint nicht nur Wolfgang Richter. Man müsse alles tun, um diese europäischen NATO-Partner – aber auch die USA und Großbritannien – zu überzeugen, dass Rüstungskontrolle die Sicherheitslage verbessern kann.
Richters konkreter Vorschlag für mehr Sicherheit und Stabilität im baltischen Raum sollte von der Bundesregierung aufgegriffen werden. Denn es reicht nicht aus, sich – wie bisher – nur allgemein für Rüstungskontrolle auszusprechen. Notwendig sind vielmehr konkrete Initiativen, um eine Aufrüstungsspirale in Europa zu verhindern.
Dieser Artikel basiert auf einem Beitrag des Autors für die Senderreihe „Streitkräfte und Strategien“ (NDR-Info, 2.11.2019).
Schlagwörter: Baltikum, Jerry Sommer, Polen, Rüstungskontrolle, USA