22. Jahrgang | Nummer 24 | 25. November 2019

Dead Hand 2.0

von Sarcasticus

Eine der bizarrsten, makabersten und sicherheitspolitisch sinnlosesten Hervorbringungen der atomaren Konfrontation der Supermächte während des Kalten Krieges war ein automatisiertes sowjetisches Atomwaffen-Führungssystem namens Perimetr, inoffiziell Mjortwaja ruka (tote Hand, anglisiert: Dead Hand) genannt. Eine ziemlich treffende Metapher – wie auch eine weitere gebräuchliche Bezeichnung: Weltuntergangsmaschine (Doomsday Machine).
In Betrieb genommen wurde das System Mitte der 1980er Jahre. Der historische Hintergrund war – grob umrissen – folgender.
Am Übergang zu den 1980er Jahren befasste sich die US-amerikanische Strategic Community wieder einmal mit der Frage, wie ein Nuklearkrieg gegen die Sowjetunion geführt werden müsse, damit Washington zu vertretbaren Kosten daraus als Sieger hervorginge. Im Sommer 1980 steuerten zwei Nachwuchsstrategen, Colin S. Gray und Keith Payne, in dem renommierten Magazin Foreign Policy folgende Überlegungen zu dieser Debatte bei: „Wenn die atomare Macht der USA dazu dienen soll, die außenpolitischen Ziele der USA zu unterstützen, dann müssen die Vereinigten Staaten in der Lage sein, rational Atomkrieg zu führen.“ Die Autoren plädierten für die „Freiheit zu einem offensiven Atomschlag“ und forderten solche Nuklearstreitkräfte, „die einen Präsidenten befähigen, den strategischen Ersteinsatz von Atomwaffen vorzunehmen“. Insbesondere „sollten die Vereinigten Staaten in der Lage sein, die Schlüsselfiguren der Führung (der UdSSR – S.), ihre Kommunikationsmittel und -wege und einige ihrer innenpolitischen Kontrollinstrumente zu zerstören“. Das zielte auf – so der Terminus technicus im westlichen Fachjargon – Decapitation (Enthauptung), wofür die Sowjetunion „mit ihrer mächtigen Überzentralisierung der Macht, zusammengefasst in der riesigen Bürokratie in Moskau, […] höchst verwundbar […] sein [dürfte]“.
Der Essay von Gray und Payne trug den Titel „Victory Is Possible“.
Knapp zwei Jahre später hatte dieses Konstrukt Eingang in die offizielle „Fiscal Year 1984-1988 Defense Guidance“ der Reagan-Administration gefunden – in Gestalt der Orientierung auf „Enthauptung, womit Schläge gegen die politische und militärische Führung der Sowjetunion sowie gegen Kommunikationslinien gemeint“ waren, wie die New York Times seinerzeit berichtete.
Parallel dazu liefen in den USA rüstungstechnologische Entwicklungen, die für derartige Überlegungen geeignete Hardware lieferten: So hatte sich seit Anfang der 1970er Jahre durch die Einführung von Mehrfachsprengköpfen mit voneinander unabhängiger Zielprogrammierung (MIRV) die Anzahl interkontinental einsetzbarer atomarer Gefechtsköpfe stark erhöht. Zugleich hatten land- und später auch seegestützte ballistische Trägerraketen – unter anderem durch die sogenannte MARV-Technologie (Manövrierbarkeit von Gefechtsköpfen im Endanflug) – nahezu Punktzielfähigkeit erreicht und waren damit in der Lage, auch besonders geschützte Ziele von strategischer Bedeutung (wie unterirdische gehärtete Kommandozentralen und ebensolche Raketensilos) auszuschalten. Überdies sah der NATO-Doppelbeschluss von 1979 die Stationierung von Pershing-II-Raketen (mit MARV-Gefechtsköpfen) in Westeuropa vor, die aufgrund ihrer Treffsicherheit und einer Vorwarnzeit von lediglich fünf bis 15 Minuten als besonders geeignet für Überraschungsschläge gegen strategische Ziele im europäischen Teil der Sowjetunion galten. Die Aufstellung der Pershing-II erfolgte ab 1983.
Bereits 1981 hatte Eugene Rostow im Zuge seiner Berufung zum Leiter der US-Rüstungskontroll- und Abrüstungsbehörde im US-Senat zu einem thermonuklearen Schlagabtausch mit Moskau ausgeführt: „Einige Schätzungen gehen davon aus, dass es auf der einen Seite 10 Millionen Opfer und auf der anderen100 Millionen geben wird. Aber das ist nicht die gesamte Bevölkerung.“ Und im März 1983 hatte US-Präsident Reagan sein SDI-Programm (Strategic Defense Initiative) für eine weltraumgestützte Raketenabwehr verkündet, mit der sowjetische ballistische Trägersysteme von den USA ferngehalten werden sollten. Als Synonym für SDI bürgerte sich rasch der Begriff Star Wars ein.
Bei der Führung in Moskau verstärkten diese und weitere Entwicklungen die Befürchtung, dass führende Kreise in den USA bereit sein könnten, einen Atomkrieg tatsächlich zu führen, weil sie annahmen, das bis dato geltende Paradigma der gegenseitig gesicherten Vernichtung aushebeln zu können, dem zufolge ein atomarer Angriff (Erstschlag) als sinnlos galt, weil der Gegenangriff (Zweitschlag) zu vergleichbaren Vernichtungswirkungen auf der eigenen Seite geführt hätte. Nun kalkulierte die Führung in Moskau damit, dass sie im Ergebnis eines amerikanischen Enthauptungs-Erstschlages nicht mehr in der Lage sein könnte, einen Zweitschlag auszulösen.
Genau für dieses Dilemma sollte Perimetr die Lösung sein.
Der Sinn des Systems, so erläuterte schon vor Jahren Waleri Jarynitsch, ein russischer Militärveteran, der am Aufbau von Perimetr beteiligt gewesen war, habe darin bestanden, eine automatische sowjetische Reaktion auf einen amerikanischen Atomschlag zu gewährleisten. Und zwar selbst dann wenn die USA die UdSSR mit einem Überraschungsangriff gelähmt hätten – wenn der Kreml in die Luft gejagt, das Verteidigungsministerium ausgeschaltet, das Kommunikationsnetz unterbrochen und „alle mit Sternen auf den Schultern“ getötet worden wären, wie Jarynitsch aufzählte. Dann sollte ein Netz von bodenbasierten seismischen, Strahlungs- und Luftdrucksensoren prüfen, ob ein Atomangriff erfolgt sei und ob noch ein Kommunikationskanal zum sowjetischen Generalstab existierte. Bei entsprechenden Befunden sollte der Gegenangriff maschinell gestartet werden, indem zunächst Befehlsraketen – verborgen in gehärteten Silos, die dem massiven Druck und elektromagnetischen Impuls einer Nuklearexplosion standhalten konnten – gezündet würden, um im Fluge codierte Angriffsbefehle an die sowjetischen Offensivsysteme (Interkontinentalraketen und strategische Bomber) zu übermitteln, die den ersten Angriff überlebt hatten …
Perimetr war im Übrigen nicht darauf ausgelegt, als permanentes Damoklesschwert in der Auseinandersetzung mit den USA zu fungieren. Es sollte vielmehr in Krisensituation jeweils „scharf geschaltet“ werden.
Um sich auszumalen, was im Falle einer Fehlfunktion in einem vollautomatischen System ohne menschliche Eingriffsmöglichkeiten hätte passieren können, muss man sich nur an den 26. September 1983 erinnern. Ein sowjetisches Frühwarnsystem hatte den Start amerikanischer Raketen angezeigt, doch der Diensthabende, Oberst Stanislaw Petrow, verletzte die für einen solchen Fall geltende Dienstvorschrift und verzögerte die Einleitung des Gegenschlages um jene entscheidenden 15 Minuten, deren es bedurfte, um ein technisches Versagen im eigenen System festzustellen. (Petrow hatte damit womöglich den Dritten Weltkrieg verhindert, doch für seine Insubordination wurde er anschließend disziplinarisch gemaßregelt.) Ein automatisches System anstelle von Petrow hätte seine einprogrammierten Abläufe abgespult …
Das Aberwitzigste an Perimetr war jedoch der Sachverhalt, dass Moskau das System strikt geheim hielt. So hätte das System zur Abschreckung, also Verhinderung jenes befürchteten Erstschlages, hätten ihn die USA denn je ernsthaft ins Kalkül gezogen, absolut nichts beitragen können – einfach infolge Unkenntnis beim potenziellen Angreifer. In der Theorie und Praxis der Abschreckung liegt die conditio sine qua non ihres Funktionierens ja gerade darin, dass dem möglichen Angreifer nachdrücklich vor Augen geführt wird, mit welcher Antwort er zu rechnen hat.
Was aber sollen all diese ollen Kamellen aus einer längst vergangenen Epoche eigentlich heute noch, mag man sich an dieser Stelle fragen.
Nun ja, der Kalte Krieg zwischen dem Westen und Russland ist seit einigen Jahren wieder offen im Gange. Und Perimetr ist nie außer Dienst gestellt worden. Ende 2018 sprach Generaloberst Wiktor Jessin, von 1994 bis 1996 Chef der russischen Raketentruppen strategischer Bestimmung, davon, dass Perimetr verbessert worden und in Betrieb sei. Vor einigen Monaten forderte Konstantin Siwkow, Vizepräsident für Informationspolitik in der Russischen Akademie für das Artilleriewesen, in einem Beitrag für das russische Magazin Kriegsindustriekurier eine weitere Modernisierung des Systems und verwies dabei auf dessen Kommunikationsdefizit in Bezug auf die Übermittlung von Angriffsbefehlen an getauchte nukleare Träger-U-Boote.
Und in den USA gibt es inzwischen Stimmen, die ein amerikanisches Dead-hand-System fordern – „ein automatisiertes strategisches Reaktionssystem auf der Grundlage künstlicher Intelligenz“, wie Adam Lowther und Curtis McGiffin kürzlich in einem Beitrag für War on the Rocks (National Security. For Insiders. By Insiders) formulierten. Beide Autoren gelten als ausgewiesene Experten in Sachen nuklearer Abschreckung. Ihr zentrales Argument: Künftig würden atomare Hyperschallwaffen nur noch wenige Minuten bis zum Einschlag benötigen. Da gäbe es keinen Spielraum mehr, um vom Präsidenten entscheiden zu lassen, ob ein atomarer Gegenschlag erfolgen soll. Also müsse man auf künstliche Intelligenz setzen und an diese auch die Entscheidung über den Einsatz von Atomwaffen delegieren.
Russland forciert bekanntlich seit längerem die Entwicklung von Hyperschallwaffen. Als asymmetrische Antwort auf die US-Anstrengungen zum Aufbau weiträumig arbeitender Raketenabwehrsysteme, worüber im Blättchen wiederholt berichtet worden ist.