24. Jahrgang | Nummer 19 | 13. September 2021

Bemerkungen

Einer fahre des anderen Last

Der Bundestagswahlkampf ist wieder zur Geburtsstation genialer Ideen geworden, derer so viele sind, dass ihre Aufzählung den hiesigen Rahmen sprengen würde. Doch zumindest dem genialsten im Reigen der Klimaschutzvorschläge soll Referenz erwiesen werden – der Forderung der Grünen, zur Entlastung des maladen Klimas die private Anschaffung von Lastenfahrrädern (LF) mit einer Milliarde Euro zu bezuschussen. Je 1000 Euro für eine Million dieser klimafreundlichen SUVs unter den Drahteseln!

Natürlich lockte das sofort die üblichen Kritikaster aus ihren Löchern, doch deren Gegenargumente sind so bizarr und abstrus – da lachen ja die Hühner auf dem Postplatz, wie Dresdner sagen würden. Kein Dachdecker, so wird sich nicht entblödet zu behaupten, würde seine Ziegel mit Lastenfahrrad zum Ort des Eindeckens transportieren, kein Klempner meterlange Rohre, kein Möbellieferant seine Schrankwände … Wenn unsere Citys erstmal verbrennerbereinigt und immer noch mit zu wenigen E-Ladesäulen ausgestattet sind, dann wird man schon sehen, wie das flutscht!

Die LF-Förderung sollte aber nicht nur schnellstens Realität, sondern klimapolitisch auch voll ausgeschöpft werden: Wer ein gefördertes LF erwirbt, wird verpflichtet, mindestens einmal pro Woche auch Lasten für seine Nachbarn zu transportieren! Und Zuwiderhandlungen werden mit je 100 Euro Fördergeldrückforderung geahndet!!

Das kranke Klima würde nicht nur in die Hände klatschen, das würde sich gar nicht mehr einkriegen.

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P.S.: Sich wahrscheinlich besonders witzig vorkommende Klugscheißer haben in die Debatte geworfen, dass es sehr viel billigere Fahrradanhänger gegebenenfalls auch täten. Aber das, liebe Freunde, wäre ja nun wirklich nicht der Stil der hippen, besserverdienenden innerstädtischen Fans heutiger Lastenräder mit eigener Garage.

Live im Rockpalast auf CD

In der Reihe „Live At Rockpalast“ erschienen zwei Live-Produkte, die den Hörer fragend zurücklassen. Musste das sein? Als der Rockpalast nur noch ein Schattendasein fristete, durften alte Krautrocklegenden vergessene Songs präsentieren. So spielten Karthago 2004 im Rahmen des WDR „KRAUTrockpalast“ 13 Stücke, die die deutsche Rocklandschaft prägten und manchen Nachwuchs-Eric die Gitarre härter zupfen ließen. Immerhin sind noch drei Original-Mitglieder (Albrecht, Bischof, Goldschmidt) dabei, die mittlerweile wie gute Opas aussehen und mit viel Professionalität und dem Uruguayer Rolo Rodriguez (nebst Sohn Chris) den Rock knackig werden lassen. Es wummert und bollert, dass es eine Freude ist und sich die schöne Zeit erahnen lässt. Allerdings werden keine Kämpfe mehr auf der Bühne ausgefochten. Man verabschiedet sich ordentlich, überglücklich und spielt glasklar und nüchtern (sic!) noch Zugaben. Die zweite Rockpalast-Veröffentlichung wurde 2005 in der Bonner Harmonie aufgezeichnet. Wuppertaler Musiker träumten von alten Zeiten und probierten trotzdem Neues aus. Bekannt wurden Hoelderlin gleich nach ihrer Gründung mit dem Album „Hoelderlins Traum“, einige Jahre später setzten sie mit „Traumstadt“ noch eins drauf. Nach 25 Jahren Funkstille wurde nun wieder lyrischer Rock mit gesellschaftskritischen deutschen Texten aufgeführt. Wie damals klang die Musik verspielt, gemütlich und sehr sorgfältig. Es ist immer noch komplexe Rockmusik, durchdrungen von feinem Folk, mit Hang zu surrealistischen Ideen. Kaum bemerkt wurde das Wegbleiben von Sänger und Geiger Christoph Noppeney, den Ann-Yi Eötvös in hervorragender Stimmung ersetzte. Markus Wienstroer feuerte als Geiger durch die Songs, als gäbe es kein Morgen.

Auch gab es mal eine Zeit, in der besonders akustische Gitarren ihre Hochzeit hatten und die Konzerte der Macher immer sehr gut besucht waren. So blieb es nicht aus, dass der WDR aufmerksam wurde und einige Künstler zum Rockpalast einlud. Bei den vorliegenden Konzertmitschnitten freut und wundert man sich, dass der Gitarrist die Bassbegleitung zusammen mit der Melodie spielen konnte. Um dabei perfekt zu werden, waren viele Übungsstunden nötig. Nachhören und -sehen kann man diese Kunstfertigkeit bei der neuen Rockpalast-Veröffentlichung, die uns ins Jahr 1979 zurückversetzt. Den Anfang auf CD Eins macht Peter Finger, der den bekannten Titel „Mississippi Blues“ phänomenal interpretiert und mit „Der Erlkönig“ und „Der Zauberlehrling“ seine Fingerfertigkeit unvergessen macht. Der nachfolgende Werner Lämmerhirt interpretiert die Songs auf eigene Weise, zeigt stimmungsvolle Originalität und mit „Wintertime Has Come“ bringt er den Schnee zum Schmelzen. Schließlich stand in Köln, im dortigen Studio L, noch das Duo Kolbe/Illenberger auf der Bühne, das Konzerte in über 40 Ländern gab. Besonders mit ruhigen Klangstrukturen, genialen Songs und schwebenden Harmonien bringen die Gitarrenhelden das Publikum zum Träumen und Abschalten. Herrliche Musik für lange Nächte.

Thomas Behlert

Karthago: Live At Rockpalast 2004, MIG-Music; Hoelderlin: Live At Rockpalast 2005, MIG-Music; Peter Finger, Werner Lämmerhirt, Martin Kolbe / Ralf Illenberger: Rockpalast Acoustic 1979, MIG Music / 375 Media.

Feuer und Wasser

Sind die Musikstile Jazz und Rock wie Feuer und Wasser? Wenn man sich die üblichen Beurteilungskriterien vor Augen hält, sollte eine Fusion nur schwer möglich sein. Jazz ist in erster Linie improvisierte Musik, selbst bei aufwendigen Arrangements werden die Songs aus einem Improvisationsgefühl heraus geschrieben; Rockmusik fokussiert sich auf komponierte Musik mit fixer Liedgestaltung.

Doch Ende der 60er Jahre begann diese musikalische Mauer zu bröckeln. Bands wie Colosseum, Crusaders oder Return to Forever reüssierten, kommerziell erfolgreicher waren Chicago sowie Blood, Sweat & Tears oder Miles Davis. Weniger populär war die Band Oregon. Doch das MIG Label und Radio Bremen sind dankenswerterweise eifrig dabei, diverse musikalische Schätze aus früheren Jahrzehnten zu heben.

Ein solcher Schatz ist der Mitschnitt eines Konzerts des 1970 gegründeten Quartetts Oregon in Bremen. Die Band bestand aus Ralph Towner (akustische Gitarre), Paul McCandleness (Oboe und Englischhorn), Glen Moore (Kontrabass) und Colin Walcott (Sitar, Tabla, Percussion, Piano). Die Kombination von Instrumenten aus unterschiedlichen Musiktraditionen und die Bandbreite der vier beteiligten Musiker bedeutete, dass die Schublade Jazz zu eng gefasst ist für den Musikstil dieser Gruppe.

Die Doppel-CD „1974“ (Live at Radio Bremen) bietet eine hörenswerte Werkschau von Oregon. Der technisch gute Sound offenbart, welch hypnotische Wirkung diese Melange aus Jazz und Rock generieren kann. Das Eingangsstück hat den Titel „Brujo“ (spanisch für Zauberer). Die Oregon-Musiker erweisen sich als musikalische Zauberer. Sie schaffen es spielend, Feuer und Wasser zu vereinen – zu einem nachhaltig wirksamen Feuerwasser.

Thomas Rüger

Oregon: 1974. DoCD, Label MIG, 2021, etwa 20,00 Euro.

WeltTrends aktuell

Nach 20 Jahren Krieg sind die Taliban wieder zurück in Kabul. WeltTrends hat sich stets gegen die westliche Intervention in Afghanistan gestellt. Mit dem Wiederabdruck von drei Editorials aus Heften, die sich mit diesem Krieg beschäftigten, zeigt die aktuelle Ausgabe, dass das militärische Engagement von Anfang an ein Abenteuer war, das von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt und von vielen Experten kritisiert wurde. Dass Afghanistan geopolitisch bedeutsam ist und hier nun auch USA und NATO krachend scheiterten, weist Majd El-Safadi im Kommentar nach.

Im Thema geht es um eine Bilanz der bisherigen Politik von Präsident Joseph Biden. Roland Benedikter konzentriert sich vor allem auf dessen Versuche, die gespaltene US-amerikanische Gesellschaft wieder „in die Mitte und zu einem gemeinsamen Dialog zu führen“. Gastherausgeber Erhard Crome schätzt die Außenpolitik Bidens als Versuch ein, mit einer „internationalistischen Politik“ den Rückbau der imperialen Überdehnung der Weltmacht USA so zu gestalten, dass grundlegende Interessen gesichert werden.

Der WeltBlick beschäftigt sich mit den im September bevorstehenden Parlamentswahlen in Russland und der Frage, wie es in Kuba nach den Castro-Brüdern weitergeht.

Woher kommt die Kommunistische Partei Chinas, wer ist sie und wohin geht sie? Mit diesen Fragen setzt sich in der Historie der chinesische Wissenschaftler Chunchun Hu auseinander.

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WeltTrends – Das außenpolitische Journal, Heft 179 (September) 2021 (Schwerpunktthema: „US-Außenpolitik mit Biden“), Potsdam / Poznan, 4,80 Euro plus Porto. Weitere Informationen im Internet.

Blätter aktuell

Die dramatischen Bilder des Abzugs der USA und ihrer Verbündeten aus Afghanistan belegen vor allem eines: Zwanzig Jahre nach dem 11. September 2001 ist nicht nur der War on Terror gescheitert, sondern geht auch das amerikanische Jahrhundert zu Ende, so der Historiker Bernd Greiner. Anstatt dies anzuerkennen, hält auch US-Präsident Joe Biden am hegemonialen Anspruch seines Landes fest – und verspielt damit die Chance auf eine kooperative Weltordnung.

Lange wähnte sich der globale Norden sicher vor den Folgen des menschengemachten Klimawandels. Doch spätestens seit den verheerenden Bränden und Fluten dieses Sommers entpuppt sich dieser Glaube als Illusion, stellt die Autorin Naomi Klein fest. Denn nun reift auch in den reichen Ländern allmählich die bittere Erkenntnis, dass bei einer ungebremsten Erwärmung des Planeten kein Ort sicher sein wird.

Die KP Chinas hält weiter an der zentralen Steuerung der Wirtschaft mittels Fünfjahresplänen fest. Zugleich jedoch fördert sie einen privatwirtschaftlichen Digitalsektor, schreibt der Physiker Timo Daum. Ob sie diese Gegensätze dauerhaft vereinbaren kann, bleibt eine offene Frage.

Dazu weitere Beiträge, unter anderem: „Alexander Lukaschenko: Diktatur in den Untergang?“, „Currywurst statt Peenemünde“ und „Polen und Ungarn: Mit EU-Sanktionen die Demokratie retten?“.

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Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, September 2021, Einzelpreis: 9,50 Euro, Jahresabonnement: 79,80 Euro (Schüler & Studenten: 62,40 Euro). Weitere Informationen im Internet.

Aus anderen Quellen

Am 2. Juli 2021 hat Wladimir Putin, der russische Präsident, eine neue „Strategie der nationalen Sicherheit der Russischen Föderation“ bestätigt. Dmitri Trenin hebt hervor: „Die USA und einige ihrer NATO-Verbündeten werden nun offiziell als unfreundliche Staaten gebrandmarkt. Die Beziehungen zum Westen werden aus der Priorisierung herausgenommen. Bezüglich ihrer Nähe rangieren diese Länder an letzter Stelle, hinter den ehemaligen Staaten der Sowjetunion, den strategischen Partnern China und Indien, nicht-westlichen Institutionen wie der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, BRICS und dem Trio Russland – Indien – China sowie anderen asiatischen, latein-amerikanischen und afrikanischen Ländern.“

Rainer Böhme (Hrsg.): Zur nationalen Sicherheitsstrategie Russlands (2021). Kommentar und Dokumentation, dgksp-diskussionspapiere, September 2021. Zum Volltext hier klicken.

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„Die Medien hegen und pflegen die Legende vom aggressiven Russland“, merkt Thomas Röper an, „verschweigen aber möglichst die Aktivitäten der Nato an Russlands Grenzen. Selbst das größte Nato-Manöver seit 30 Jahren, Defender 2021, spielt in den Medien kaum eine Rolle. Auch Marine-Manöver im Schwarzen Meer unter Beteiligung deutscher Schiffe werden möglichst verschwiegen. Gleiches gilt für Nato-Manöver vor Russlands Küsten im Nordmeer. Von den knapp 4000 Nato-Flugzeugen, die letztes Jahr an Russlands Grenzen aktiv waren, ganz zu schweigen.“

Thomas Röper: Das russische Außenministerium über Nato-Truppenverstärkungen an der russischen Grenze, anti-spiegel.ru, 20.08.2021. Zum Volltext hier klicken.

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„Das Scheitern in Afghanistan wird gerne mit dem verlorenen Vietnamkrieg verglichen. Doch es gibt einen wichtigen Unterschied. Die US-Soldaten, die in Vietnam kämpften, waren zum Militärdienst eingezogen worden. Erst 1973 wurde der Wehrdienst in den USA aufgehoben. Seither ist die US-Truppe ein Freiwilligenheer. Und seither hat sich auch sehr verändert, wer für Amerika in den Krieg zieht“, schreibt Heike Buchter und führt weiter aus: „In den Achtzigern kam die Bezeichnung Poverty Draft – ‚Armutswehrdienst‘ – auf. Hatte zuvor das Gesetz junge Männer gezwungen, Soldaten zu werden, waren es nun zunehmend wirtschaftliche Zwänge. Die Armee, mit einer Truppenstärke von rund 1,3 Millionen, bietet einen sicheren Arbeitsplatz und soziale Absicherung, nicht zuletzt eine Krankenversicherung. Alles Vorteile, die in Amerika in der privaten Wirtschaft alles andere als eine Selbstverständlichkeit sind.“

Heike Buchter: Wer kämpfte in Afghanistan? zeit.de, 23.08.2021. Zum Volltext hier klicken.

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Wissenswertes über den Warenhaus-„Mit-Erfinder“ Oscar Tietz vermittelt Nils Busch-Petersen: „Er hat die modernen Handelsprinzipien zunächst in einem kleinen Geschäft in Gera mit zwei Schaufenstern umgesetzt. Das war sein Start. Da war überhaupt noch nicht erkennbar, was das für ein Knaller wird.“ Handelstechnisch neu am Kaufhaus war: „In einem Laden verschiedene Sortimente anzubieten. Zuvor hatte man entweder Handschuhe oder Stöcke gehandelt, aber nicht beides zusammen. Mit der Auspreisung der Waren gab es nicht mehr die Mauscheleien um den Preis wie vorher. Im Gegenzug mussten die Kunden sofort in bar bezahlen. Das hat den Warenumschlag beschleunigt, weil sofort wieder neue Waren bestellt werden konnten. Und als einer der ersten hat er in Deutschland das Entrée libre eingeführt […], indem er sagte: Komm rein, schau, was dir gefällt, und wenn dir nichts gefällt, kannst du wieder gehen. Das war völlig neu und hat die Leute teilweise auch überfordert.“

Uwe Rada: „Ich bin da eher so reingerutscht“ (Interview), taz.de, 08.08.2021. Zum Volltext hier klicken.

Letzte Meldung

Der Westen hat bekanntlich Afghanistan fluchtartig verlassen, und die USA setzten sich an die Spitze dieser Absetzbewegung. Das betraf aber nur die eigenen Leute und manche Ortskräfte. Was an militärischem Krempel und Schlimmerem von den USA zurückgelassen wurde, machte jetzt Jim Banks öffentlich. Der muss es wissen, denn als sogenannter Foreign Military Sales Officer hatte er die Aufgabe, militärische Ausrüstung der USA an die afghanischen Streitkräfte zu verteilen. Bei einem Briefing im Repräsentantenhaus listete er auf: „Wir wissen […], dass die Taliban aufgrund der Nachlässigkeit dieser Regierung Zugang zu amerikanischer Militärausrüstung im Wert von 85 Milliarden Dollar bekommen haben. Dazu gehören 75.000 Fahrzeuge, mehr als 200 Flugzeuge und Helikopter und über 600.000 Handfeuerwaffen.“ Und dann noch dies: Die Taliban verfügen „jetzt über biometrische Geräte […], die Fingerabdrücke, Augen-Scans und biographische Angaben der afghanischen Soldaten und Ortskräfte enthalten, die uns in den vergangenen 20 Jahren unterstützt haben.“

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