26. Jahrgang | Nummer 21 | 9. Oktober 2023

Ein Held des Atomzeitalters

von Leo Ensel

Am 26. September 1983 stand die Welt unmittelbar vor einer Apokalypse. Der sowjetische Offizier Stanislaw Petrow, der im Raketenabwehrzentrum Dienst hatte, behielt die Nerven und handelte gegen den Befehl.

Er entschied für das Leben.

 

Hallo, Sie, der oder die Sie jetzt gerade den Anfang dieses Essays lesen!

Ja, genau Sie meine ich!

Ist Ihnen eigentlich klar, dass es überhaupt nicht selbstverständlich ist, dass Sie jetzt vor Ihrem Rechner sitzen oder auf Ihr Smartphone starren? Schauen Sie sich mal um! Alles, was Sie gerade um sich herum sehen, hören, tasten, riechen, schmecken – alle Menschen, alle Tiere, alle Pflanzen, alle Gegenstände, buchstäblich alles könnte längst in Schutt und Asche zerfallen sein oder gar nicht erst das Licht dieses Planeten erblickt haben! Und damit nicht genug. Es gäbe keine Zukunft mehr und auch die Vergangenheit wäre gestorben. Ein zweites Mal. Denn noch ist sie ja irgendwie da. Als erinnerte. Wo aber wäre sie, wenn es keine Erinnernden mehr gäbe?

Das ist doch alles unvorstellbar? Ja, ich weiß. Und genau hierin liegt das Problem!

Trotzdem. Genauer gesagt, deswegen! Schauen Sie sich nochmals um, halten Sie einen Moment lang inne und machen Sie sich klar: Nichts, buchstäblich nichts, was Sie jetzt gerade wahrnehmen, ist selbstverständlich! Stattdessen könnte sich bereits seit Jahrzehnten das Nichts hier ausgebreitet haben.

Dass dieses Leben, dass unser Alltag, den wir mit all seinen wichtigen Nichtigkeiten für so völlig selbstverständlich halten, dass wir niemals auch nur auf die Idee kommen, seine Existenz grundsätzlich infrage zu stellen; dass all dies seit genau 40 Jahren einfach bruchlos so weitergelaufen ist, das verdanken wir alle sehr wahrscheinlich der Nicht-Tat eines damals Tausende Kilometer entfernten Offiziers der Sowjetarmee: Einem gewissen Stanislaw Petrow!

Wie Sie vielleicht schon einmal mitbekommen haben, schrillten in der kältesten Phase des Kalten Krieges, in der Nacht vom 25. auf den 26. September 1983 um 0:15 Uhr Ortszeit im sowjetischen Raketenabwehrzentrum Serpuchow bei Moskau die Sirenen: Der Computer des satellitengestützten Systems meldete den Anflug einer amerikanischen Interkontinentalrakete. Erst einmal, dann zwei-, drei-, vier-, fünfmal hintereinander.

Der diensthabende Offizier Stanislaw Petrow hatte unter extremstem Zeitdruck – die Flugzeit von Interkontinentalraketen betrug eine halbe Stunde – eine Entscheidung über Leben und Tod von Millionen, gar Milliarden von Menschen zu treffen: Angriff oder Fehlalarm? Im ersten Falle hätte die Sowjetunion nach der (längst wieder aktuellen) Logik der Abschreckungstheorie – „Wer zuerst schießt, stirbt als zweiter!“ – den alles vernichtenden vermeintlichen „Gegenschlag“ ausgelöst. Petrow blieb trotz der wiederholten Alarmmeldungen bei seiner einmal getroffenen Entscheidung: Fehlalarm. – Und behielt recht!

Kommen Sie mit? Verstehen Sie wirklich, was da eigentlich passiert ist? Nein? Das geht nicht nur Ihnen, das geht uns allen so! Aber das nützt nichts. Versuchen Sie es wenigstens! Machen Sie sich die äußerst unangenehme Mühe und zählen Sie eins und eins zusammen!

Was also wäre geschehen, wenn der sowjetische Offizier damals in der Nacht vor 40 Jahren eine andere Entscheidung getroffen hätte? Oder wenn er nicht über die Folgen seines Handelns nachgedacht hätte? Oder wenn er sich lediglich als austauschbares Rädchen im Getriebe definiert, sich also damit trotz seiner fachlichen Kompetenz für moralisch inkompetent erklärt hätte?

Dann hätte die Sowjetunion in irriger Vorannahme de facto einen Atomkrieg gegen die USA begonnen, die dann ihrerseits 20 Minuten später den Gegenschlag Richtung Osten gestartet hätten! Und Europa, das potenzielle Schlachtfeld der Supermächte? Allein von der Nato waren damals in Westeuropa um die 7000 Atombomben mit der mehrfachen Sprengkraft einer Hiroshima-Bombe stationiert. (Die Zahl der Atombomben des Warschauer Paktes in Osteuropa ist mir unbekannt, aber es werden sicher nicht wenige gewesen sein.) Man stelle sich vor: Allein zu unserer „Verteidigung“ siebentausendmal ein mehrfaches Hiroshima auf Europa! Und die Atombomben der Gegenseite dazu. Und beide deutsche Staaten mittendrin. Kein Stein wäre hier auf dem anderen geblieben!

„Man stelle sich vor …“

Aber warum fällt es uns allen eigentlich so schwer, uns das vorzustellen? Und warum steht das Problem einer möglichen atomaren Selbstvernichtung der Menschheit geradezu im „Mittelpunkt unserer Vernachlässigung“? Weil es zu groß ist! Absolut zu groß.

Niemand hat sich über diesen Sachverhalt so scharfsinnige Gedanken gemacht und niemand hat diese bereits vor über einem halben Jahrhundert so präzise auf den Begriff gebracht, wie der Philosoph Günther Anders.

Seine klassische Formel lautet: „Wir können uns nicht mehr vorstellen, was wir herstellen und anstellen können!“ Betrauern können wir einen geliebten Toten. Vorstellen können wir uns vielleicht zehn Tote. Maximal. Umbringen können wir mit den heutigen Mitteln Hunderttausende auf einen Streich. Vor dem Gedanken der Apokalypse schließlich streikt die Seele! Der Gedanke bleibt nur ein Wort.

In diesem Sinne also sind wir kleiner als wir selbst: Unsere Vorstellungen bleiben weit hinter den Effekten zurück, die unsere Handlungen zeitigen können. Anders formuliert: Als Handelnde – genauer: als Zerstörer – haben wir eine fast gottgleiche Allmacht erlangt. Als Vorstellende sind wir Zwerge!

Aber handeln wir eigentlich überhaupt noch? Günther Anders bestreitet dies für die allermeisten der heutigen Tätigkeiten. Denn „tätig“ sind wir, erstens, in aller Regel als Zahnrädchen, eingebunden in ein gigantisches Getriebe, dessen Endeffekt wir nicht überschauen – oft gar nicht überschauen wollen! Wir handeln nicht, wir machen – frei dem Motto „Was ich nicht kann, geht mich nichts an! –, blind für das Endziel, einfach mit!

Gewissenhaftigkeit – sprich: die korrekte Erledigung der uns als Zahnrädchen übertragenen Aufgaben – ersetzt Gewissen, nämlich die Auseinandersetzung mit der Frage, ob das Endziel der uns einbindenden Maschinerie überhaupt ethisch verantwortbar ist.

Und da wir Zahnrädchen sind, gilt für unsere Wahrnehmung wie für unsere Seele die Devise: „Arbeitsteilung ist Gewissensteilung!“ Sollte zum Schluss doch etwas schiefgelaufen sein, waren es alle und damit – keiner! Günther Anders: „Schmutz geteilt durch Tausend = sauber!“ Je mehr Menschen involviert sind, desto leichter kann das Inferno eintreten.

Zweitens: Nehmen wir an, ein amerikanischer Offizier startet auf Befehl „von oben“ in einem Raketensilo in Montana eine Interkontinentalrakete Richtung Russland. Handelt es sich hierbei wirklich um eine Handlung? Oder löst er nicht tatsächlich nur noch eine längst vorinstallierte Maschinerie aus? Und was macht er eigentlich, wenn er etwas auslöst? Eigentlich macht er, obwohl der Effekt seines Tuns die Vernichtung, also das Nichts sein kann, so gut wie – nichts! Ob er eine Espressomaschine einschaltet oder Tausende Kilometer entfernt Hunderttausende Menschen in Leichen verwandelt, macht von der Attitüde her keinen Unterschied. Kurz: Auslösen ersetzt Handeln.

Schlimmer noch: Im Zeitalter hyperrealistischer Computersimulationen verschwimmt immer mehr die Grenze zwischen Schein und Sein! Die Simulation eines Raketenangriffes unterscheidet sich in nichts mehr von der tatsächlichen Durchführung und kann im einen wie im anderen Falle via Knopfdruck, gar Klick erledigt werden. (Mit zunehmenden Einsatz Künstlicher Intelligenz wird auch das sich eher früher als später erledigt haben …)

Und da Tat- und Leidensort Tausende Kilometer auseinander liegen, wird unser Offizier in Montana auch gar nicht direkt mit den Effekten seines Tuns konfrontiert werden. Ja, er muss noch nicht mal einen einzigen Russen hassen, um Hunderttausende von ihnen zu töten! (Dasselbe gilt selbstverständlich vice versa für seinen Kollegen bei Moskau.)

Die infernalische Regel also lautet: Hunderttausende Menschen durch das Auslösen einer entsprechenden Maschinerie – Interkontinentalrakete – zu töten, ist ungleich leichter, als einen einzigen Menschen „handmade“ ins Jenseits zu befördern! Sprich: Je größer das Verbrechen, desto leichter seine Durchführung!

Und noch ein dritter Umstand begünstigt die mögliche Apokalypse: Man sieht den Dingen ihre Bewandtnis nicht mehr an. Während man einem altmodischen Messer noch genau ansehen kann, was es anrichten kann, sehen „Gegenstände“ wie eine Atombombe – gesetzt der Fall, man bekäme sie tatsächlich zu Gesicht – tausendmal harmloser aus, als sie es tatsächlich sind. Der Effekt einer Atombombe ist im Vergleich zu ihrem Aussehen unvorstellbar – zu groß! Günther Anders hat dies auf die Formel „Die Dinge lügen!“ gebracht.

Welche Konsequenzen haben diese Einsichten für uns heute Lebende? Wenn die Wirklichkeit so fantastisch, so über-sinnlich geworden ist, dass sie mit unseren Sinnen nicht mehr zu erfassen ist, dann bleibt uns nur noch eine Möglichkeit, sie vielleicht doch noch ansatzweise einzuholen: Die Fantasie! Entsprechend lautet der heutige kategorische Imperativ laut Günther Anders: „Stelle Dir vor! Der Endeffekt Deines (Mit)-Tuns kann – Massenmord sein!“

Anders hat in sich in seinem Werk mit zwei Gestalten der Zeitgeschichte intensiv auseinandergesetzt, die er für charakteristisch für die heutige Epoche hielt: Den Schreibtischtäter und Judenmordorganisator Adolf Eichmann und den Hiroshimapiloten Claude Eatherly. Eichmann war für ihn die Symbolfigur des moralisch verkommenen Mitmachers, der sich mit der Ausrede, er habe ja „nur“ – und zwar auf Befehl – mit-gemacht, weigerte, jegliche persönliche Schuld an dem Menschheitsverbrechen einzuräumen. Eatherly, der die Bombe über Hiroshima zwar nicht ausgeklinkt, aber das für den Bomberpiloten notwendige „Go ahead!“-Zeichen gegeben hatte und dies später für den Rest seines Lebens bitterlich bereute, nachdem er erkannte, was er als Mit-Täter angerichtet hatte, war für Anders das positive Gegenbeispiel. Als Mensch, der zumindest im Nachhinein den Mut aufbrachte, sich seiner Mitschuld zu stellen.

Hätte Günther Anders zu Lebzeiten noch von der Millionen Menschen rettenden Un-Tat Stanislaw Petrows erfahren, hätte er mit Sicherheit ihm eine eigene Studie gewidmet und ihn im Vergleich zu Eichmann und Eatherly als das Vorbild, als die positive Symbolfigur unserer Epoche bezeichnet. Nämlich als den Mann, der den Mut hatte, durch die Anstrengung der Fantasie, seine mögliche Schuld rechtzeitig zu antizipieren und daraus die Konsequenz zu ziehen: Den Tod von Millionen, gar Milliarden von Menschen zu verhindern!

Denn dass Stanislaw Petrow genau dies – ohne Günther Anders zuvor gelesen zu haben – getan hat, das hat er Jahrzehnte später, als der Vorfall vom 26. September 1983 die Öffentlichkeit endlich erreicht hatte, selbst berichtet: „Ich wollte nicht schuld sein am Dritten Weltkrieg!“

Wie viele „Petrows“ es im Kalten Krieg noch gegeben haben mag? Wir werden es vermutlich nie erfahren. Die Menschheit hat jedenfalls unverschämt viel Glück gehabt! Wenn es überhaupt eine Lehre aus allem geben kann, dann die: Es gibt Risiken, die niemals eingegangen werden dürfen! Es kann und darf nicht sein, dass das Schicksal der ganzen Welt zwanzig Minuten lang in der Hand eines einzigen Menschen liegt!

Aber wer wird uns das nächste Mal retten, wenn sich der neue Kalte Krieg, in dem wir uns global längst wieder befinden, noch weiter zuspitzt? Und werden es dann überhaupt noch Menschen sein, die unter extremstem Zeitdruck die Entscheidung über Sein oder Nichtsein des gesamten Planeten treffen?

Oder ein via Künstliche Intelligenz gesteuerter von einem Computer gesteuerter Computer?

 

Berliner Zeitung, 26.09.2023. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.