22. Jahrgang | Nummer 11 | 27. Mai 2019

Die Russen kommen.
Mal wieder?
Nicht?

von Sarcasticus

Ich glaube nicht, dass die Russen jemals die Absicht hatten, den Westen anzugreifen. Sie sind einfach zu vorsichtig. Wenn ich an ihrer Stelle gewesen wäre, hätte ich viel unternehmungslustiger gehandelt, zum Beispiel während der Berlin-Krise. Ich hätte vielleicht Dänemark eigenommen […], weil es mit einer billigen Luftlandeoperation und mit sehr wenig Blutvergießen eingenommen werden könnte. Das Unternehmen würde […] den Russen ein ausgezeichnetes Tauschobjekt verschaffen: die Ostseeausgänge.

Sir Basil Liddell Hart
im Interview
mit dem
Stern (41/1967)

Wer schon immer wissen wollte, was eine richtige Bündnisführungsmacht eigentlich so wert ist – wert in Heller und Pfennig –, dem ist jetzt Bescheid gegeben worden. Das International Institute for Strategic Studies (IISS) in London hat es in einer Studie – angeregt und mitfinanziert durch das Auswärtige Amt – ausgerechnet: Sollten die USA aus dem Nordatlantikpakt austreten, dann müsste die Rudiment-NATO bis zu 357 Milliarden Dollar zusätzlich in ihr Militär investieren, um für den Fall eines begrenzten Landkrieges mit Russland einigermaßen gewappnet zu sein.
357 Milliarden. Das klingt für sich genommen wie eine gewaltige Summe, ist aber nicht wirklich sehr viel mehr als die Hälfte des Pentagon-Budgets fürs nächste Jahr. Doch bevor dies jetzt als quasi gute Botschaft missverstanden wird: Die Londoner Summe ist allein für Hardware vorgesehen. Die Kosten für den Unterhalt des Materials, für Personal und Ausbildung kämen noch dazu. Und das wäre wahrscheinlich längst noch nicht das Ende der Fahnenstange. Doch dazu später mehr.
Die Londoner haben sich im Hinblick auf die im Falle eines Washingtoner Valets fehlende Hardware dankenswerter Weise auch gleich eine mögliche Einkaufsliste zusammengestellt. Deren größter Posten besteht in bis zu 90 Luft- und Raketenabwehrbatterien vom US-Typ „Patriot“ für knapp 80 Milliarden Dollar. Schwere Kampfpanzer, Kriegsschiffe und Kampfflugzeuge sind weitere Großposten. (Die Studie ist im Internet frei zugänglich – hier klicken.)
Man mag sich, wenn man immer noch nicht alles, was gegen Moskau zielt, a priori gelungen findet, fragen, wie die Kollegen im IISS auf diese konkreten Angaben gekommen sind, aber auch das ist in der Studie nachlesbar: auf der Grundlage eines Gedankenspiels.
Und das geht in etwa so: Nach dem NATO-Austritt der USA häufen sich militärische Zwischenfälle in der Ostsee – zwischen Russland, Polen und Litauen. In der Folge kommen in den beiden NATO-Staaten nationalistische Regierungen ans Ruder. (Nur wer mit dem aktuellen Polen nicht so vertraut ist, kann meinen, dass es dafür in Warschau noch eines Regierungswechsels bedürfte – S.) Die üben gemeinsam offensive Luftoperationen. (Dafür verfügt die litauische Luftwaffe praktisch über kein geeignetes Fluggerät, wie der jährlichen Military Balance des IISS zu entnehmen ist; aber das muss ein Gedankenspiel ja nicht stören – S.) Russland fühlt sich provoziert, setzt Luftlandetruppen in Litauen ab, greift über Weißrussland mit Bodentruppen an, überrennt nicht nur die litauischen Streitkräfte (12.000 Mann – S.), sondern auch die von der Bundeswehr in Litauen geführte multinationale NATO-Brigade (1200 Mann aus Belgien, Deutschland, Frankreich, Kroatien, Luxemburg, den Niederlanden und Norwegen – S.). Dann greift Polen ein …
Dass Russland dies von seinen militärischen Kapazitäten her ohne weiteres könnte, steht außer Zweifel, weil Moskau, wie es Karl-Heinz Kamp – der ist Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, der muss es wissen – jüngst fein-analytisch formulierte, „seine Streitkräfte regional invasionsfähig gemacht“ hat.
So weit, so bedrohlich.
Nähme man Szenarien wie das gerade skizzierte jedoch tatsächlich ernst, dann genügte es, um einen Überfall Russlands zu verhindern, natürlich nicht, die erwähnten 357 Milliarden für Hardware plus laufende Kosten für Unterhalt und Personal einfach nur auszugeben und die damit aufgestellten militärischen Kapazitäten in ihren Heimatländern von Kanada über Portugal bis sonst wohin vorzuhalten. Denn, wie Elbridge Colby und Walter Slocombe unlängst in einem Gastbeitrag in der FAZ unter der Überschrift „Eine Landnahme durch Moskau verhindern“ völlig zutreffend feststellt haben: „Das Kernproblem ist die Tatsache, dass Russland mit den meisten Streitkräften in das Baltikum einmarschieren und vor dem Eintreffen einer Gegenreaktion der Nato vollendete Tatsachen schaffen könnte.“ Daher müsste, folgte man Evidenz basierter militärischer Logik, ein angemessenes Kontingent des Land-, Luft- und Seekriegspotenzials einer um die USA verminderten NATO sehr nahe des potenziellen Konfliktraumes – besser noch in demselben – disloziert werden.
Was aber hieße in diesem Kontext angemessen? Da erinnere man sich hilfsweise an die militärische Kräftekonzentration auf dem Gebiet der beiden deutschen Staaten während des Kalten Krieges.
Eine solche wiederum erforderte – heute wie damals – eine entsprechende Infrastruktur, die alles Mögliche sein mag, bloß nicht billig. (Zur Erinnerung: 2019 verausgaben die USA 6,4 Milliarden Dollar im Rahmen ihrer bereits seit fünf Jahren laufenden sogenannten European Deterrence Initiative, um Voraussetzungen für die rasche Rückverlegung amerikanischer Kampftruppen nach Zentral- und Osteuropa zu schaffen – in einem bisher allerdings höchst überschaubaren Umfang, was der aktuellen Ausgabendimension im Hinblick auf ein wirkliches regionales Gegengewicht gegenüber Moskau einen eher unrepräsentativen Charakter verleihen dürfte.)
Auch diesen Kostenaspekt haben die Londoner Studienverfasser außer Acht gelassen. Ob das an deren Intention lag? Die bestand nämlich, wie DER SPIEGEL zu berichten wusste, nicht darin, „die Wahrscheinlichkeit eines solchen (nämlich ihres – S.) Gedankenspiels zu überprüfen. Sie brauchten Szenarien, um einen konkreten militärischen Bedarf und damit […] die Kosten berechnen zu können.“
Das klingt freilich eher nach Beauftragung durch die Rüstungswirtschaft, denn nach Anregung durch das Auswärtige Amt.
Doch sei es, wie es sei: Die Londoner entlassen den Leser ihres Papiers wenigstens nicht ungetröstet: „Es geht nicht darum nachzuweisen, dass die Europäer strukturell unfähig wären, sich selbst zu verteidigen“, resümieren sie. Das militärische Defizit sei „in einem Zeitraum von ein bis zwei Jahrzehnten“ lösbar.
Dann wollen wir mal hoffen, dass Moskau nach einem NATO-Austritt der USA, mit dem die Londoner übrigens schon für Ende 2021 gedankenspielen, von seiner regionalen Interventionsfähigkeit so lange keinen Gebrauch macht, bis NATO-Europa plus Kanada ihr militärisches Defizit ausgebügelt hat …

*

Man könnte allerdings in der Zwischenzeit Überlegungen zur weiteren Entwicklung des Verhältnisses zwischen der NATO und Russland auch einfach mal ein gänzlich anderes Gedankenspiel zugrunde legen. Horst Teltschick, Experte mit jahrzehntelanger Erfahrung im Umgang mit den Russen und Kohls engster außen- und sicherheitspolitischer Berater im Prozess der Verhandlungen mit Moskau über die deutsch-deutsche Vereinigung, hat zum Beispiel folgendes formuliert: „Was wenn Moskaus Interessen im Kern defensiv sind, wenn es der russischen Führung tatsächlich darum geht, sich gegenüber einer wahrgenommenen Expansion des Westens zu behaupten und russische Interessen zu wahren? Dann würde eine Konfrontationsstrategie die Ängste und Vorannahmen nur bestätigen und in eine vermeidbare Eskalationsspirale führen. Eine auf Interessenausgleich und Rüstungskontrolle setzende Politik hätte in diesem Fall sehr viel bessere Aussichten.“
Ist der Mann einfach zu lange aus dem Geschäft?
Wohl eher im Gegenteil.
Während des gesamten Kalten Krieges war das Menetekel „Die Russen kommen!“ der Treibriemen für immer währende Hochrüstung, für Entspannungs- und Vertragsverweigerung gegenüber dem Osten sowie für aggressive Angst-Propaganda. (Das galt im Osten bis 1985 spiegelbildlich nicht minder.) In der Bundesrepublik war das Klischee von der auf der Lauer liegenden Sowjetunion überdies ein gern gebrauchtes Stereotyp für die Forderung nach eigener Atombewaffnung. So fragte Ex-Bundesjustizminister Richard Jaeger auf einer Wehrkundetagung der CSU im Dezember 1967: „Was geschähe, wenn die Russen an einem Samstag oder Sonntag aus einem Manöver an der Zonengrenze heraus einen Angriff auf die Bundesrepublik unternehmen?“ Natürlich die Apokalypse: „In vier oder fünf Tagen wäre unser Schicksal besiegelt, wenn wir keine Atomwaffen hätten.“ Wenige Monate später erfolgte bekanntlich der sowjetische Einmarsch zur Niederschlagung des Prager Frühlings. „Aber der 21. August 1968“, so Helmut Wolfgang Kahn in seinem 1969 erschienenen Buch „Die Russen kommen nicht“, „war kein Samstag oder Sonntag, sondern ein Mittwoch. Das Schicksal der Bundesrepublik blieb, auch ohne eigene Atomwaffen, unbesiegelt. Die Russen kamen wieder einmal nicht. Sie wollten offenbar nicht.“
Und sie kamen im Kalten Krieg schlussendlich – nie.
Warum die Russen jedoch heute oder in absehbarer Zukunft wollen sollten, hielten die Londoner für keiner Hinterfragung wert, denn ihnen ging es ja lediglich um ein Szenarium für „einen konkreten militärischen Bedarf“ …