Über den großrussischen Chauvinismus
Man sagt die Einheit des Apparates sei nötig gewesen. Woher aber stammten diese Behauptungen? Doch wohl von demselben Apparat, den wir, wie ich schon in einer früheren Aufzeichnung meines Tagebuches feststellte, vom Zarismus übernommen und nur ganz leicht mit Sowjetöl gesalbt haben. […] Unter diesen Umständen ist es ganz natürlich, daß sich die „Freiheit des Austritts aus der Union“, mit der wir uns rechtfertigen, als ein wertloser Fetzen Papier herausstellen wird, der völlig ungeeignet ist, die nichtrusischen Einwohner Rußlands vor der Invasion jenes echten Russen zu schützen, des großrussischen Chauvinisten, ja im Grunde Schurken und Gewalttäters, wie es der typische russische Bürokrat ist. Kein Zweifel, daß der verschwindende Prozentsatz sowjetischer und sowjetisierter Arbeiter in diesem Meer des chauvinistischen großrussischen Packs ertrinken wird, wie die Fliege in der Milch.
[…]
Man muß unterscheiden zwischen dem Nationalismus einer unterdrückenden Nation und dem Nationalismus einer unterdrückten Nation, zwischen dem Nationalismus einer großen Nation und dem Nationalismus einer kleinen Nation.
Was die zweite Art von Nationalismus betrifft, so haben wir Angehörigen einer großen Nation uns in der geschichtlichen Praxis fast immer einer Unzahl von Gewalttaten schuldig gemacht, ja mehr als das, unmerklich für uns selbst fügen wir den anderen eine Unzahl von Gewalttaten und Beleidigungen zu […]“.
W. I. Lenin, Zur Frage der Nationalitäten oder der „Autonomisierung“, Dezember 1922.
Ist auch ein Jude unser Nächster?
Das scheinen nicht alle Christen zu glauben, obgleich einst ein Samariter es glaubte.
Ein Jude bekam auf der Straße, nahe am Hause eines wohlhabenden Christen, einen Anfall von Steckfluß. Solchen Anfällen war er öfter ausgesetzt gewesen; aber noch immer durch Hülfe, die ihm zu rechter Zeit geleistet worden, gerettet worden. Auch diesmal hätte er wahrscheinlich können gerettet werden. Und was zerstörte diese Wahrscheinlichkeit? – Er ward von herbeieilenden Menschen in das Haus gebracht, vor dem er niedergesunken war. Als er hier nun auf dem kalten finstern Flur lag, itzt noch finsterer durch die umherstehende Menge des hinzugelaufenen Volkes gemacht, als ein Arzt und später ein Wundarzt kamen und alle Hülfe versprachen und Hoffnung zur abermaligen Rettung machten, wenn dem Kranken nur ein lichtvolles warmes Zimmer verstattet würde, als alle Anwesende die gegenwärtige Hausherrschaft um ein Zimmer im Hause für den Kranken baten, als die herzugeeilte Gattin – Mutter mehrerer Kinder – über ihren sterbenden Mann voll Verzweiflung schluchzte und lauf um Hülfe und Menschlichkeit aufschrie, als er, mitten in diesem Getümmel, und ohne Pflege, und ohne Bequemlichkeit mit dem Tode rang: da waren die christlichen Besitzer des Hauses hartherzig genug, durchaus das Hereinbringen des sterbenden Juden in eines ihrer Wohnzimmer abzuschlagen.
Und nur, weil es ein Jude war! Nicht aus Unmenschlichkeit überhaupt; denn sicherlich hätten sie jedem andern Bürger der Stadt diese kleine Hülfe, bei der sie selbst nichts tun durften, bewilligt. Auch erklärten sie sich immer nur gegen den Juden.Und dennoch auch sicherlich nicht aus übertreibener Liebe zum Heiland, oder fanatischer Religionswut. Sie leben sonst ganz bürgerlich vertragsam mit jedem Unbeschnittenen und werden nie zu raschen Handlungen gegen einen Unchristen entflammt. Es geschah aus reiner Geschöpfsverachtung gegen einen Menschen, darum, weil er ein Jude ist; aus dem sich noch immer erhaltenden angeborenen Haß, aus der mit der Muttermilch eingesogenen, keineswegs sich auf Religion gründenden Leidenschaft gegen alles was Jude heißt. – –
Manche der Anwesenden, sowohl Christen als Juden, redeten zu ihnen laut und stark von Menschen- und Bürger- und Christenpflicht; einige erboten sich zur Ersetzung jeglicher etwa möglichen Beschädigung; manche ließen auch den allgemein verbreiteten Unwillen laut genug ertönen. Alles ohne Wirkung bei der Hausherrschaft! Der Mann und die Frau standen auf der Treppe, sahen und hörten alles, und blieben hartnäckig bei ihrer Weigerung, und riefen ihr Nein über dem sterbenden Menschen zu dem lautrauschenden Volke herunter. – Und er starb.
Dies geschah leider mitten in Berlin im Aprilmonat des Jahres 1785.
Die Anzahl polizeilich erfasster antisemitisch motivierter Delikte in Deutschland stieg im letzten Jahrzehnt von 1268 (2010) auf 2351 Fälle (2020). Im selben Zeitraum verdoppelte sich die Zahl der darin enthaltenen Gewaltdelikte. Von 2020 zu 2021 stieg die Zahl antisemitischer Delikte auf 3027.
Brody
Nur wenigen wird der Name dieser Stadt etwas sagen. Sie liegt keine 100 Kilometer nordwestlich von Lwiw, hatte 2001 etwas über 23.000 Einwohner und spielt wirtschaftlich eigentlich nur eine Rolle als Standort zweier Piplinestationen, darunter der einst als unvergängliches Symbol der Völkerfreundschaft hoch gefeierten Drushba-Trasse. Das ist vorbei.
Literaturfreunde allerdings werden Brody kennen. Sie ist ein wichtiger Schauplatz in Isaak Babels Roman „Die Reiterarmee“. Und Brody ist der literarische Ort von Joseph Roths Erzählung „Der Leviathan“ und seines Romanes „Radetzkymarsch“. Das ist kein Zufall, Roth wurde 1894 in dieser Stadt geboren. 1937 hatte er Brody ein letztes Mal – unter Begleitung von Irmgard Keun – besucht. Jetzt hat Keiron Pim bei Granta Books die erste englischsprachige Biographie über ihn veröffentlicht: „Endless Flight. The Life of Joseph Roth“. Maria Sterkl schrieb für DIE ZEIT eine warmherzige Besprechung des Buches. Am Schluss ihres Textes macht sie darauf aufmerksam, dass Pim eine lakonische Fußnote bei der Erwähnung Brodys anbrachte: „Gebäudebeschreibungen und Bevölkerungszahlen könnten zum Erscheinungszeitpunkt veraltet sein.“
Der Autor bezieht sich auf die russischen Terrorangriffe, denen zum Zeitpunkt des Erscheinens seines Buches auch Brody ausgesetzt war – und immer noch ist. Brody verfügt über „kritische Infrastruktur“. Angesichts der Art russischen Kriegsführung ist es wohl nicht unwahrscheinlich, dass Brody binnen eines Jahrhunderts zum dritten Mal der versuchten Vernichtung anheimfällt. Nach der Zerstörung im Interventions- und Bürgerkrieg Anfang der 1920er wurde die Stadt im Sommer 1944 wiederum in Schutt und Asche gelegt. Zuvor hatten deutsche Truppen die jüdischen Einwohner Brodys ermordet.
Das Kriegsproblem
Palma Kunkel naht die Frage,
was zum Kriegsproblem sie sage.
Längst im Innersten entschieden,
wünscht sie allen Menschen Frieden.
(Zwar zum Unterschied von vielen
freilich nur: mit großen Zielen.)
Doch sie weiß zugleich: auf Erden
sind die Menschen noch im Werden.
Ringsum ungeheure Horden
wollen noch das große Morden,
sind noch ganz durchleidenschaftet,
noch vom Geist zu schwach durchkraftet,
müssen erst noch lange reifen,
eh sie Gott und sich begreifen.
Von „links“ nichts Neues?
„Wir stehen also vor einer formellen und vollständigen Spaltung der RSDAP [Russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei – d.Red.]. Die einen, die Leninisten, schließen aus eigener Machtvollkommenheit und nach Lust und Laune aus der Partei aus, wen auch immer sie ausschließen wollen. Die anderen stellen mit einem extremen Opportunismus – verbunden mit Liquidatorentum – im eigenen Fraktionsinteresse die einstimmig gefassten Beschlüsse der Partei auf den Kopf, pfeifen auf die organisatorischen Vereinbarungen und zerstören skrupellos und ohne Bedenken die Parteieinheit.“ Diese Wertung findet sich in einem Artikel unter dem Titel „Das Zerbrechen der Einheit der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei“, den Rosa Luxemburg anonym im Juli 1912 in Czerwony Sztandar, der Zeitschrift der Sozialdemokratie des Königreiches Polen und Litauen (SDKPiL) veröffentlichte. Die SDKPiL war seit 1906 eine Gliederung der RSDAP, hatte diese Partei aber bereits 1911 wieder verlassen. Jörn Schütrumpf hat den Aufsatz jetzt erstmals in deutscher Übersetzung für die Rosa-Luxemburg-Stiftung herausgegeben. Im Original erschien er auf Polnisch. Der Text ist allerdings nur online verfügbar. Holger Politt hatte diese Geschichte vor einiger Zeit aufgearbeitet. Schütrumpf schildert die Vorgeschichte dieses bitteren Befundes der Luxemburg – und beschreibt vor allem Lenins rabiat-bösartige Reaktion darauf: „Darauf antwortete Lenin […] in der ihm eigenen Art, nämlich gar nicht, zumindest nicht öffentlich, sondern stattdessen mit ihm keineswegs fremden Intrigen. Er war im Fach Politik halt ein Vollblut, in dem die Denkerin, sowohl zu ihrem Schaden als auch zu ihrer Ehre, letzten Endes nicht so zu brillieren verstand.“
110 Jahre nach seiner Veröffentlichung kommt dem Beobachter der jüngsten linken Parteiengeschichte das alles so vertraut vor. Selbst hinsichtlich des politischen Umfeldes scheint ein Déjà-vu auf. Rosa Luxemburgs Aufsatz erschien wenige Jahre nach einer krachend gescheiterten Revolution, auf die die seinerzeitige (russische) Linke mitnichten vorbereitet war. Und zwei Jahre nach seinem Erscheinen stand die Welt erstmals in einem bislang nicht gekannten Ausmaße in Flammen.
Man sollte annehmen, es wäre endlich die Zeit, Schlüsse aus den Kardinalfehlern der Vergangenheit zu ziehen. Nicht nur Parteimitgliedern der Linkspartei ist der Text dringend ans Herz zu legen …
Aufgelesen: „LL-Gedenken“
Die Linke liebt an Rosa Luxemburg die Leiche, aber nicht die Lektüre.
Karsten Krampitz, Wo wart ihr in Lützerath?
Berliner Justizgeschichte
Im kriegszerstörten Berlin war der überaus notwendige Aufbau der Gerichtsbarkeit war zum 1. Juni 1945 abgeschlossen. In der ausgebluteten, ausgehungerten, zerbombten Stadt wurde geplündert, geraubt und gemordet. Ernst Reuß, promovierter Jurist und freiberuflicher Autor, hat über diese schwierige Nachkriegszeit ein sehr faktenreiches, hervorragend recherchiertes und spannendes Buch geschrieben. Entlang von Kriminalfällen beschreibt er den Neuaufbau der Berliner Justiz und stellt sogleich den Machtkampf zwischen den einstmals Alliierten im Kalten Krieg dar.
Historisch interessant die Ausführungen zu Arthur Kanger, dem ersten neuen Stadtgerichtspräsidenten; später mit Wirkung vom 29. September 1945 durch die Alliierte Kommandantur für drei Monate als Präsident des Kammergerichts in Berlin eingesetzt. Er war kein Jurist, sondern ein Pharmazieprofessor, ein Gerichtschemiker aus dem Baltikum, der auch als Hochschullehrer in Odessa wirkte und somit schon etwas Vages mit dem Gerichtswesen zu tun gehabt hatte. Er sprach natürlich russisch, was der Hauptgrund für seine Ernennung gewesen sein dürfte. Kanger bemühte sich auch aus der Funktion als Präsident des Kammergerichts heraus um die Schaffung einer universitären Kriminalistik an der Berliner Universität. Bereits am 27. Februar 1946 beantragte der Dekan der Juristischen Fakultät einen Lehrauftrag für Kriminalistik, dessen Bewilligung Rektor Stroux schon einen Tag später bekanntgab. Bereits zur Jahreswende 1946/1947 erhielt er eine Professur mit Lehrauftrag für Kriminalpsychologie und Kriminalistik und wurde so zum Begründer der Kriminalistik an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Die Justiz blieb jedenfalls von Betrügern und Hochstaplern nicht verschont, die das damalige Durcheinander unmittelbar nach dem Krieg für sich zu nutzen wussten. „Außer einem falschen Staatsanwalt hatte das Amtsgericht Berlin-Mitte mit Amtsgerichtsrat Josef Franke auch einen falschen Amtsrichter zu beklagen“, lesen wir. Ein selbstsicheres, glaubwürdiges Auftreten beim Amtsgerichtsdirektor genügte oftmals, um sich als „Jurist“ auszuweisen. Der vielfach Vorbestrafte flog auf und wurde wegen Betrugs, Abgabe falscher eidesstattlicher Versicherungen, Begünstigung im Amt und Fragebogenfälschung festgenommen. Er war 14-mal vorbestraft und hatte insgesamt zirka acht Jahre im Zuchthaus und Gefängnis verbüßt.
Die detailliert geschilderten Nachkriegsverbrechen (zum Beispiel die Fälle des Frauenmörders Willi Kimmritz, der Giftmörderin Elisabeth Kusian oder der Gladow-Bande) wirken heute schon wie Legenden aus fernen Tagen. Einem Taucher gleich steigt Ernst Reuß zur Kriminalgeschichte hinab und macht damit den Lesern ein juristisch-kriminalistisches Zeitgeschehen zugänglich.
Ernst Reuß: Endzeit und Neubeginn. Berliner Nachkriegsgeschichten. Metropol Verlag. Berlin 2022, 282 Seiten, 24,00 Euro.
Film ab
„Warten auf Godot“ – Becketts Parabel auf die Absurdität, zu der menschliches Dasein gerinnen kann, uraufgeführt in Paris 1953 – hatte schon seinen Siegeszug um die Welt und auch etliche Einstudierungen durch Laientheatergruppen in Gefängnissen (erstmals 1958 im berüchtigten Knast San Quentin in Kalifornien) auf dem Buckel, als sich 1986 ein Häftlings-Ensemble in der Vollzugsanstalt der schwedischen Hafenstadt Kumla des Stückes annahm. Das gelang so überzeugend, dass die Behörden selbst Vorstellungen außerhalb der Mauern gestatteten. Höhepunkt sollte ein Gastspiel im Stadttheater von Göteborg sein. Dort allerdings nutzten vier der fünf Beteiligten die Gelegenheit, um noch vor der Vorstellung unbemerkt durch den Bühnenausgang stiften zu gehen. Als Beckett von der Geschichte erfuhr, soll er lächelnd gesagt haben: „Das ist das Beste, was meinem Stück passieren konnte.“
Und nun ist auch die Frage beantwortet, ob man aus diesem Plot noch 35 Jahre später einen hinreißenden Film machen kann. Unbedingt. Und zwar in Frankreich sowie nicht zuletzt dort spielend. Das versammelte Insassenpanoptikum hält dem Vergleich mit jenem in Miloš Foremans „Einer flog übers Kuckucksnest“ (1975) in jeder Hinsicht stand. Nur ist die Hauptfigur dieses Mal kein weiterer Insasse, sondern ein arbeitsloser Schauspieler, der irgendwie über die Runden kommen muss. Höchst beeindruckend gespielt von Kad Merad, hiesigem Publikum aus der Mega-Komödie „Willkommen bei den Sch’tis“ in guter Erinnerung.
„Ein Triumph“, Regie: Emmanuel Courcol. Noch in Programmkinos sowie in anspruchsvollen Mediatheken.
Sehnsucht nach Bitterfeld
Wer in der DDR aufgewachsen ist, weiß natürlich etwas mit Bitterfeld anzufangen: eine Stadt, die ein Chemiekombinat an der Backe hatte, in deren Nähe Kohle abgebaut wurde und die im Ruf der dreckigsten Stadt Europas stand. Hier waren Arbeiter am Werk, wie es Staat und Partei gerne hatten. Damit die Entfremdung zwischen Künstlern und Volk überwunden werde, fand im April 1959 eine vom Mitteldeutschen Verlag veranstaltete Konferenz statt. Autoren trafen sich im Kulturpalast des Elektrochemischen Kombinats Bitterfeld, um darüber zu diskutieren, wie die Werktätigen Zugang zu Kunst und Kultur bekommen. Frei nach Majakowskis Forderung „Frisch angesetzt, das Schreibgerät!“ wurde eine eigene Losung ausgegeben: „Greif zur Feder Kumpel. Die sozialistische Nationalkultur braucht dich!“ Aus dieser Konferenz ging der Ruf in den östlichen Teil Deutschlands, sich als Laienschauspieler, Maler, Komponist oder Autor zu versuchen. Daraus resultierten die Arbeiterfestspiele. Nicht alles war freilich sozialistischer Sonnenschein, denn die Schriftsteller wollten nicht „wie Vertreter für jedes ideologische Bedürfnis“ herhalten müssen, wie Erwin Strittmatter klagte. Auch der von der Partei hofierte Dichter KuBa (Kurt Bartels) äußerte sich gegenüber Funktionären kritisch: „Das wird ein bitterer Feldweg werden.“ Oft kam es auch zu ungerechtfertigten Förderungen und zum Lob unkünstlerischer Werke.
Nach der zweiten Bitterfelder Konferenz 1965 wurde das Konzept aufgegeben, Künstler durch den Einsatz in der Produktion an Partei und Werktätige zu binden. Ungeachtet dessen sind im Laufe der Zeit hervorragende Werke entstanden, wie etwa von Willi Sitte („Alter Arbeiter mit ND“) oder von Walter Dötsch, der die Brigade Nicolai Mamai („Schmelzer Nationalpreisträger Hübner hilft seinen Kollegen“) auf ihrem Arbeitsweg begleitete und arbeitende Frauen („Ein Tag aus dem Leben der Martha Gellert“) realitätsnah porträtierte.
In der Ausstellung „Aufbau. Arbeit. Sehnsucht. Bitterfelder Wege“ in der Bitterfelder Galerie am Ratswall sind vor allem charakteristische Werke der bildenden Kunst zu sehen, aber es gibt auch etliche Informationen über Entwicklungen in den Bereichen Literatur und Musik. Begleitend zur Ausstellung veröffentlichte der Landkreis Anhalt-Bitterfeld unter demselben Titel ein Buch mit fünf Beiträgen und vier Exkursen, die sich mit ideologischen Hintergründen, parteilichen Vorgaben und gesellschaftlicher Realität unter anderem in den betrieblichen Kunstzirkeln auseinandersetzen.
Aufbau. Arbeit. Sehnsucht. Bitterfelder Wege; Galerie am Ratswall, Ratswall 22, 06749 Bitterfeld-Wolfen; bis 7. Juli 2023.
Landkreis Anhalt-Bitterfeld (Hg.): „Aufbau. Arbeit. Sehnsucht. Bildende Kunst, Literatur und Musik auf dem ,Bitterfelder Weg‘“, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2022, 160 Seiten, 16,00 Euro.
Lebensfreude und Rübenklau
Folkmusik aus Russland mag aktuell nicht gerade „en vogue“ zu sein. Gerade vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine wird dieses Land nur noch als monolithischer Einheitsstaat unter der Fuchtel des Autokraten Putin wahrgenommen. Wer kennt beispielsweise Mordwinien, eine relativ kleine Republik der russischen Föderation im Westen des Landes? Die Hauptstadt Saransk (einer der Austragungsorte der Fußball-Weltmeisterschaft 2018) mit knapp 300.000 Einwohnern liegt ca. 600 Kilometer südöstlich von Moskau. Und in eben dieser Metropole wurde 2010 das fünfköpfige Folkensemble Merema (auf Deutsch: „Legende“) gegründet.
Auf ihrem zweiten Album „Eryamon‘ Koytneva“ („Die Spirale des Lebens“) finden sich zahlreiche mordwinische Volksweisen, die neu arrangiert und mit modernen elektrischen Sounds angereichert wurden. Die Musiker verfolgen damit eine doppelte kulturelle Mission: die Bewahrung der musikalischen Tradition sowie die Bewahrung der alten mordwinischen Sprachen. In ihren Liedern (das der CD beigelegte Booklet liefert eine englische Übersetzung der Lieder) geht es darum, Familie und Freunde zu feiern und das Leben zu genießen. Eine erfolgreiche Hochzeit auf dem Lande lässt ein ganzes Dorf ausgelassen feiern. Um pure Lebensfreude geht es auch, wenn in einem Lied der Schabernack zweier weiblicher Familienmitglieder besungen wird, die sich zum Rübenklau aufmachen. Die musikalische Spürnase Christian Pliefke aus dem westmittelfränkischen Langenzenn hat mit dieser Band wieder einen hörenswerten Musikschatz gehoben.
Mögen die Minderheitenkulturen laut erklingen … und die Kanonen schweigen!
Merema – Eryamon‘ Koytneva (The Spiral of Life), CD 2022, Label: CPL-Musik, 15,00 Euro.
Aus anderen Quellen
Erich Vad, Ex-Brigade-General und von 2006 bis 2013 militärpolitischer Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel, kritisiert an der deutschen Ukraine-Politik: „Es gibt keine realistische End-State-Definition. Und ohne ein politisch strategisches Gesamtkonzept sind Waffenlieferungen Militarismus pur.“ Und an die Adresse von Außenministerin Baerbock: „Militärische Operationen müssen immer an den Versuch gekoppelt werden, politische Lösungen herbeizuführen. Die Eindimensionalität der aktuellen Außenpolitik ist nur schwer zu ertragen. Sie ist sehr stark fokussiert auf Waffen. Die Hauptaufgabe der Außenpolitik aber ist und bleibt Diplomatie, Interessenausgleich, Verständigung und Konfliktbewältigung. Das fehlt mir hier.“
Annika Ross: Erich Vad – Was sind die Kriegsziele?, emma.de, 12.01.2023. Zum Volltext hier klicken.
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Zur hierzulande mit ziemlicher Schlagseite geführten Debatte über den Ukraine-Krieg stellt Johannes Varwick fest: „Wenn etwa jenen, die sich erlauben, zu fragen, ob Waffenlieferungen an die Ukraine nicht eher Konfliktbeschleuniger sind, reflexhaft unterstellt wird, damit werde dem russischen Narrativ gefolgt, oder diese gar als ‚Putinfreunde‘ diffamiert werden, dann wird eine rationale strategische Diskussion verunmöglicht. Denn natürlich kann es auch sein, dass mit Waffenlieferungen ein womöglich aussichtsloser Kampf der Ukraine nur verlängert oder blutiger wird. Und es ist ebenso denkbar, dass Russland aufgrund immer mehr westlicher Waffenlieferungen die Staaten, die dies tun, als Kriegspartei betrachtet und wir, ob gewollt oder nicht, am Ende doch in einem Krieg mit Russland landen.“
Johannes Varwick: Warum Realpolitik im Ukraine-Krieg mich ins Abseits manövriert hat, berliner-zeitung.de, 13.01.2023. Zum Volltext hier klicken.
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„Ungeachtet des Krieges wächst im In- und Ausland die Kritik am antidemokratischen Umbau des ukrainischen Staates durch Präsident Wolodymyr Selenskyj“, heißt es auf der Plattform GERMAN-FOREIGN-POLICY.com. Im Mittelpunkt stehe „aktuell unter anderem ein neues Mediengesetz, das die Aufsicht über sämtliche Medien einer nationalen Medienbehörde überträgt. Die Behörde, die zur Hälfte vom Präsidenten, zur anderen Hälfte von seiner Parlamentsmehrheit eingesetzt wird, kann Medien faktisch willkürlich mit Strafen belegen oder sogar schließen. Das Gesetz wirft, erklärt der Nationale Journalistenverband der Ukraine, ‚den Schatten eines Diktators‘ auf Selenskyj.“
Im Schatten des Krieges, german-foreign-policy.com, 12.01.2023. Zum Volltext hier klicken.
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„Auch wenn Verantwortungsträgerinnen und -träger dieses Landes aus Wissenschaft, Politik und Medien sich oft auf das ‚Virus‘ als handelndes Subjekt beriefen, dass weder Feiertage, noch Grundrechte kenne“, so René Schlott, „konnte das „Virus“ selbst nichts schließen, anordnen oder verbieten. Es waren stets Menschen, die über den Umgang mit ihm entschieden. Dabei wurden die Grenzen zwischen privat und öffentlich aus den Angeln gehoben, wurde das verändert, was wir bislang unter „Normalität“ verstanden hatten, wurde das Verhältnis von Bürger und Staat nachhaltig verschoben. Und zum ersten Mal in ihrem Leben haben viele Menschen ihre Mitmenschen oder den Staat als Bedrohung wahrgenommen.“
René Schlott: Corona-Debatte – Der Staat wühlte während der Pandemie im Abgrund des Autoritären, berliner-zeitung.de, 31.12.2022. Zum Volltext hier klicken.
Letzte Meldung
Seit 1947 gibt es die Doomsday Clock (Weltuntergangsuhr) des Bulletin oft he Atomic Scientists. Gerade hat der Sicherheitsausschuss der Zeitschrift die Zeiger der Uhr neu gestellt – von bisher 100 auf nur noch 90 Sekunden „vor Mitternacht“: so nah wie nie zuvor an einer globalen Katastrophe. Vor allem (aber nicht nur) wegen der wachsenden Gefahren des Krieges in der Ukraine.
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