23. Jahrgang | Nummer 11 | 25. Mai 2020

Nochmals zur Nuklearen Teilhabe*

von Sarcasticus

Seit Rolf Mützenich, der Chef der SPD-Bundestagsfraktion, einer Weiterführung der sogenannten Nuklearen Teilhabe im Rahmen der NATO für Deutschland eine definitive Absage angedeihen ließ – siehe Teil 1 dieses Beitrages in der Blättchen-Ausgabe 10/2020 –, darf er mit Fug‘ und Recht für sich in Anspruch nehmen, was ein zugegeben etwas martialisches geflügeltes Wort auf den Punkt bringt: Viel Feind, viel Ehr‘! Neben den im ersten Beitrag genannten Kritikern haben sich mittlerweile weitere Anderswisser auf ihn eingeschossen. Dazu zählen Trumps Enfant terrible in Berlin, Richard Grenell („Statt die Solidarität zu untergraben, […], ist es jetzt an der Zeit, dass Deutschland seinen Verpflichtungen […] nachkommt und kontinuierlich in die nukleare Teilhabe […] investiert […].“), ebenso wie der CDU-Politiker Norbert Röttgen („die Sozialdemokraten [verließen] den ‚sicherheitspolitischen Konsens‘ des Landes“) und der ZEIT-Herausgeber Josef Joffe („‚Deutsche‘ Atomwaffen locken doch keinen Hund hinter dem Ofen hervor.“). Doch damit nicht genug: Auch friendly fire aus den Reihen der eigenen Genossen hat Mützenich reichlich auf sich gezogen:

  • „Es gibt sehr berechtigte Zweifel, ob eine Aufkündigung der atomaren Teilhabe durch Deutschland die Abrüstung voranbringt und zur Entspannung beiträgt. Möglicherweise würde sogar das Gegenteil eintreten.“; Christoph Matschie, früherer stellvertretender Ministerpräsident von Thüringen, derzeit MdB-SPD.
  • „Einseitige Schritte, die das Vertrauen unserer engsten Partner und europäischen Nachbarn untergraben, bringen uns dem Ziel einer atomwaffenfreien Welt nicht näher.“; Heiko Maas, Außenminister.
  • Und ganz großes Kaliber: Die SPD verspiele „das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger, wenn sie die Stationierung amerikanischer Nuklearwaffen in Deutschland in Frage stelle“ und damit „ihre Fähigkeit zum verantwortlichen Regierungshandeln“; Siegmar Gabriel, Ex-SPD-Vorsitzender und inzwischen Chef der Atlantik-Brücke.

Zu wissen, aus welchen Quellen Gabriel seine Weisheiten schöpft, wäre schon interessant. Denn in einer repräsentativen Umfrage im vergangenen Jahr – aus Anlass der Beseitigung des INF-Vertrages – sprachen sich laut Greenpeace „86 Prozent der Bevölkerung […] gegen die Stationierung von US-amerikanischen Atomwaffen in Deutschland“ aus.

Einigem weiteren Für und Wider soll im Folgenden etwas ausführlicher nachgegangen werden.

Von Bundeskanzlerin Angela Merkel war in der aktuellen Debatte um die Nukleare Teilhabe bisher direkt nichts zu hören, doch ließ sie ihren Regierungssprecher Steffen Seibert am 4. Mai in der Bundespressekonferenz erklären, dass „sich die Bundesregierung zur nuklearen Teilhabe der Nato als wichtigem Bestandteil einer glaubwürdigen Abschreckung im Bündnis [bekennt]. In diesem Rahmen wird die Bundesregierung auch sicherstellen, dass da ein angemessener Beitrag zum Erhalt dieser Fähigkeiten der Nato durch Deutschland geleistet wird.“ Merkel hatte sich allerdings im Jahre 2015, am 31. August in der Bundespressekonferenz, gegen einen Abzug der letzten US-Kernwaffen aus Deutschland geäußert. Bereits im Jahre 2009 hatte sie – in einer Regierungserklärung am 26. März – unterstrichen: „Die Bundesregierung hat […] die nukleare Teilhabe in der Allianz im Weißbuch verankert, weil wir wissen, dass sie uns Einfluss im Bündnis, auch in diesem höchstsensiblen Bereich, sichert (Hervorhebung – S.).“

Letzteres hört man als Pro-Argument – einem Mantra nicht unähnlich – immer wieder. So jüngst auch von Claudia Major (SWP) und Christian Mölling (DGAP) im SPIEGEL: „Über die Rahmenbedingungen für den Einsatz von Atomwaffen beraten alle Nato-Staaten gemeinsam (mit Ausnahme Frankreichs).“ (Das ist ein Hinweis auf die 1966 geschaffene Nukleare Planungsgruppe der NATO.) Major und Mölling weiter: „Über den Einsatz der Bomben […] entscheiden […] die USA und das jeweilige Land, das die transportierenden Flugzeuge bereitstellt.“ Rolf Mützenich hat dazu – mit Verweis auf Erfahrungen auch jüngeren Datums – völlig Gegenteiliges zu Protokoll gegeben: „Wir sollten uns in dieser Hinsicht ehrlich machen: Es gibt keinen Einfluss oder gar Mitsprache von Nichtnuklearmächten auf die Nuklearstrategie oder gar die Einsatzoptionen von Atommächten. Dies ist nicht mehr als ein langbeschworener frommer Wunsch.“

Wer hat Recht?

Das mag für Außenstehende schwer zu entscheiden sein. Doch reichlich Ernüchterndes dazu aus der Ära von Helmut Schmidt (unter anderem Auseinandersetzungen in der Nuklearen Planungsgruppe betreffend) lässt sich zum Beispiel in Werner Sonnes 2018 erschienenem Buch „Leben mit der Bombe“ nachlesen – zum Ausriss hier klicken. Und in der aktuellen Debatte hat Otfried Nassauer, einer der bestinformiertesten deutschen Kenner der Materie, vor dem Hintergrund der Einführung taktischer Atomgefechtsköpfe auf U-Boot-gestützten ballistischen Interkontinentalraketen durch die USA – siehe dazu auch seinen Beitrag in der Blättchen-Ausgabe 9/2020 – auf folgendes hingewiesen: „Die mit der nuklearen Teilhabe verbundene Erwartung der Europäer, man könne ggf. Einfluss nehmen auf einen Ersteinsatz von US-Atomwaffen, dürfte durch die Modernisierung des Nukleararsenals hinfällig werden. Damit wird der geplante Kauf von nuklearfähigen US-Kampfflugzeugen […] zum Selbstbetrug.“

Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist schließlich auch, was die Bundesregierung in Gestalt des Sprechers des Auswärtigen Amtes, Christopher Burger, am 4. Mai in der Bundespressekonferenz auf die klare Frage „Hat Deutschland durch seine Teilhabe ein Vetorecht in der nuklearen Planungsgruppe?“ antwortete: „Klar ist, dass wir durch die nukleare Teilhabe in die strategische Diskussion und in Planungsprozesse einbezogen sind.“ Ein Ja auf die gestellte Frage hätte anders geklungen …

Wer zu diesen Aspekten noch mehr ins Detail gehen will, der könnte nicht zuletzt einigen Fragen nachspüren, die durch Pia Fuhrhop, Ulrich Kühn (beide IFSH) und Oliver Meier (SWP) im SPIEGEL aufgeworfen worden sind: „Die Nato-Verbündeten sollen kollektiv über den Einsatz der in Europa stationierten Atomwaffen entscheiden. Aber wie soll das in einer sich schnell entwickelnden Krise möglich sein? Was passiert, wenn einige Verbündete ausscheren? Wann und wo sollen Atomwaffen eingesetzt werden? Und: welche Folgen für die Mitwirkung hat es, dass ein Präsident wie Donald Trump ultimativ über den Einsatz amerikanischer Bomben entscheidet?“ Die drei Autoren meinen ihrerseits: „Eine Abwägung der sicherheitspolitischen Vor- und Nachteile ist angesichts der allgegenwärtigen Geheimhaltung unmöglich.“

Darüber hinaus wird gegen Mützenichs Forderung, „dass Deutschland die Stationierung (von US-Atomwaffen auf seinem Territorium – S.) zukünftig ausschließt“, ins Feld geführt: Damit wäre der „in Deutschland hoch geschätzten und notwendigen Rüstungskontrolle […] kein guter Dienst erwiesen“ (Major/Mölling). Da würde der Autor allerdings eher das Gegenteil erwarten. Denn bisher hatte die internationale Staatengemeinschaft – etwa in Gestalt jener 122 UNO-Mitgliedsstaaten, die am 7. Juli 2017 dem von ihnen ausgehandelten internationalen Atomwaffenverbotsvertrag** zugestimmt haben – allen Grund an der Ernsthaftigkeit von Deutschlands wiederholt verkündeter Absicht zu zweifeln, „dem Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt in Frieden und Sicherheit verpflichtet“ zu bleiben (Seibert am 4. Mai). Schließlich verstößt die BRD seit dem 28. November 1969, dem Tage ihrer Unterzeichnung des Nichtverbreitungsvertrages (NPT), auch Atomwaffensperrvertrag genannt, durch die Nukleare Teilhabe gegen die zentrale Festlegung in Artikel II des Vertrages: „Jeder Nichtkernwaffenstaat, der Vertragspartei ist, verpflichtet sich, Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber von niemandem unmittelbar oder mittelbar (Hervorhebung – S.) anzunehmen […].“ Die wechselnden Bundesregierungen haben sich seither zwar durchweg den Standpunkt zueigen gemacht, dass das Problem durch eine einseitige Erklärung der USA im Zusammenhang mit dem Abschluss des NPT aus der Welt sei. Im sogenannten Rusk-Brief an den US-Senat heißt es, dass die nukleare Teilhabe keine Weitergabe von Atomwaffen bedeute, da die betreffenden Systeme bis zu einem etwaigen Kriegsfall unter amerikanischer Kontrolle stünden und dass der Vertrag im Kriegsfalle seine Gültigkeit verlöre. Aber wann wäre je der Verstoß gegen eine völkerrechtlich verbindlich eigegangene Verpflichtung dadurch geheilt worden, dass einer der Verursacher des Verstoßes erklärte, es sei kein solcher? Und auch eine kühne Volte, mit der Teilhabe-Befürworter wie zum Beispiel Michael Rühle in der Neuen Zürcher Zeitung das Problem quasi zu seiner eigenen Lösung adeln – die Nukleare Teilhabe sei „zugleich auch ein Instrument der Nichtverbreitung, denn die europäischen Verbündeten hatten nun keinen Grund mehr, eigene Kernwaffen zu entwickeln“ – schafft den Verstoß nicht aus der Welt. Dass der Sachverhalt 1969 von den anderen NPT-Mitgliedsstaaten im Hinblick auf eine BRD, die zuvor nur durch das Streben nach eigenständiger Verfügungsgewalt über Atomwaffen und die strikte Ablehnung des NPT aufgefallen war, als kleineres Übel hingenommen wurde, ist historisch verständlich. Doch seit 30 Jahren sind die Rahmenbedingungen andere. So hat sich Deutschland im 2+4-Vertrag von 1990, also in einem weiteren völkerrechtlich verbindlichen Abkommen, ebenfalls auf einen „Verzicht auf Herstellung und Besitz von und auf Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen“ festgelegt.

Abschließend noch kurz zu einem Aspekt, der bereits im Blättchen-Forum thematisiert worden ist: Bekanntlich verfügt Russland über weit mehr taktische Kernwaffen als die USA. Deutschland wie auch die NATO kollektiv haben wiederholt Interesse bekundet, dieses Teilübergewicht zum Gegenstand von Abrüstungsverhandlungen zu machen. Russland hat das nicht abgelehnt, jedoch eine Bedingung formuliert. Als ersten Schritt müssten die USA ihre taktischen Kernwaffen dorthin zurückziehen, wohin Russland dies längst getan habe – auf sein nationales Territorium. Warum also nicht Rolf Mützenichs Vorstoß auf die anderen Teilhabe-Länder (Belgien, Italien, Niederlande, Türkei) erweitern und dann Moskau beim Wort nehmen? „Sicherheitspolitisches Porzellan“, so die Diskutantin im Forum, „kann dabei kaum zerschlagen werden, haben doch die USA gerade in einer Nacht-und-Nebel-Aktion (Otfried Nassauer berichtete – https://das-blaettchen.de/2020/04/die-nukleare-teilhabe-in-der-nato-wird-europa-ausgetrickst-52380.html) vorgeführt, dass man die Bunker in Büchel (wo die US-Kernwaffen in Deutschland lagern – S.) binnen 48 Stunden […] wieder befüllen kann.“ Sollte Moskau Verhandlungen verweigern …

* – Der erste Teil dieses Beitrages ist in der Blättchen-Ausgabe 10/2020 erschienen.

** – Der Vertrag verbietet Entwicklung, Produktion, Test, Erwerb, Lagerung, Transport, Stationierung und Einsatz von Kernwaffen sowie diesbezügliche Drohungen.