Abschreckungspolitik fördert ein Bewusstsein,
das durch Angst, Mißtrauen, Feindschaft und Aggression geprägt ist.
Dieter Senghaas (1969)
Die historische Leistung der EWG, der EG, der EU
war es, die Feindschaften von gestern zu entfeinden.
Heute gilt es, die Feindschaften von heute zu entfeinden.
Heribert Prantl,
Süddeutsche Zeitung, 01.01.2024
Der sicherheitspolitische Diskurs hierzulande ist seit längerem in einer Art und Weise auf Russland fokussiert, die deutschen wie europäischen Sicherheitsinteressen höchst abträglich ist. Das beginnt bei der Beurteilung der Lage, setzt sich in Weissagungen angeblich erwartbarer Perspektiven fort und kulminiert in der Wahl der Mittel zur Bewältigung der wieder einmal beschworenen russischen Bedrohung.[1]
Die Lage erfasst hatte schon Ende 2022 Lars Klingbeil, Kovorsitzender der SPD: Die Aussage, dass es Sicherheit und Stabilität in Europa nur mit und nicht gegen Russland geben könne, habe keinen Bestand mehr. „Heute geht es darum, Sicherheit vor Russland zu organisieren. […] Unsere Sicherheit muss ohne Russland funktionieren. [Hervorhebungen – W.S.]“ Darin folgen ihm seither zumindest die Gremien seiner Partei.
Und das wäre gewiss gut so, folgte man den Weissagungen einschlägiger Auguren im Hinblick auf einen drohenden Angriff Russlands auf NATO-Staaten wie etwa die baltischen oder Polen. DIE WELT verwies kürzlich auf angeblich „über die Ukraine hinausreichende Eroberungspläne“ Putins und zitierte Christian Mölling von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik: „Das Fenster zu einem möglichen russischen Angriff öffnet sich, sobald Russland den Eindruck hat, ein Angriff, etwa im Baltikum, könnte erfolgreich sein.“ Mölling weiß auch, wie lange – angesichts der Verluste an Menschen und Material infolge des Ukraine-Krieges – Moskaus militärische Vorbereitungen für diesen nächsten Überfall dauern werden: sechs bis zehn Jahre. Doch der Militärhistoriker Sönke Neitzel weiß es offenbar besser: Verteidigungsminister „Pistorius muss die Bundeswehr so aufstellen, dass sie in fünf Jahren kämpfen kann“. Und Klaus Wittmann, ein Exgeneral der Bundeswehr orakelte vor kurzem: „Früher als gedacht könnten deutsche Soldaten bei der Bündnisverteidigung in Litauen fallen.“
Das Drama verschärft sich dadurch, dass der nächste US-Präsident erneut Trump heißen könnte.[2] Und dann, so nicht nur Carlo Masala, Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München, müssten „wir uns darauf einstellen, dass wir die Hauptlast der Verteidigung Europas gegen eine russische Aggression alleine tragen müssen“. Weil, so Liviu Horovitz und Claudia Major von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), „ein Präsident Trump Europa die Nukleargarantien aufkündigen könnte“. Und dies angesichts einer Bundeswehr, da ist sich Neitzel sicher, die in ihrem derzeitigen Zustand „auf einem Schlachtfeld wie der Ukraine […] nur beweisen“ könnte, „dass sie ‚mit Anstand zu sterben‘ versteht“.
Befeuert wird dieses Schreckensszenario auch von jenseits des Atlantiks. Etwa durch die Publizistin Anne Applebaum, die im renommierten Magazin The Atlantic dezidiert an die Neigung Trumps zur Abkehr von der NATO erinnert hat. Während dessen erster Amtszeit sei zwar „der Rückzug nie erfolgt“, das habe jedoch daran gelegen, dass immer jemand da war, der ihm das ausreden konnte. Bolton sagt, er habe das getan; Jim Mattis, John Kelly, Rex Tillerson, Mike Pompeo und sogar Mike Pence sollen das auch getan haben. Aber sie haben ihn nicht umgestimmt. Und wenn Trump 2024 wiedergewählt wird, wird keiner dieser Leute im Weißen Haus sitzen.“
Als Mittel der Wahl zu unser aller Deutschen künftiger Sicherheit vor dem Kreml wird allenthalben einer massiven konventionellen Aufrüstung bei Land-, Luft- und Seestreitkräften das Wort geredet. Zum Beispiel von Ex-Bundesaußenminister Joseph Fischer: „Das Beste, was wir für den Frieden tun können, ist [… ] massiv aufzurüsten.“ Für die Umsetzung solcher auffordernden Überlegungen werden allerdings die 100 Milliarden Sonderschulden und die Erfüllung der (mindestens) Zwei-Prozent-Vorgabe der NATO nicht ausreichen. Das ist allgemeiner Komment in der deutschen Defense Community. Masala hat gerade „3 oder 3,5 Prozent des BIP“ in den Raum gestellt. Zumindest bei Pistorius dürfte er damit offenen Türen einrennen, der will Land und Gesellschaft bekanntlich wieder „kriegstüchtig“ machen.
Doch damit keineswegs genug. Klaus Naumann, ehemals Generalinspekteur der Bundeswehr, raunte bereits im Juni vergangenen Jahres von einer „unaufhaltsam auf Deutschland zurollende[n] Kernfrage deutscher Sicherheitspolitik […]: Kann Deutschland sich seinen Verzicht auf Nuklearwaffen dauerhaft leisten?
Der emeritierte Historiker Herfried Münkler, unter anderem Verfasser einer voluminösen Darstellung des Dreißigjährigen Krieges, war im vergangenen November dann schon forscher und forderte im SPIEGEL: „Europa muss atomare Fähigkeiten aufbauen.“ Nur „bis an die Zähne bewaffnet“ sei man unangreifbar. Auch für Fischer steht fest: „Die EU braucht eine eigene atomare Abschreckung.“[3]
Thomas Fasbender stellte in der Berliner Zeitung im Dezember die Frage „Braucht Deutschland die Bombe oder nicht?“ und wartete anschließend mit folgender Übersicht auf: „Das Gros der TV-bekannten Sicherheitsexperten und -politiker sieht ihre Notwendigkeit vor dem Hintergrund einer angeblichen Bedrohung durch Russland. Dafür stehen Namen wie Carlo Masala, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Nico Lange, Norbert Röttgen, Anton Hofreiter und andere. […] Das Gleiche gilt für viele Journalisten. Apodiktisch schreibt der Welt-Chefkommentator Jacques Schuster: ‚Europa muss zur atomaren Verteidigungsunion werden.‘“
Und damit Unklarheiten gar nicht erst aufkommen: Einen Verweis auf die nuklearen Fähigkeiten Frankreichs und Großbritanniens hält Fischer in diesem Zusammenhang für „zu einfach und zu kurz gedacht“, also offenbar für nicht ausreichend.
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Exkurs: „Mit dem Krieg [gegen die Ukraine – W.S.] hat Russland auch noch die Reputation als starke Militärmacht verloren.“ Das meint natürlich das bisher ersichtliche Unvermögen Moskaus, seine „militärische Sonderoperation“ offensiv zu einem Sieg auf dem Schlachtfeld zu führen. Ob man allerdings gleich so weit gehen muss wie der emeritierte Politologie-Professor August Pradetto, Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg, von dem diese Feststellung stammt, sei dahingestellt.
Hellmut Hoffmann, Botschafter a. D., der über 30 Jahre im Dienste des Auswärtigen Amtes stand, schätzt auf der Basis der „aggregierten Daten […] der Ausgabe 2021 der Military Balance des International Institute for Strategic Studies (IISS)“ ein: „An Verteidigungshaushalten und Besitz von Hauptwaffensystemen gemessen verfügt die NATO über eine signifikante Überlegenheit. Es gibt keinen Nachholbedarf.“ Und: „Auch die im Februar 2023 erschienene Ausgabe der IISS Military Balance weist hinsichtlich der Verteidigungsausgaben und des Besitzes von Hauptwaffensystemen wie schon in den Jahren zuvor eine markante Überlegenheit der NATO gegenüber Russland aus.“[4]
Vor diesem Hintergrund liegen Pradettos weitere Bewertungen dann aber mit ziemlicher Sicherheit richtig: „[…] die Beschwörung einer russischen Bedrohung im Sinne eines Angriffskriegs gegen den Westen ist ein Popanz […].“ Sowie: „Die Begründung einer umfassenden, auf Dauer angelegten NATO-Aufrüstung mit der Gefahr eines russischen Angriffskriegs gegen Europa ist manipulative Desinformation.“ Und um den Bogen zu den aktuellen Vorschlägen und Forderungen nach einer deutschen (oder EU-europäischen) Atomstreitmacht zu schließen: „Für eine Nuklearmacht Deutschland spricht nur russophobe Hysterie.“ (Thomas Fasbender)
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Trotzdem – wieder einmal Forderungen nach einer nuklearen Bewaffnung Deutschlands oder einer kollektiven der EU. Die Idee wird seit der Eskalation des Ukraine-Konflikts im Jahre 2014 nicht zum ersten Mal ventiliert; 2017 hatte zum Beispiel Jarosław Kaczyński, PiS-Chef und damals eigentlicher Machthaber in Polen, erklärt, er würde den Aufbau einer „Atom-Supermacht Europa begrüßen“. Da ist man doch inzwischen versucht, mal nachzufragen, an welches Potenzial denn eigentlich konkret gedacht wird. Wenn die bis zu 550 atomaren Sprengköpfe, über die – nach Angaben der US-amerikanischen Federation of American Scientists (FAS) – Frankreich und Großbritannien zusammen verfügen, nicht ausreichen. Russland verfügt ja immerhin – ebenfalls nach FAS-Angaben – über eine Triade strategischer Kernwaffeneinsatzmittel (land- und U-Boot-gestützte ballistische Interkontinentalraketen, Langstreckenbomber) mit insgesamt knapp 1700 Sprengköpfen sowie zusätzlich über knapp 1800 sogenannte taktische Kernwaffen zum unmittelbaren Gefechtsfeldeinsatz. Ein solches Arsenal kostet. Die USA modernisieren gerade ihre strategische Triade und haben dafür 1,5 Billionen US-Dollar veranschlagt.
Doch in die Niederungen solcher Details haben sich die Fürsprecher einer atomaren Bewaffnung hierzulande bisher nicht begeben. Lediglich Masala gab zumindest zu bedenken: „Man müsste die ganze Technologie dafür haben. Das ist sehr kostenintensiv und würde große strukturelle Veränderungen nach sich ziehen. Die komplette Struktur von Streitkräften wird dadurch verändert. Da steckt mehr dahinter, als nur über 20 oder 30 Atombomben zu verfügen.“[5]
Darüber hinaus provoziert die Formulierung von einer atomaren Verteidigungsunion einen grundsätzlichen Einwand, denn die Begriffe atomar und Verteidigung in einen unmittelbaren Sinnzusammenhang bringen, das können letztlich nur Experten, die von den unmittelbaren, den kollateralen und den langfristigen Folgen bereits einzelner, geschweige denn massenhafter Kernwaffeneinsätze keine Ahnung haben. Obwohl – keine Ahnung, das ist wiederum schwer vorstellbar, denn evidenzbasiertes Wissen darüber ist ja alles andere denn geheim. Die US-Amerikaner haben die unmittelbaren wie auch die späteren Auswirkungen ihrer Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki sowie nachfolgender – unterirdisch und unter Wasser durchgeführter – Atomtests penibel untersucht, dokumentiert und die Resultate bereits 1950 veröffentlicht. Eine deutsche Ausgabe des umfänglichen Berichts erschien in der BRD 1960 unter dem Titel „Die Wirkungen der Kernwaffen“ (sinnigerweise herausgegeben vom damaligen Bundesministerium für Wohnungsbau) und ist antiquarisch unverändert vorrätig. Das gilt nicht minder für die große interdisziplinäre westdeutsche Studie „Kriegsfolgen und Kriegsverhütung“ (Carl Hanser Verlag München, 1971, 3. Auflage), deren Verfasser unter Leitung von Carl Friedrich von Weizsäcker seinerzeit zu dem Fazit gelangten: „Der Einsatz nuklearer Waffen in der Absicht der Verteidigung der Bundesrepublik würde zur nuklearen Selbstvernichtung führen.“ Jeder heutige Befürworter einer künftigen deutschen oder EU-europäischen atomaren Bewaffnung, der ernst genommen werden wollte, hätte daher zunächst zu klären und zu erklären, ob und wenn ja wieso sich an diesem existenziellen Dilemma seither etwas Grundsätzliches geändert haben könnte. Dem Verfasser vorliegenden Beitrags liegen entsprechende Erkenntnisse dazu aktuell nicht vor.
Anfang der 1980er Jahre kamen überdies interdisziplinäre Untersuchungsergebnisse US-amerikanischer, etwas später auch sowjetischer Wissenschaftler über die mittel- und langfristigen klimatischen – Stichwort nuklearer Winter[6] – und anderweitigen[7] Auswirkungen eines Atomkrieges hinzu. Die damaligen klimabezogenen Studien sind zu Beginn der 2010er Jahre erneut bestätigt und präzisiert worden.[8]
Im Vorwort zur dritten Auflage seines Klassikers „The Evolution of Nuclear Strategy“ stellt Lawrence Friedman die Frage, ob Atomwaffen, über die mit „Begriffen wie ‚Holocaust‘, ‚Doomsday‘ und ‚Armageddon‘“ (Völkermord, Jüngstes Gericht und Weltuntergang) diskutiert werde, sowie der Sachverhalt, dass ein atomarer Krieg „aller Wahrscheinlichkeit nach für alle Beteiligten katastrophal wäre“, den Terminus Nuklearstrategie nicht zu einem „Widerspruch in sich“ (contradiction in terms) machten. Sein Fazit am Ende des Buches fällt differenziert aus: „Es kann keine rein nuklearen Strategien geben, aber es besteht weiterhin Bedarf an Strategien, die Atomwaffen in Rechnung stellen.“ Für atomare Verteidigung hingegen kann Friedmans Frage nur bejaht werden.
Andererseits – selbst nach den Vorstellungen ihrer Befürworter sollten künftige deutsche oder europäische Atomwaffen natürlich niemals wirklich eingesetzt werden, sondern lediglich dazu dienen, Russland vor einem Angriff auf den Westen oder auch nur einzelne NATO-Staaten abzuschrecken.
Lassen wir uns daher, nachdem die Chance auf die Schaffung einer neuen gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur unter Einschluss Russlands, für die die Charta von Paris[9] hätte die Basis sein können, durch die maßgeblichen Akteure seit 1990 teils fahrlässig, teils vorsätzlich verspielt worden ist[10], doch einfach mal auf die Fragestellung ein: Was wäre für Deutschland oder die EU im Verhältnis zu Russland sicherheitspolitisch zu gewinnen, wenn sie den längst laufenden zweiten Kalten Krieg durch ein eigenes nukleares Abschreckungspotenzial „bereicherten“?
Die Debatten über Sinn oder Unsinn nuklearer Abschreckung in Theorie und Praxis, die seit der zweiten Hälfte der 1940er Jahre[11], ausgehend von den USA und überwiegend im Westen geführt werden, sind Legion; die Studien, Aufsätze und Bücher, die darüber geschrieben worden sind, füllen Bibliotheken.[12] Nach Kenntnis des Autors haben sich dabei nur wenige Verfasser nicht um das grundlegende Manko jeglichen atomaren Abschreckungsdenkens herumgedrückt, das Peter Rudolf (SWP) in seinem 2022 erschienen Buch „Welt im Alarmzustand“ folgendermaßen umrissen hat: „Bei der nuklearen Abschreckung handelt es sich um ein Konstrukt, ein System von nicht verifizierbaren Annahmen, das geradezu ideologischen Charakter hat. Abschreckungspolitik beruht auf Axiomen, für die es keine empirische Evidenz im wissenschaftlichen Sinne gibt, sondern allenfalls anekdotische Evidenz, deren Interpretation also glaubensgeleitet ist. Der Glaube an die nukleare Abschreckung ist ebendies – ein Glaube [Hervorhebungen – W.S.].“ Die Sicherheit der eigenen Existenz gegenüber der nuklearen Supermacht Russland weiterhin und künftig sogar mit kräftig erweitertem westlichen Nuklearwaffenpotenzial auf ein so windiges Konzept zu gründen – womöglich aus der Erfahrung heraus, dass dies vom Westen so ja bereits jahrzehntelang erfolgreich betrieben worden sei und dass dabei das sogenannte Gleichgewicht des Schreckens lediglich hin und wieder einen Beinahe-Atomkrieg (Kuba-Krise 1962[13], Fehlalarm in einem sowjetischen Frühwarnsystem am 26. September 1983[14], NATO-Manöver Able Archer 83[15]) verursacht habe –, erfordert allerdings schon ein gerüttelt Maß an Gottvertrauen. Der frühere US-amerikanische Verteidigungsminister zur Zeit der Kuba-Krise, Robert McNamara, schätzte sehr viel später nämlich ein: „Wir standen so nah am nuklearen Abgrund. Wir haben den Atomkrieg nicht durch kluges Management verhindert, wir hatten Glück.“
Der Autor des vorliegenden Beitrages hat seit Mitte der 1980er Jahre Beiträge zum Diskurs geliefert und dabei unter anderem folgende prinzipielle kritische Einwände gegen die Konzeption der nuklearen Abschreckung geltend gemacht:
- „Abschreckung […] enthält […] keine grundsätzliche Absage an den Krieg. Wenn sie scheitert, dann findet dieser statt – und zwar mit allen katastrophalen Konsequenzen.“[16]
- Für „die Verfechter der Konzeption der atomaren Abschreckung [war] die Bereitschaft, Kernwaffen im Falle des Falles tatsächlich einzusetzen, stets die condicio sine qua non dieser Konzeption […]. Oder mit den Worten des langjährigen Direktors des Forschungsinstitutes der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Karl Kaiser […]: Nukleare Abschreckung sei ‚nur dann funktionsfähig, wenn der Besitz von Kernwaffen mit der Fähigkeit und dem Willen verbunden ist, sie im Notfall auch zu benutzen, also mit der Kriegführungsfähigkeit‘.“[17]
- „Kernwaffen wecken immer wieder das Bestreben, sie als Kampfmittel tatsächlich anwendbar zu machen, also praktisch wieder so zu konventionalisieren, wie das in den 1950er und 1960er Jahren bereits der Fall war […].“[18]
Dass atomare Abschreckung versagen und der dann stattfindende Krieg auf die nukleare Ebene eskalieren könnte, bestreiten im Übrigen selbst die vehementesten Verfechter der Konzeption nicht. (Ebenso könnte sich ein militärischer Konflikt unter Atommächten etwa aus einem ungewollten militärischen Zwischenfall entwickeln.[19]) Nur – sie reden nicht gerne darüber. Weil sie die dann allfällige Gretchen-Frage, wie nach dem ersten Einsatz von Kernwaffen ein nuklearer Gegenschlag, vor allem aber ein außer Kontrolle geratendes Hin und Her von derartigen Schlägen und Gegenschlägen bis hin zur allgemeinen Vernichtung zu verhindern wäre, fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Denn welche Staatsführung einer Atommacht handelte noch rational, auf deren Territorium gerade zehn- oder hunderttausende, wenn nicht weit mehr Menschen getötet wurden und eine gegebenenfalls noch weit größere Anzahl mehr oder weniger schwer verletzt worden sind, deren kritische Infrastruktur (Strom, Wasser, Gas, Verkehr, Gesundheitsversorgung, Finanzdienstleistungen et cetera) durch atomare Explosionen kollabiert oder deren politisches wie militärisches Spitzenpersonal gar teilweise oder ganz liquidiert ist? Eine Staatsführung, die überdies nicht weiß, ob nicht weitere Atomsprengköpfe bereits im Anflug sind? Welche Staatsführung könnte in einer solchen Lage überhaupt noch planvoll agieren, wenn zugleich nationale und internationale Kommunikationsstränge durch die von Kernwaffenexplosionen ausgelösten elektromagnetischen Impulse[20] weitgehend zerstört wären? (Auf russischer Seite besteht für einen solchen Fall ein automatisiertes Führungssystem, das, einmal aktiviert, einen massiven Gegenschlag dann immer noch auslösen können soll.[21]) Über 75 Jahre politische und militärtheoretische Debatten über die Konzeption der nuklearen Abschreckung, geführt von Generationen von westlichen Experten, haben keine praktikablen, schlüssigen oder gar überzeugenden Antworten auf diese Fragen erbracht. Und solche Antworten sind infolge der Wirkungsweise und der Zerstörungsdimensionen atomarer Waffen sowie der Unmöglichkeit, sich flächendeckend wirksam dagegen zu schützen, künftig ebenso wenig nicht zu erwarten. Nicht zuletzt überdies auch deshalb nicht, weil, so der frühere US-Sicherheitsberater McGeorge Bundy bereits 1983, „niemand sagen kann, was geschehen wird, nachdem auch nur eine“ einzige Atomwaffe „eingesetzt worden ist. […] Niemand weiß, wie irgendein ‚begrenzter‘ Einsatz beantwortet werden würde.“[22]
Konventionelle Kriege enden seit Menschengedenken entweder am Verhandlungstisch oder mit der Niederlage einer Seite. Ein Atomkrieg hingegen wird mangels Voraussetzungen schwerlich am Verhandlungstisch beigelegt werden können; und darüber hinaus gilt: „Wer zuerst schießt stirbt als zweiter.“
Man kann es also drehen und wenden, wie und so lange man will: Ein eigenes Kernwaffenarsenal Deutschlands oder EU-Europas wäre sicherheitspolitisch lediglich eine Weichenstellung auf weitere Jahrzehnte nuklearer Konfrontation mit Russland, mit fortwährendem Atomkriegsrisiko. Sicherheit ohne dieses Risiko für Deutschland und Europa ist gegen die nukleare Supermacht Russlands nicht zu haben, nur mit dieser gemeinsam und demzufolge nicht durch Konfrontation, sondern nur durch Kooperation. Das setzt eine grundsätzliche Entfeindung der gegenseitigen Beziehungen voraus – vergleichbar jener, die nach 1945 zwischen den bis dato Erbfeinden Frankreich und (West-)Deutschland gelungen ist, obwohl Deutsche und Franzosen seit Beginn des 19. Jahrhunderts vier ein ums andere Mal schlimmere Kriege gegeneinander geführt hatten.
Diese Überlegungen klingen angesichts des Ukraine-Krieges und der aus Moskau in jüngster Zeit verstärkt zu hörenden Stimmen, dass man den Westen nicht mehr brauche (Sergej Karaganow) und künftig mit diesem quasi nichts mehr zu tun haben wolle[23], natürlich absolut utopisch. Nichtsdestotrotz gilt – und hier soll Heribert Prantl das letzte Wort haben: „Die Probleme auf dem Kontinent verschwinden nicht damit, dass man sich Russland einfach aus Europa wegdenkt. Wenn man das versuchte, dann würde man in geraumer Zeit schon wieder sagen müssen: ‚Wir haben uns geirrt.‘“ Oder: Wir haben ein weiteres Mal nichts dazugelernt.
PS: Zeigt das Beispiel Nordkorea nicht aber doch, dass militärisch eben keinen Angriff befürchten muss, wer über Atomwaffen verfügt. Oder anders gefragt – würde die Ukraine nicht noch in Frieden leben, wenn sie nach dem Zerfall der UdSSR, statt sich zur vollständigen Abgabe ihrer ehemals sowjetischen Nuklearwaffen überreden zu lassen, drittstärkste Atommacht geblieben wäre?
Das ist tatsächlich anzunehmen.
Allerdings – unter dem Aspekt dauerhafter Sicherheitsgewährleistung ohne Atomkriegsrisiko und somit im Hinblick auf die Zukunft Europas relevanter ist ein anderer Sachverhalt: Wäre die Ukraine nicht vom Westen und mit Beteiligung Kiewer Eliten zielgerichtet in die Konfrontation mit Moskau getrieben worden (und hätte der Kreml darauf nicht insgesamt viel zu lange im Wesentlichen mit Schmollen und außenpolitischer Passivität nach dem Motto „Wir sind Supermacht. Die anderen müssen kommen!“ reagiert), dann hätte es die Annexion der Krim 2014 und den russischen Überfall vom 22. Februar 2022 gar nicht gegeben.[24]
[1] – Derartige Beschwörungen bildeten im Westen das permanente propagandistische Hintergrund- und periodisch auch immer wieder Vordergrundrauschen während des gesamten ersten Kalten Krieges (1946 – 1990). Im Blättchen 11/2019 hieß es dazu: „Während des gesamten Kalten Krieges war das Menetekel ‚Die Russen kommen!‘ der Treibriemen für immerwährende Hochrüstung, für Entspannungs- und Vertragsverweigerung gegenüber dem Osten sowie für aggressive Angst-Propaganda. (Das galt im Osten bis 1985 spiegelbildlich nicht minder.) In der Bundesrepublik war das Klischee von der auf der Lauer liegenden Sowjetunion überdies ein gern gebrauchtes Stereotyp für die Forderung nach eigener Atombewaffnung. So fragte Ex-Bundesjustizminister Richard Jaeger auf einer Wehrkundetagung der CSU im Dezember 1967: ‚Was geschähe, wenn die Russen an einem Samstag oder Sonntag aus einem Manöver an der Zonengrenze heraus einen Angriff auf die Bundesrepublik unternehmen?‘ Natürlich die Apokalypse: ‚In vier oder fünf Tagen wäre unser Schicksal besiegelt, wenn wir keine Atomwaffen hätten.‘ Wenige Monate später erfolgte bekanntlich der sowjetische Einmarsch zur Niederschlagung des Prager Frühlings. ‚Aber der 21. August 1968‘, so Helmut Wolfgang Kahn in seinem 1969 erschienenen Buch ‚Die Russen kommen nicht‘, „war kein Samstag oder Sonntag, sondern ein Mittwoch. Das Schicksal der Bundesrepublik blieb, auch ohne eigene Atomwaffen, unbesiegelt. Die Russen kamen wieder einmal nicht. Sie wollten offenbar nicht.‘ Und sie kamen im Kalten Krieg schlussendlich – nie.“
Eine weitere Horror-Vision der sowjetischen Bedrohung lieferte Anfang der 1980er Jahre der britische Ex-General John Hackett, vormals Oberkommandierender der britischen Rheinarmee in der BRD, mit seinem Buch „The Third World War. The Untold Story“ – siehe dazu Blättchen 25/2023.
[2] – Zu Trumps Nominierungs- und Wahlchancen ausführlich geäußert hat sich Robert Kagan in der Washington Post – siehe dazu ausführlich Blättchen 26/2023 und 2/2024.
[3] – Zur Erinnerung: Es war Bundesaußenminister Fischer, der 1998 eine Kampagne für eine „No-first-use-Politik“ der NATO (also gegen atomaren Ersteinsatz) gestartet und der noch 2020 einen Offenen Brief unterzeichnet hatte, in dem die nicht-nuklearen NATO-Verbündeten auffordert wurden, dem internationalen Vertrag über das Verbot von Atomwaffen beizutreten.
[4] – Dem Blättchen 15/2022 sind weitere Angaben zu entnehmen, die Hoffmanns Feststellung erhärten.
[5] – Weitere Schwierigkeiten und Hemmnisse auf dem Wege zu einer deutschen oder EU-europäischen Atomstreitmacht diskutiert Michael Rühle: German Musings About a European Nuclear Deterrent, Information Series, Nr. 571 vom 03.01.2024.
[6] – Siehe u.a. Carl Sagan: Nuclear War and Climatic Catastrophe: Some Policy Implications, Foreign Affairs, Winter 1983/84.
[7] – Siehe P. R. Ehrlich et al.: Long-Term Biological Consequences of NucIear War, in: Science, Nr. 4630/1983.
[8] – Siehe A. Robock / O. B. Toon: Lokaler Krieg, globales Leid, Spektrum der Wissenschaft, November 2010. Dazu auch Matt Bivens: Nukleare Hungersnot, o.O., 10.10.2022
[9] – Charta von Paris für ein neues Europa, Paris 1990.
[10] – Siehe, nur zum Beispiel „Offener Brief zur NATO-Osterweiterung von Robert McNamara, Paul H. Nitze, Sam Nunn u.a. an Präsident Bill Clinton vom 26. Juni 1997“, Blätter für deutsche und internationale Politik, 8/1997.
[11] – Beginnend mit Bernard Brodie: The Absolute Weapon. Atomic Power and World Order, New Haven 1946.
[12] – Gute Übersicht verschaffen Lawrence Friedman: The Evolution of Nuclear Strategy. Third Edition, New York, 2003; Frank Kaplan: The Wizzards of Armaggedon, Stanford 1983; ders.: The Bomb. Presidents, Generals and the Secret History of Nuclear War, New York, 2020 und Dieter Senghaas: Abschreckung und Frieden. Studien zur Kritik organisierter Friedlosigkeit, Frankfurt am Main 1969.
[13] – Siehe Reiner Pommerin: Die Kuba-Krise 1962. Vorgeschichte und Verlauf, Aus Politik und Zeitgeschichte, 23.09.2022.
[14] – Siehe Leo Ensel: Ein Held des Atomzeitalters, Blättchen 21/2023.
[15] – Siehe Martin Klemrath: „ABLE ARCHER 83“. Entging die Welt im Jahr 1983 um Haaresbreite einem Atomkrieg?, WELT, 24.11.2023.
[16] – M. Schmidt / W. Schwarz, Friedenssicherung durch „Abschreckung“?, IPW-Berichte, 11/1986.
[17] – Wolfgang Schwarz: Atomare Abschreckung – oder: das hirnrissige Spiel mit der Apokalypse, Blättchen 9/2015.
[18] – Ders.: Kernwaffen, nukleare Abschreckung und die internationale Sicherheit (15 Thesen, kommentiert), Blättchen 8/2018.
[19] – Siehe z.B.: ZEIT ONLINE, 15.03.2023; Berliner Zeitung (online), 02.03.2022.
[20] – Siehe ausführlicher Gabriele Muthesius: EMP – oder: Das Schwert des Damokles in Zeiten der Digitalisierung, Blättchen 3/2016.
[21] – Siehe ausführlicher Sarcasticus: Dead Hand 2.0, Blättchen 24/2019.
[22] – Bundy fügte noch hinzu: „Natürlich kann niemand beweisen, dass jeglicher Ersteinsatz von Kernwaffen zum allgemeinen Flächenbrand führen wird. Aber was entscheidend ist, niemand kann auch nur annähernd beweisen, dass das nicht der Fall sein wird.“ (Hervorhebungen – W.S.)
[23] – Da hieß es in jüngster Zeit, „dass es keine Rückkehr zu der Zusammenarbeit mit den westlichen Staaten geben könne“ (Boris Titow, Beauftragter des russischen Präsidenten für Unternehmensrechtsschutz), dass es „für Russland und die USA kein ‚Zurück zur Normalität‘ geben wird“ (Iwan Timofejew, Programmdirektor des Waldei-Klubs) und „dass es mindestens 20 Jahre dauern wird, bis wir jemals über die Rückkehr zu normalen Beziehungen zwischen Russland und dem Westen sprechen können“ (Sergej Karaganow).
[24] – Es gibt noch weitere gravierende sicherheitspolitische Gründe, die gegen die Schaffung einer deutschen oder EU-europäischen Atomstreitmacht sprechen. Deren Vertiefung würde den Rahmen des vorliegenden Beitrags sprengen.
Zum Beispiel erwarten Experten, dass eine Atommacht Deutschland oder EU-Europa dem internationalen Vertrag und Regime zur Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen den Todesstoß versetzen würde. Beides hat – aller Unvollkommenheit, etwa im Falle Indiens (siehe : Wolfgang Schwarz: Über den Rubikon, Blättchen 22/2008), zum Trotz – maßgeblich dazu beigetragen, dass es heute nicht schon deutlich mehr als „nur“ neun Atommächte gibt. Entsprechende Entwicklungsprogramme in der Vergangenheit haben bekanntlich Schweden, Südafrika, Argentinien und Brasilien verfolgt und aufgegeben. Dem Iran wird heute eines nachgesagt. Äußerungen diesbezüglicher Ambitionen wurden in jüngerer Zeit aus Saudi-Arabien und der Türkei vernommen und entsprechende Möglichkeiten werden im Hinblick auf Südkorea diskutiert. Vor diesem Hintergrund kann eine Warnung nur unterstrichen werden, die von Liviu Horovitz und Claudia Major (SWP) kürzlich formuliert worden ist: „Das Proliferationsrisiko, also dass Staaten nach eigenen Atomwaffen als ultimative Lebensversicherung greifen, würde steigen. Denn wenn sich Deutschland die Bombe holt – warum dann nicht auch andere? Eine nuklearisierte Welt wäre nicht nur instabil und gefährlich, sondern auch konfrontativer.“
Schlagwörter: Abschreckung, Atomkrieg, Atomwaffen, Charta von Paris, Frieden, Russland, Sicherheitsarchitektur, Ukraine, Wolfgang Schwarz