26. Jahrgang | Nummer 25 | 4. Dezember 2023

Hacketts Erben – oder: Ob der Russe diesmal kommt?

von Sarcasticus

Zunächst – ein Rückblick.

Das regelmäßige, fast schon rituelle Beschwören einer existenziellen militärischen Bedrohung seitens der Sowjetunion und des Warschauer Paktes gehörte in den Jahrzehnten des ersten Kalten Krieges (1946, Fulton-Rede Churchills, bis 1990, 2+4-Vertrag und Charta von Paris) zum ideologischen Standardrepertoire von Politik, Militär und Medien des Westens. Als geeignetes Instrument, um die permanente Aufrüstung der NATO immer wieder zu legitimieren, respektive zu forcieren und um zugleich die eigene konfrontative Außen-, Militär- und Wirtschaftspolitik gegenüber dem Osten zu rechtfertigen.

Für den möglichen zentraleuropäischen Kriegsschauplatz wurde dabei mit dem Schreckensbild einer überraschenden Invasion der BRD operiert, bei der die roten Panzermassen erst in die dafür besonders geeignete norddeutsche Tiefebene sowie durch das sogenannte Fulda Gap fluteten. (Nach Angaben von „The Military Balance 1985/86“ verfügten Moskaus Streitkräfte in der DDR Mitte der 1980er Jahre unter anderem über zehn voll einsatzbereite Panzerdivisionen, zuzüglich zweier weiterer der NVA.)

Eine besonders infernalische Vision dieser Bedrohung bot Anfang der 1980er Jahre der britische Ex-General John Hackett, vormals Oberkommandierender der britischen Rheinarmee in der BRD, mit seinem Buch „The Third World War. The Untold Story“, dem zufolge der Endkampf zwischen West und Ost 1985 stattgefunden haben könnte. Hacketts westdeutscher Verlag fasste die „Grundannahme“ des Autors dahingehend zusammen, „daß die sowjetische Führung bewusst einen Großangriff auf den freien Westen plant, mit dem erklärten Ziel, die Bundesrepublik Deutschland zu vernichten, die Vereinigten Staaten auf die Knie zu zwingen und dem Weltkommunismus zum endgültigen Durchbruch zu verhelfen“. Anlässlich der Publikation der deutschen Übersetzung des Buches („Welt in Flammen. Der Dritte Weltkrieg: Schauplatz Europa“) vermerkte DER SPIEGEL, dass Hackett „seinen Lesern kaum ein Detail aus der Horrorwelt des Krieges [erspart]: Panzer walzen Flüchtlinge nieder, Norddeutschland wird von den Sowjet-Armeen überrollt, Millionen Menschen kommen um“. Und das war mitnichten Belletristik, denn, so DER SPIEGEL, monatelang hatte „das Hackett-Manuskript die Planungsreferate der Brüsseler Nato-Zentrale“ durchlaufen, „wo sich Offiziere gerne bereitfanden, die Kenntnisse des Ex-Generals auf den neuesten Stand zu bringen“. Am Ende siegte der Westen, weil die NATO gerade noch rechtzeitig „bis zu den Ohren konventionell aufgerüstet“ hatte.*

Nun ja, zwar lobte das Hamburger Nachrichtenmagazin damals den Autor „und seine Mitarbeiter […] als maßvolle, kühl kalkulierende Militärs, denen Hysterie fernliegt“, doch wie die Geschichte tatsächlich ablief, ist inzwischen hinlänglich bekannt: Die Russen kamen auch jenes Mal nicht nur nicht, 1985 kam überdies – Gorbatschow, und mit ihm ging dem ersten Kalten Krieg die Puste aus.

Doch es gab während der Jahrzehnte der Systemkonfrontation auch im Westen kritische Geister wie den westdeutschen Publizisten Helmut Wolfgang Kahn. Der war in seinem Buch „Die Russen kommen nicht. Fehlleistungen unserer Sicherheitspolitik“ bereits 1969 zu dem Fazit gelangt: „Es unterliegt […] keinem Zweifel, daß die Russen im letzten Vierteljahrhundert schon oft hätten kommen können, wenn sie es gewollt [Hervorhebung im Original] hätten. Und zwar trotz des anfänglichen Atomwaffenmono­pols der USA von 1945 bis 1949, trotz der NATO seit 1949, trotz der zeitweiligen atomaren Überlegenheit der Vereinigten Staaten […]. Wenn man heute ihre vielfältigen ‚Gelegenheiten‘ Revue passieren läßt, mag mancher ängstliche Zeitgenosse erschrecken wie weiland der Reiter über den Bodensee. Aber er braucht nicht, wie dieser, tot umzusinken, denn: Die Russen wollten offenbar nie [Hervorhebung im Original] kommen.“ (18) Ein Beweis des Gegenteils hat sich auch nach 1990, als sowjetische, später russische Archive für etliche Jahre geöffnet waren, nicht gefunden.

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„Sirenen heulen. Handy-Warntöne schrillen tausendfach. Luftalarm in München, Frankfurt und Berlin. Marschflugkörper und Drohnenschwärme dringen in den deutschen Luftraum ein. Schon seit Tagen stehen auch deutsche Soldaten in Feuergefechten in den baltischen Staaten. In Reaktion auf russische Angriffe dort löste die Nato einen Artikel-5-Beistandsfall aus. Russland reagierte mit Raketen. Einige Staaten treten aus Nato und EU aus, ein harter Kern im Norden und Osten leistet erbittert Widerstand. […] Klingt das übertrieben? Nein! Falls Wladimir Putin seinen Angriffskrieg [gegen die Ukraine – S.] gewinnt, ist dieses Szenario realistisch.“ Denn anschließend würde Moskau „im Siegestaumel neue militärische Angriffe planen und zu offener politischer Erpressung mit Energie- und Rohstoffwaffen übergehen“. Dem Westen bliebe womöglich angesichts der russischen „Nuklearmacht am Ende nur die Unterwerfung“.Mit diesem Weckruf haben sich dieser Tage Carlo Masala, Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr in München, und Nico Lange, Senior Fellow der Zeitenwende-Initiative der Münchner Sicherheitskonferenz, bleibendes Verdienst erworben. Und die Nobilitierung als Hacketts würdige Erben. Zumal sich beide Autoren in ihrem in der ZEIT veröffentlichten Pamphlet nicht scheuen, die mögliche Alternative klar zu benennen – militärische Ressourcen, „die in die Ukraine fließen müssten, damit die Ukrainer Russland besiegen können“. Vulgo Eskalation des dortigen Krieges durch westliche Militärhilfe, bis Moskau schlappmacht.Auch darum, wohin die Reise schließlich gehen sollte, schwurbeln Masala/Lange nicht lange herum: „Gleichzeitig würden Putins Niederlage und als Folge einer solchen sein absehbarer Sturz Chancen für eine künftig friedliche und konstruktive Rolle Russlands in Europa eröffnen. Insofern ist eine Niederlage Russlands in der Ukraine auch im Interesse Russlands und seiner Gesellschaft.“ Und: „[…] eine aus der russischen imperialen Umklammerung endlich vollständig befreite Ukraine als Mitglied von Nato und der EU würde Deutschland und Europa einen Schub an Sicherheit, Wohlstand und globaler Geltung geben“.Wow, angesichts solcher Perspektiven könnten wohl allenfalls Blinde und natürlich Putin-Versteher Einwände geltend machen – wie etwa:

  • Imperiale Ambitionen zur Wiederherstellung der früheren Sowjetunion samt ihrem osteuropäischen Vorfeldpuffer lassen sich dem Kreml und seinem Herrscher besonders leicht unterstellen, wenn man, wie es in den Eliten des Westens spätestens seit 2014 Usus ist, ausklammert oder rundweg negiert, dass der Ukraine-Konflikt eine Vorgeschichte hat. Deren Kern besteht darin, dass nach 1990 eine neue europäische Sicherheitsarchitektur unter Einschluss Russlands, die mit der Charta von Paris hätte an den Start gehen können, nie ernsthaft in Angriff genommen wurde. Stattdessen wurde die von den USA dominierte westliche Sicherheitsarchitektur in Gestalt der NATO immer näher an russische Grenzen herangeschoben und zusätzlich durch die Ausweitung der EU zementiert. Russischer Widerstand dagegen sollte erst mit Placebos wie der in der Endkonsequenz substanzlosen NATO-Russland-Grundakte sowie dem gleichnamigen Rat ruhiggestellt werden und wurde schließlich, beginnend mit Putins Philippika auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, mit einer für das Ausmaß westlicher Hybris typischen Verständnislosigkeit quittiert. Mehr noch – auf dem Bukarester NATO-Gipfel 2008 wurde verkündet: „Die NATO begrüßt die […] Bestrebungen der Ukraine und Georgiens, der NATO beizutreten.  Wir haben heute vereinbart, dass diese Länder Mitglieder der NATO werden.“
    Das alles zusammen rechtfertigt zwar den russischen Angriff auf die Ukraine in keiner Weise, muss aber trotzdem verstanden werden, wenn der jetzige Krieg auf eine Weise beendet werden soll, die nicht gleich wieder die Weichen für den nächsten stellt – eingedenk der historischer Erfahrung: „Und nach abermals zwanzig Jahren / kommen neue Kanonen gefahren. – / Das wäre kein Friede.“ (Tucholsky, „Krieg dem Kriege“,1919)
  • Und was den „Schub an Sicherheit“ et cetera für Europa anbetrifft – wer sich das Ziel eines Regimewechsels in Moskau und somit die Zerschlagung der russischen Souveränität auf seine Fahnen schreibt, der steppt unter Umständen auf besonders dünnem Eis. Was im Falle von Masala und Lange umso mehr verwundert, denn natürlich kennen diese Sicherheitsexperten die geltende russische Nukleardoktrin. Der zufolge stellten entsprechende Entwicklungen einen (von insgesamt drei) Berechtigungsgründen für den Ersteinsatz von Atomwaffen dar. Gegebenenfalls mit allen denkbaren apokalyptischen Konsequenzen. Oder um es mit Putin, 2018, zu sagen: „Wozu brauchen wir eine Welt, in der es kein Russland gibt?“

Für jene, die den Schuss immer noch nicht gehört haben, legte Lange in einem Interview mit dem Deutschlandfunk nach, in dem er ausführte, der Westen sei mit einem Wladimir Putin konfrontiert, „der vor kurzem in [sic!] Waldai gesagt hat, ich habe gerade erst angefangen, ich will die Ordnung in Europa umgestalten, ich hab’ mein Land auf Krieg umgestellt, ich will bis 2030 Präsident bleiben, ich mach’ jetzt weiter“.Tatsächlich gesagt hatte der russische Präsident auf der Jahrestagung des Waldai-Klubs am 5. Oktober in Sotschi: „Die Krise in der Ukraine ist kein Konflikt um ein Territorium, das möchte ich betonen. Russland ist das größte, das territorial riesigste Land der Welt. Wir haben kein Interesse an der Zurückeroberung bestimmter weiterer Territorien. Wir haben noch Sibirien, Ostsibirien und den Fernen Osten zu erschließen.“ (Putins gesamten Auftritt in Sotschi konnten Blättchen-Leser übrigens bereits über einen Link in der Ausgabe 22/2023 zur Kenntnis nehmen.)

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Zwei weitere deutsche Auguren wissen es im Hinblick auf den Zeitpunkt, wann mit Putins nächsten Feldzügen zu rechnen sei, noch genauer – in sechs bis zehn Jahren nach „dem Ende der intensiven Kämpfe in der Ukraine“; solange würde Moskau danach benötigen, „um die Streitkräfte wieder aufzubauen“. Und ganz konkret: „Das Fenster zu einem möglichen russischen Angriff öffnet sich, sobald Russland den Eindruck hat, ein Angriff, etwa im Baltikum, könnte erfolgreich sein.“

Verkündet haben dies – in einem auf den November 2023 datierten Papier mit dem Titel „Den nächsten Krieg verhindern. Deutschland und die NATO stehen im Wettlauf mit der Zeit“ – Christian Mölling, Leiter des DGAP-Zentrums für Sicherheit und Verteidigung, und Torben Schütz, Associate Fellow bei eben diesem Zentrum.

In Ihrem Bestreben, auch ja hinreichend ernst genommen zu werden, haben die beiden allerdings die Grenze zum Grotesken mindestens touchiert, wenn sie Putin und seinen Getreuen nicht nur ganz allgemein „Analogien zum imperialen Zarenreich und der Sowjetunion der Stalin-Zeit“ unterstellen, sondern noch einen Schritt weiter gehen: „Russland besteht demnach auch jenseits seiner Grenzen fort – überall dort, wo jemals [Hervorhebung – S.] Russen lebten oder wo das russische Reich oder die Sowjetunion herrschten“. Offenbar sollten sich also selbst die Amerikaner in Alaska** vorsichtshalber warm anziehen.

Doch wie dem auch sei – Mölling und Schütz wären nur zahnlose Diagnostiker, hätten sie die Medizin gegen das Schlimmste nicht ebenfalls zur Hand; sie fordern:

  • „die Unterstützung der Ukraine so zu verstärken, dass die ukrainischen Streitkräfte eine Chance haben, mit ihrer nächsten Offensive Russland eine Niederlage auf ukrainischem Gebiet zuzufügen“;
  • „umgehend damit [zu] beginnen, gemeinsam mit der Ukraine die langfristige Integration des Landes in die westliche Verteidigung und Rüstung zu planen und umzusetzen“;
  • „einen Quantensprung beim Wiederaufbau der Bundeswehr, der Erneuerung der rüstungsindustriellen Basis und der Stärkung der gesellschaftlichen Resilienz“.

Irgendwie scheint die beiden Experten jedoch zugleich das Gefühl umzutreiben, tauben Ohren zu predigen. Denn sie beklagen: „Nach dem Schock, den Russlands erste Invasion der Ukraine 2014 auslöste, und den Neuplanungen von 2016 wollte die Bundeswehr ihre NATO-Ziele innerhalb von rund 15 Jahren – in den frühen 2030er [sic!] – erreichen. Jetzt ist die Hälfte dieses Zeitraums verstrichen, ohne dass eine substanzielle Verbesserung eingetreten ist.“

Grund zur Panik besteht gleichwohl nicht. Denn Russland war bereits ohne seine durch den Ukraine-Krieg bedingten militärischen Verluste der NATO bei konventionellen Streitkräften und anderen kriegsrelevanten Parametern so hoffnungslos unterlegen (siehe ausführlich Blättchen 15/2022), dass jeder Versuch eines militärischen Ausgleichs Moskau weit schneller wirtschaftlich ruinieren müsste als seinerzeit das Wettrüsten die Sowjetunion im Kalten Krieg.

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Dem hektischen Alarmismus von Masala, Mölling &. Co. kann also durchaus mit Gelassenheit begegnet werden.

Alles in allem: Im Vergleich zum Problem einer mit fragwürdigen Methoden und durchsichtigen Zielsetzungen dramatisierten potenziellen künftigen russischen Bedrohung erscheint dem Verfasser – mit Blick auf die Zukunft – eine ganz andere Frage weit relevanter: Ob auf westlicher Seite vielleicht noch einmal ein paar bis dato formidable kalte Krieger in Erscheinung treten, die sich die Erkenntnis erarbeitet haben, dass Konfrontation gegenüber einer Großmacht, zumal einer atomaren, immer nur weitere Konfrontation und ständige, mindestens latente Kriegsgefahr hervorbringt? Wie vor ziemlich genau 60 Jahren. Damals waren das Willy Brandt und Egon Bahr.

Derzeit sieht es zwar überhaupt nicht danach aus. Doch das war bis 1963 genauso, bevor Bahr seine berühmte Tutzinger Rede hielt, in der er die Kehrtwende der künftigen Protagonisten einer Neuen (westdeutschen) Ostpolitik von Konfrontation zu Kooperation aus den bisherigen Fehlleistungen westlicher Sicherheitspolitik herleitete. Außer den unmittelbar Beteiligten erahnte auch damals niemand den Paukenschlag …

 

* – Zur Vorgeschichte des Buches gehört, dass der General von seinem vorgesetzten Minister in London mit vorzeitigem Ruhestand abgestraft worden war, nachdem er 1968 seinem Unmut über die seiner Auffassung nach unzulänglichen Rüstungsanstrengungen Großbritanniens in einem umfänglichen Leserbrief an die Times öffentlich Luft gemacht hatte.

 

** – Von Zar Alexander II. 1867 an Washington verkauft.