Diese Ukraine-Krise, in der wir uns gerade befinden,
ist nur das Aufwärmen.
Admiral Charles Richard,
Befehlshaber des Strategischen Kommandos der US-Streitkräfte,
02.11.2022
Das Russische Reich muss sterben.
Anne Applebaum
The Atlantic, 14.11.2022
Das Jahr 1980 lag in einer Phase scharfer Zuspitzung des Ost-West-Konflikts, insbesondere der militärischen Konfrontation. Die hatte nach dem sogenannten NATO-Doppelbeschluss von 1979 stark an Dynamik gewonnen und führte 1983 – wie die Öffentlichkeit allerdings erst Jahre später erfuhr – an den Rand einer nuklearen Katastrophe, als die NATO vom 7. bis 11. November jenes Jahres unter strenger Geheimhaltung mit der Kommandostabsübung „Able Archer 83“ einen Atomkrieg simulierte und die damalige sowjetische Führung drauf und dran war, diese Übung als Deckmantel für einen tatsächlich unmittelbar bevorstehenden Nuklearschlag fehlzuinterpretieren. Ein Präventivschlag Moskaus hätte sich im Rahmen damals gängiger militärischer Logik der beiden atomaren Supermächte bewegt.
Im Jahre 1980 veröffentlichten die Politologen Colin S. Gray und Keith Payne, damals wissenschaftliche Mitarbeiter am Hudson Institute, einer der führenden konservativen Denkfabriken in den USA, im Magazin Foreign Policy einen Aufsatz, der auf beiden Seiten der Ost-West-Konfrontation für angemessene Aufmerksamkeit sorgte. Titel: „Victory is possible“ (Sieg ist möglich). Die zentrale These der Autoren lautete: „Wenn die atomare Macht Amerikas dazu dienen soll, die außenpolitischen Ziele der USA zu unterstützen, dann müssen die Vereinigten Staaten in der Lage sein, rational Atomkrieg zu führen.“ Und davon abgeleitet: „Die Vereinigten Staaten sollten planen, die Sowjetunion zu besiegen, und dies zu einem Preis, der eine Erholung der USA erlauben würde. Washington sollte Kriegsziele festlegen, die letztendlich die Zerstörung der politischen Macht der Sowjets und das Entstehen einer Nachkriegs-Weltordnung, die den westlichen Wertvorstellungen entspricht, in Betracht ziehen. Die furchterregendste Bedrohung für die Sowjetunion wäre die Vernichtung oder eine schwerwiegende Beeinträchtigung ihres politischen Systems. Daher sollten die Vereinigten Staaten in der Lage sein, die Schlüsselfiguren der Führung, ihre Kommunikationsmittel und -wege und einige ihrer innenpolitischen Kontrollinstrumente zu zerstören.“ Dafür bürgerte sich im Fachjargon der Begriff (atomare) Enthauptung ein. Gray, der ab 1982 als Berater für die Reagan-Administration tätig war, äußerte sich seinerzeit auch zum Preis und zu den Benefits seiner Vorstellungen: 20 Millionen tote Amerikaner; zehnmal so viele jedoch würden die von westlichen Wertvorstellungen geprägte nachatomare Welt erleben.
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Exkurs: Die damalige Reagan-Regierung konnte den Ratschlägen von Gray und Payne offenbar einiges abgewinnen. Im zweiten Halbjahr 1981 verabschiedete der Nationale Sicherheitsrat der USA das National Security Decision Document 13, in dem zum ersten Mal erklärt wurde, dass die Politik der USA darin bestehe, in einem zeitlich ausgedehnten Atomkrieg zu siegen; man ging davon aus, dass der Krieg bis zu sechs Monate dauern könnte. Im Frühjahr 1982 fand dieser Ansatz Eingang in die sogenannte Fiscal Year 1984-1988 Defense Guidance – mit der Orientierung auf „Enthauptung, womit Schläge gegen die politische und militärische Führung der Sowjetunion sowie gegen Kommunikationslinien gemeint“ waren, wie Richard Halloran seinerzeit in der New York Times zusammenfasste. Die Vorgänge insgesamt waren seinerzeit ausführlich auch im SPIEGEL nachzulesen.
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Bereits damals hatten derartige militärstrategische Denkspiele und ihre militärdokrinären Wiederspiegelungen in den USA eine längere Tradition – bei Kritikern unter dem Begriff Kriegführungsabschreckung subsummiert (siehe ausführlicher Blättchen, Sonderausgabe vom 08.01.2018).
Jüngste Veröffentlichungen in den USA legen die Vermutung nahe, dass unter einschlägigen dortigen Experten – ähnlich wie seinerzeit bei Gray und Payne – das innovative Potenzial, bellizistischen Wahnwitz in scheinplausible Handlungsanleitungen für die politische und militärische Führung des Landes umzusetzen, nach wie vor ungebrochen ist:
- In der aktuellen Ausgabe des führenden außen- und sicherheitspolitischen Magazins der USA, Foreign Affairs, macht sich Thomas G. Mahnken ausführlich Gedanken zu der Frage: „Could America Win a New World War? What It Would Take to Defeat Both China and Russia“ (Könnte Amerika einen neuen Weltkrieg gewinnen? Was nötig wäre, um sowohl China als auch Russland zu besiegen).
- Schon im Sommer äußert Josh Rogin in der Washington Post die Überzeugung: „The skeptics are wrong: The U.S. can confront both China and Russia“ (Die Skeptiker irren sich: Die USA können sowohl China als auch Russland gegenübertreten).
- Wenig später nimmt Robert Farley im Online-Magazin 19FortyFive, das im Internet als „eine überparteiliche, auf Verteidigung, nationale Sicherheit und Militär ausgerichtete Publikation, die von nationalen Sicherheitsexperten mit unvergleichlichem Fachwissen erstellt wird“, apostrophiert ist, den Ball auf: „Big Question for the U.S. Military: Could They Battle China and Russia At the Same Time?“ (Große Frage für das US-Militär: Kann es China und Russland gleichzeitig bekämpfen?).
- Und im Oktober schließlich empfindet Hal Brands auf dem Portal Bloomberg die Fokussierung allein auf China und Russland offensichtlich als noch zu eng gefasst und erweitert sie: „Can the US Take on China, Iran and Russia All at Once?“ (Können die USA es mit China, dem Iran und Russland zugleich aufnehmen?).
Brands, Henry Kissinger Distinguished Professor an der Johns Hopkins University in Baltimore und regelmäßiger Bloomberg-Meinungskolumnist, hält einen gleichzeitigen Krieg der USA gegen alle drei Feinde zwar für „durchaus möglich“, rät aber davon ab, einen solchen Fall vorsätzlich herbeizuführen. Insbesondere wegen „Verteidigungskürzungen Anfang der 2010er Jahre“ verfüge „das Pentagon nicht über die nötigen Mittel“ dafür. Stattdessen rät Brands zu einer Art Salamitaktik, die er als Strategie der Sequenzierung („strategy of sequencing“) bezeichnet. Konkret plädiert er dafür, in Bezug auf den Ukraine-Krieg „das Gaspedal durchzudrücken“, gegenüber China „die Konfrontation hinaus[zu]zögern“ und mit Blick auf Iran den „Verkauf fortschrittlicher Bunkerbomben an Israel“ ins Auge zu fassen, „die es dem Land erlauben würden, glaubhaft mit einem einseitigen Angriff zu drohen“.
Im Übrigen „brauchen die USA dringend höhere Verteidigungsausgaben, um ihre Fähigkeiten zu erweitern, die Munitionsvorräte aufzustocken und die industrielle Basis zu stärken, die erforderlich ist, um einen Krieg zu gewinnen, geschweige denn zwei oder drei“. (Anmerkung: Die – laut Brands – deutlich zu geringen US-Militärausgaben lagen 2021 bei 801 Milliarden Dollar, waren damit nur geringfügig niedriger als jene der zehn Staaten zusammengenommen, die hinter den USA über die nächst größten Militärausgaben verfügen, und beliefen sich auf 38 Prozent der entsprechenden Gesamtausgaben weltweit.)
Farlay, der an Patterson School of Diplomacy and International Commerce, University of Kentucky, Kurse zu Sicherheit und Diplomatie gibt, gelangt zu einem gänzlich anderen Fazit – dass nämlich „die immense Kampfkraft der US-Streitkräfte […] durch die Notwendigkeit, auf beiden Schauplätzen [in Europa gegen Russland und in Fernost gegen China – S.] Krieg zu führen, nicht übermäßig belastet“ würde. Schließlich gäbe es in Europa die NATO, deren Streitkräfte „bei allen konventionellen Fähigkeiten einen wahrscheinlich entscheidenden Vorteil gegenüber den Russen“ hätten (nicht nur „wahrscheinlich“, siehe Blättchen 15/2022). Und in Fernost hätten „Japan und Australien entscheidende Schritte zur Festigung ihrer Beziehungen zu den Vereinigten Staaten unternommen“. (Südkorea nicht minder, wäre zu ergänzen.) Darüber hinaus könnten Frankreich und Großbritannien „jeweils eine wirksame Marineflottille in den Pazifik entsenden“. Fazit: „Kurz gesagt, die Vereinigten Staaten können Russland und China gleichzeitig bekämpfen …“
Rogin, Kolumnist der Washington Post und Analytiker bei CNN, widerspricht einer Auffassung, wie sie kurz zuvor in der New York Times vertreten worden war – dass nämlich „das Einmaleins der Geopolitik“ darin bestehe, „dass man nicht gleichzeitig einen Zweifrontenkrieg mit den beiden anderen Supermächten führt“. Rogin widersprach schlicht und ergreifend deswegen, weil die USA gar nicht die Wahl hätten, sich einem solchen Zweifrontenkrieg zu verweigern. Daher: „Führende Politiker auf beiden Seiten des politischen Spektrums der USA sollten aufhören, dem amerikanischen Volk den falschen Trost vorzugaukeln, dass wir uns den Luxus leisten könnten, uns bloß gegen ein Übel von beiden zu entscheiden.“
Mahnken, von 2006 bis 2009 stellvertretender US-Verteidigungsminister für politische Planung, sieht gute Voraussetzungen für Washington, nach den ersten beiden auch den Dritten Weltkrieg zu gewinnen. Denn: „Anders als China oder Russland haben die Vereinigten Staaten enge Beziehungen zu vielen der stärksten Militärs der Welt.“ Auch könne man sich „den Sieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg als Vorbild nehmen“; zu den „Zutaten des amerikanischen Erfolgs“ hätten seinerzeit „die Mobilisierung der amerikanischen Wissenschaft, Technologie und Industrie sowie die Entwicklung neuer Kriegsmethoden“ gehört; „die Vereinigten Staaten haben dies alles schon einmal getan. Es gibt keinen Grund, warum sie es nicht wieder tun sollten.“ Auch auf einen weiteren günstigen Umstand zu verweisen, vergisst Mahnken nicht: Je länger der Ukraine-Krieg andauere, „desto mehr wird Russlands konventionelles Militär in einer Weise geschwächt, die Moskau nicht so schnell wieder ausgleichen kann“.
Im Unterschied zu den zuvor zitierten Experten hat Mahnken jedoch zumindest einen lichten Moment: Ein Zweifrontenkrieg der USA gegen China in Fernost und gegen Russland in Europa wäre „beängstigend, weil er im Schatten der […] Atomwaffenarsenale stattfinden würde“. Doch sogleich weiß der Experte auch hier Abhilfe: „Diese drei Mächte müssten sich gegenseitig Grenzen setzen, um den Einsatz von Massenvernichtungswaffen zu vermeiden […].“
Gute Idee – denn natürlich ist davon auszugehen, dass solche Grenzen umso stringenter eingehalten würden, je mehr einem oder mehreren Kriegsbeteiligten eine Niederlage drohte!
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Vor dem Hintergrund dieser Debatten trifft es sich gut, dass die Heritage Foundation, einflussreiches konservatives Forschungsinstitut in Washington (Leitspruch: „Leadership for America“ – „Führung für Amerika“), soeben ihren „2023 Index of U.S. Military Strength“ (Index der militärischen Stärke der USA für 2023) publiziert hat. Der knapp 600 Seiten umfassende Report „konzentriert sich auf die Streitkräfte, die erforderlich sind, um zwei große Kriege zu gewinnen“, weil „Amerikas Sicherheitsinteressen“ dies erforderten, und gibt die militärischen Mindestanforderungen an die Streitkräfte dafür folgendermaßen an (in Klammern: Ist-Zustand):
Heer: 50 Kampfbrigaden (31);
Marine: 400 Schiffe und 624 Kampfflugzeuge (298 Schiffe und 633 Kampfflugzeuge);
Luftwaffe: 1200 Jagd- und Kampfflugzeuge (942, davon 634 einsatzfähig);
Marineinfanterie: 30 Bataillone (22).
Die Diskrepanzen schlagen sich in der Gesamtbewertung nieder: „Wie bereits in allen vorangegangenen Ausgaben des Index festgestellt, verfügen die USA […] nicht über die erforderlichen Kräfte, um mehr als einen größeren regionalen Konflikt […] zu bewältigen […].“
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Man darf gespannt sein, ob sich die aktuellen US-Strategiedebatten und ihr möglicher Niederschlag in der offiziellen Militärpolitik ebenso wie Anfang der 1980er Jahre in einem Rahmen halten werden, der der Welt letztlich kein finales Fiasko beschert. Doch die Zeichen der Zeit standen damals besser: 1985 erschien mit Michail Gorbatschow ein Akteur auf der Weltbühne, der die eingespielten, immer gleichen Konfrontationsmuster verließ, der ein Neues Denken, das auf Kooperation statt Feindschaft fokussiert war, nicht nur propagierte, sondern praktizierte. Dergleichen ist heute nirgendwo in Sicht …
Schlagwörter: Atomkrieg, China, Gorbatschow, Iran, Militär, Russland, Sarcasticus, Strategie, Ukraine-Krieg, USA, Weltkrieg