Vielleicht stoßen amerikanische und russische Kampfjets,
die über der Ostsee in engen Kontakt gekommen sind,
versehentlich zusammen. Ein solcher Zwischenfall
könnte angesichts der großen Angst auf beiden Seiten,
der mangelnden Kommunikation und der gegenseitigen Dämonisierung
leicht eskalieren.
John Mearsheimer
Besteht eigentlich noch die Aussicht, dass der Ukraine-Krieg zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt nicht eskaliert und damit zum möglichen finalen atomaren Desaster für Europa, wenn nicht für die Zivilisation schlechthin wird? Nach dem derzeitigen Stand der Dinge kann diese Frage nur verneint werden. Die Prognose fällt also deutlich pessimistischer aus als noch vor knapp drei Monaten – siehe Das Blättchen 13/2022.
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Der renommierte US-Sicherheitsexperte John Mearsheimer hat in einem Essay („Playing With Fire in Ukraine. The Underappreciated Risks of Catastrophic Escalation“) in Foreign Affairs gerade an folgendes erinnert: „Es gibt drei grundlegende Wege zur Eskalation, die der Kriegsführung als solcher innewohnen: Eine oder beide Seiten eskalieren absichtlich, um zu gewinnen, eine oder beide Seiten eskalieren absichtlich, um eine Niederlage zu verhindern, oder die Kämpfe eskalieren nicht vorsätzlich, sondern unbeabsichtigt. Jeder Weg birgt das Potenzial, die Vereinigten Staaten [und die NATO – S.] in die Kämpfe hineinzuziehen oder Russland zum Einsatz von Atomwaffen zu veranlassen, möglicherweise auch beides.“
By the way: Am 31. August 2022 hat das russische Staatsmedium RT DE im Zusammenhang mit der angekündigten Übergabe von elf MiG-29 Kampfflugzeugen der Slowakei an die Ukraine – ein weiterer Eskalationsschritt seitens der NATO, denn solche Waffensysteme waren bisher nicht geliefert worden – an die Warnung des russischen Außenministers Lawrow erinnert, dass jede Ladung mit Waffen für die Ukraine zum legitimen Ziel für Russland werde.
Mearsheimer stellte darüber hinaus die Frage: „Wie sieht es mit der ultimativen Form der Eskalation aus?“ Und beantwortet sie dahingehend, dass er einen Atomwaffeneinsatz Russlands unter drei Umständen für möglich hält:
- Die USA und die NATO greifen mit eigenen Streitkräften in den Krieg ein und verschieben das militärische Kräfteverhältnis damit dermaßen, dass sich die Wahrscheinlichkeit einer russischen Niederlage deutlich erhöht. (Siehe dazu ausführlicher Das Blättchen 15/2022.)
- Die Ukraine wendet das Blatt auf dem Schlachtfeld ohne direkte westliche Beteiligung und rückerobert das verlorene Territorium ihres Landes.
- Es entsteht eine langwierige Pattsituation ohne diplomatische Lösungsansätze, „die für Moskau äußerst kostspielig wird“.
In den beiden letztgenannten Szenarios würde Russland, so Mearsheimer, „wahrscheinlich taktische Atomwaffen gegen eine kleine Anzahl militärischer Ziele einsetzen […]. In späteren Angriffen könnte es auch Städte angreifen […].“ Die Angriffe blieben auf ukrainisches Territorium beschränkt, weswegen „ein nuklearer Vergeltungsschlag der USA höchst unwahrscheinlich“ wäre.
Was die Perspektive des Ukraine-Krieges anbetrifft, unterstreicht Mearsheimer zugleich: „Die Bedrohung für Russland ist heute noch größer als vor dem Krieg, vor allem weil die Regierung Biden jetzt entschlossen ist, […] die russische Macht dauerhaft zu schwächen.“
Dieses Kriegsziel Washingtons hatte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin nach einem Besuch in Kiew im April 2022 verkündet: „Wir wollen, dass Russland so weit geschwächt wird, dass es nicht mehr in der Lage ist, so etwas wie die Invasion in der Ukraine zu tun.“ Mearsheimer sieht darin nicht zu Unrecht die offen verkündete Absicht, „Russland aus der Reihe der Großmächte zu verdrängen“.
Auf dieses Ziel sind einerseits die gesamten militärischen Hilfslieferungen der USA für Kiew gerichtet, die zunehmend offensivfähige Komponenten wie das Mehrfachraketensystem HIMARS enthalten und die von anderen NATO-Staaten teils umfänglich flankiert werden. Nach anfänglichem Zögern, für das insbesondere Bundeskanzler Olaf Scholz verantwortlich gemacht wurde, ist daran auch Deutschland zunehmend beteiligt. Am 29. August hat Scholz, nachdem er kurz zuvor medienwirksam die Ausbildung ukrainischen Militärpersonals am Flakpanzer Gepard auf einem Bundeswehrstützpunkt besucht hatte, in seiner Prager Rede verkündet: „In den nächsten Wochen und Monaten erhält die Ukraine von uns […] neue, hochmoderne Waffen, Luftverteidigungs- und Radarsysteme etwa oder Aufklärungsdrohnen.“ Und er fügte hinzu: „Ich kann mir zum Beispiel vorstellen, dass Deutschland besondere Verantwortung beim Aufbau der ukrainischen Artillerie und Luftverteidigung übernimmt.“ Annalena Baerbock, seine Außenministerin, scheint derweil noch über das US-Kriegsziel hinauszudenken, hatte sie doch bereits am Tag zwei des Ukraine-Krieges für das damals anstehende Sanktionspaket der EU gegenüber Moskau die Devise ausgegeben: „Das wird Russland ruinieren.“ Jetzt hat sie mit einem eigenen Zeithorizont nachgelegt: Die Welt müsse sich „darauf einstellen, dass dieser Krieg noch Jahre dauern könnte“.
Die USA liefern jedoch andererseits keineswegs nur militärische Hardware, denn ohne entsprechend weitreichende elektronische und digitale Zielaufklärung, zu der der Ukraine nach Auffassung westlicher Experten die militärtechnischen Voraussetzungen fehlen, wäre es Kiew weder möglich gewesen, im April 2022 den Lenkwaffenkreuzer Moskwa, das Flaggschiff der russischen Schwarzmeerflotte, zu versenken, noch im Juli mittels HIMARS – nach Medienberichten – bis zu 30 russische Munitionsdepots in den russisch besetzten Gebieten der Ost- und Südukraine zu vernichten. Washington, so Mearsheimer, sei „tief in den Krieg verstrickt. Und es ist nur noch einen kleinen Schritt davon entfernt, dass die eigenen Soldaten den Abzug bestätigen und seine eigenen Piloten die Knöpfe drücken.“
Vor diesem Hintergrund ist das Statement von US-Präsident Biden in der New York Times vom 31. Mai 2022 also bestenfalls von verhaltenem Wert: „Wir streben keinen Krieg zwischen der NATO und Russland an.“ Oder sollten die operativen Umsetzer der US-amerikanischen Ukraine-Politik bloß des Lesens unkundig sein?
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Auf der Seite des Aggressors liefern dessen Streitkräfte seit Kriegsbeginn eine überraschend blamable Vorstellung ab. Nachdem der augenscheinlich vorgesehene siegreiche Einmarsch in die ukrainischen Hauptstadt gescheitert ist, konzentrieren sich Russlands Verbände auf die Ost- und Südukraine. Doch vollzieht sich der Vormarsch dort seit Wochen in einem solchen Schneckentempo, dass von Stillstand zu sprechen kaum mehr unzutreffend sein dürfte. Dass dieser Verlauf der „Spezialoperation“ von Moskau in den staatlichen Medien und kremloffiziell allerdings unverdrossen als „planmäßig“ bezeichnet wird, erinnert schon fast an die deutsche Wochenschau im Zweiten Weltkrieg, die bis kurz vor Ultimo Endsiegerwartungen nährte.
Dass die russische Erfolglosigkeit außer auf den zunehmend professionalisierten Widerstand des ukrainischen Militärs – etwa durch Nahbereichsaufklärung mittels kleiner Drohnen zur Feuerleitung von Artillerie – auch darauf zurückzuführen sein könnte, dass Moskau seinen Streitkräften eine für anhaltende Kriegführung ziemlich unzulängliche Struktur verpasst hat, ist von den US-Experten Michael Kofmann und Rob Lee auf der Plattform WAR ON THE ROCKS im Detail analysiert worden (zur deutschen Übersetzung des Beitrages hier klicken).
Zwischenzeitlich sorgte ein Interview des russischen Militärexperten Ruslan Puchow zu gravierenden Schwächen der russischen Streitkräfte im Ukraine-Krieg, das er dem russischen Analyseunternehmen Prisp gegeben hat, für Aufmerksamkeit in einschlägigen deutschen Medien. Vor allem weil Puchow, Direktor des Zentrums für die Analyse von Strategien und Technologien (CAST) – seit 2012 Mitglied des Expertenrates der Regierung der Russischen Föderation und eng mit dem russischen Verteidigungsministerium verbunden – als, so DER SPIEGEL, „kremltreu und ausgewiesener Kenner der russischen Armee“ gilt.
So überraschte Puchow im Hinblick auf das sechsmonatige Agieren der russischen Luftstreitkräfte mit der Feststellung: „Wir haben keine Luftüberlegenheit.“ Es mangele unter anderem an ausreichend modernen Kampfflugzeugen. Bei den vorhandenen fehlten hinreichend präzise Erkennungs- und Zielgeräte sowie generell genügend Präzisionsmunition. Unverändert nicht ausgeschaltet sei die ukrainische Luftabwehr mit ihren sowjetischen Systemen (S-300, Buk) sowie mit einer großen Anzahl tragbarer Flugabwehrraketen. „Infolgedessen kann die Luftwaffe weder aus großer und mittlerer Höhe noch aus geringer Höhe effektiv operieren, was ihre Wirksamkeit erheblich einschränkt, gerade bei der Bekämpfung der ukrainischen Artillerie und dem Einwirken auf feindliche Truppen. […] Der Beginn der Lieferung moderner westlicher Mittelstrecken-Flugabwehrsysteme an die Ukraine könnte dieses Problem noch verschärfen.“
Ein ähnlich düsteres Bild zeichnete Puchow von den russischen Landstreitkräften: „Wir haben einen erheblichen Mangel an Infanterie. Die Front ist groß und es gibt nicht genug Einsatzkräfte […].“ Eingesetzt würden hauptsächlich veraltete Panzer: „Die nächste Armata-Familie von Kampffahrzeugen liegt noch in weiter Ferne. Selbst unser modernster Panzer, der T-90, ist eine Modifikation des veralteten T-72.“ Paradox dabei: Die Sowjetunion sei zwar das erste Land gewesen, dass abstandsaktive Schutzsysteme für Kampfpanzer (KAZ) entwickelt habe, doch nichts Dergleichen sei in der Ukraine im Einsatz. Panzern ohne KAZ hingegen, das zeige die Gefechtserfahrung in der Ukraine, hätten keine Chance, „den neuesten Panzerabwehrsystemen wie Javelin, NLAW oder Matador erfolgreich zu widerstehen“.
All diese und andere Schwächen, da sind Experten sich einig, werden nicht kurzfristig zu beheben sein. Zwar hat Präsident Putin kürzlich per Ukas verfügt, die Anzahl des russischen Militärpersonals ab 2023 um 137.000 Mann zu erhöhen, doch wie zusätzliche Kampfverbände moderner auszurüsten wären als die vorhandenen steht völlig in den Sternen.
Schließlich räumte Puchow auch noch ein: „Die Unterschätzung des Feindes hat uns […] einen grausamen Streich gespielt.“
Dafür, dass die russischen Verluste seit Beginn des Ukraine-Krieges erheblich sein müssen, spricht ja bereits die Tatsache, dass es seit langem keine offiziellen Angaben dazu von Moskauer Seite mehr gibt. Auf 70.000 bis 80.000 russische Opfer – Tote wie Verwundete – lautete eine Schätzung des US-Verteidigungsministeriums bereits Anfang August 2022. Zudem habe die russische Armee „drei- oder viertausend“ gepanzerte Fahrzeuge eingebüßt.
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Die Brisanz der ukrainischen Gesamtmelange wird zusätzlich durch das derzeitige Wechselverhältnis der verfeindeten Seiten befeuert, das Mearsheimer folgendermaßen beschreibt: „Im Grunde genommen sind Kiew, Washington und Moskau fest entschlossen, auf Kosten des Gegners zu gewinnen, was wenig Raum für Kompromisse lässt. Weder die Ukraine noch die Vereinigten Staaten werden beispielsweise eine neutrale Ukraine akzeptieren; im Gegenteil, die Ukraine wird von Tag zu Tag enger mit dem Westen verbunden. Es ist auch unwahrscheinlich, dass Russland alle oder auch nur den größten Teil der von der Ukraine eroberten Gebiete zurückgibt […].“
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Mittel- bis längerfristig allerdings wird Moskau die Augen kaum vor der Alternative verschließen können,
- seine konventionellen militärischen Kräfte entweder weiter in einem aussichtslosen, weil durch Waffenlieferungen und andere Maßnahmen des Westens immer wieder gepushten Abnutzungskrieg ohne Aussicht auf Sieg zu verheizen
- oder zu versuchen, den Krieg durch Wiederherstellung des territorialen Status quo der Ukraine mindestens vor Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 zu beenden, was auf die Akzeptanz einer strategischen Teilniederlage hinausliefe
- oder den Weg vorsätzlicher Eskalation des Krieges zu wählen, um zu einem aus Kremlsicht besseren Resultat zu gelangen.
Die letztere Variante böte die besten Voraussetzungen dafür, dass der Ukraine-Krieg völlig außer Kontrolle geraten und zur finalen militärischen Auseinandersetzung zwischen dem Westen und Russland ausarten könnte, denn Moskau müsste, um die eigene Niederlage abzuwenden, zuvorderst eine Beendigung der militärischen Hilfe der USA und der NATO für Kiew erzwingen. Das jedoch würde durch Drohungen allein nicht zu bewerkstelligen sein.
Also – „starkes Signal“ an die USA und die NATO: Versenkung eines US-Flugzeugträgers mittels Hyperschallwaffen? Konventionelle Cruise-Missile-Schläge gegen die Nachschubwege für die Ukraine durch Polen und Rumänien oder gegen die US-Basis in Ramstein? Ausschaltung der US-amerikanischen Raketenabwehrbasen in Osteuropa?
Nicht zuletzt könnte man sich in Moskau daran erinnern, dass es nach dem Abwurf der US-Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki – nach heutigem Verständnis: zweier taktischer Nuklearwaffen von vergleichsweise geringem Kaliber – keine Woche mehr gedauert hat, bis der japanische Kaiser per Rundfunkansprache seine Bereitschaft zur Kapitulation signalisierte …
Wer den russischen Präsidenten Putin für einen völlig gewissenlosen Diktator, ja für die Inkarnation des Teufels hält, der sollte sich dann aber auch nicht wundern, wenn dieser sich im Falle des Falles genau so – gewissenlos und teuflisch – verhielte. Das wäre gewissermaßen die ultimative self fulfilling prophecy. Und im Übrigen, um nochmals Mearsheimer zu bemühen, die Bestätigung, dass die im Westen vorherrschende „konventionelle Sichtweise die Gefahren einer Eskalation in der Ukraine bei weitem [unterschätzt]“.
Schlagwörter: Atomwaffen, Baerbock, Biden, Deutschland, NATO, Putin, Russland, Sarcasticus, Scholz, Ukraine, USA