23. Jahrgang | Nummer 19 | 14. September 2020

Bemerkungen

Vom Gift der Wörter

Zufällige verbale Ausrutscher gehören zum jounalistischen Tagesgeschäft, egal ob Print oder neue Medien, die zumindest im Falle von Funk und Fernsehen so neu nicht sind. Auch wenn manche Psychoanalytiker meinen, dass der berühmte lapsus linguae, der „Freudsche Versprecher“, tief im Unterbewusstsein determiniert sei, so wollen wir doch der berühmten Bananenschale nicht ihr Recht auf Eingreifen in die Abläufe des Lebens nehmen.

Etwas anderes ist es, wenn Begriffe bewusst gesetzt werden. Wörter haben einen eigenen Geschmack. Manche schmecken von vornherein giftig. Wir wenden uns instinktiv von ihnen ab. Es gibt aber auch geschmacklose Gifte. Wenn ein Mensch seine Ziele nicht realisieren kann und aufgeben muss, gilt er gemeinhin als gescheitert. Die Lateinamerika-Fachfrau von Deutschlandradio, sie heißt Victoria Eglau und lebt in Buenos Aires, hat vor wenigen Tagen einen Beitrag für den Deutschlandfunk anlässlich des 50. Jahrestages des Wahlsieges von Salvador Allende und der Unidad Popular am 4. September 1970 produziert. Betitelt hat sie ihn „Salvador Allende – gescheiterter Hoffnungsträger“. Das ist solch ein bewusst gesetzter Gifttropfen. Allende ist nicht gescheitert, er „wurde gescheitert“. Sicher machten unterschiedlichste Faktoren der chilenischen sozialistischen Regierung das Leben zur Hölle. Sicherlich begingen Allende und seine Leute verheerende Fehler. Aber nicht die Volksfrontregierung stürzte das Land in das „wirtschaftliche und soziale Chaos“, das Eglau postum beklagt, dieses Chaos wurde gezielt „gemacht“ – vom CIA-gesteuerten LKW-Besitzerstreik bis hin zu den Cacerolazo-Protesten, den Demos mit leeren Kochtöpfen der gut Betuchten in den Nobelvierteln der Hauptstadt. „Ein Teil des Militärs“ wandte sich eben nicht 1973 von Allende ab, wie Victoria Eglau meint. Das chilenische Militär wurde gezielt auf den Putsch getrimmt und trainiert. Das zu großen Teilen von den USA organisierte Chaos diente nur der Bodenbereitung. Der „Teil des Militärs“, der loyal zur Regierung Allendes stand, wurde kalt gestellt. Die USA „kollaborierten“ nicht, wie die Autorin einen chilenischen Historiker zitiert, die USA organisierten. Das ist schon ein Unterschied.
Victoria Eglau lebt in Buenos Aires. Ich empfehle ihr einen längeren Spaziergang am Rio de la Plata. Nein, nicht entlang der Kais des noblen neuen Hafenviertels, durch den Parque de la Memoria sollte sie gehen, den Erinnerungspark an die von den argentinischen Militärs Ermordeten. Und sie sollte Anibal Ibarra bitten, sie zu begleiten. Der Anwalt wird ihr einiges über die „Operation Condor“ erzählen können, die in den frühen 1970er Jahren eine Blutspur über den Subkontinent zog. Dabei dürfte auch der Name Augusto Pinochet fallen.
Manche Wörter sollte man vor Gebrauch sehr genau abwägen. Der kleine Tropfen Gift, den sie in sich tragen, genügt häufig. Schlimm genug, wenn er einem „passiert“. Böse wird es, wenn er bewusst verabreicht wird.

Günter Hayn

In Niederwalluf am Rhein

von Eckhard Mieder

An jenem Sonntag in Niederwalluf sah ich
Zwei junge Männer, sie spielten Schach.
Sie saßen auf einer Terrasse, vielleicht drei Meter
Über dem Straßenpflaster; und um sie zu sehen, schaute ich
An dem Gekreuzigten vorbei, der mir im Blick stand.
Er ragte, aus dem roten Sandstein der Gegend gemeißelt,
Fast höher in den reinblauen Himmel als die Männer saßen.
Oben über dem Schachbrett, das ich nicht sah,
So konzentriert und weltenfern die zwei wie das Antlitz
Jesu, sein Kopf auf die linke Schulter gesunken.

O Schmerz! dachte ich ironisch und pathetisch.
Ein Bild der Schönheit und Würde: der Kopf
Mit der Dornenkrone vor den zwei Köpfen der Spieler,
Die zwischen den Zügen, wünschte ich ihnen,
Am Glas eines weißen, kühlen Weines nippten
(Aus der Gegend auch wie der rote Stein des Gekreuzigten).
Ich blieb für einen Augen-Blick stehen und freute mich,
Dass ich weder die Aufmerksamkeit der Schachspieler
Noch die Aufmerksamkeit Jesu erweckte;
Ein jeder hatte zu tun mit sich selber, wie ich mit mir grad nicht.

Krieg der Archäologen

Spätestens mit der Entdeckung des Schlachtfeldes an der Tollense in Mecklenburg wissen wir, dass auch bei uns bronzezeitliche Streitereien mit erheblicher Heftigkeit augetragen wurden. Ein wenig davon scheint auch auf die Archäologen abzufärben. Nicht nur um Troja tobt der Ausgrabungs- und Interpretationskrieg. Auch hiesige Fundstellen sind davon betroffen.

1998 wurden in der Nähe von Freising unter Zuhilfenahme einer Hellseherin in einem bronzezeitlichen Grabungshorizont Gold- und andere Artefakte gefunden. Rupert Gebhard verortete den sogenannten Goldschmuck von Bernstorf als zuständiger bayerischer Landesarchäologe natürlich in die Mittlere Bronzezeit und stellte kühn Bezüge zur Goldmaske des Agamemnon aus Mykene her. Passenderweise fand man dann auch heraus, dass die Kritzeleien auf Bernsteinschnitzereien die mykenische Linear-B-Schrift sein müssten. Gebhards Spannemann Rüdiger Krause, Archäologieprofessor in Frankfurt/Main stützte diese Thesen. Immerhin durfte er auch die Grabungen in Bernstorf vornehmen. Im Ergebnis entstand ein hübsches, etwas größenwahnsinniges „Bronzezeit Bayern Museum“ in Kranzberg. Das Gold ist natürlich in München deponiert. Doof nur, dass der österreichische Archäometallurge Ernst Pernicka vor fünf Jahren das Bernstorfer Gold als moderne Fälschung einstufte. Einen Reinheitsgrad von 99,99 Prozent bekäme man nur mit heutigen Methoden hin … Und 2017 wurden Analysen veröffentlicht, die auch die Bernsteinfunde als deutlich jünger qualifizieren.
Jetzt schlägt Gebhard zurück – und zwar gegen die Nebraer Himmelsscheibe. Wenn Bayern schon auf Fälschungen hereingefallen ist, dann dürfen die anderen auch nicht besser sein. Die Himmelsscheibe sei zwar keine Fälschung, gesteht Gebhard zu – die Echtheit hatte übrigens auch Pernicka nachgewiesen –, aber sie sei mindestens 1.000 Jahre jünger. Eisenzeitlich sozusagen. Irgendwie aus Caesars Zeiten also. Ernstzunehmende Argumente werden zwar nicht vorgebracht, aber Rupert Gebhard wird sekundiert von … Rüdiger Krause natürlich. Höhepunkt der Beweisführung ist deren Fazit, die Himmelsscheibe würde im damaligen Symbolgut als „ein vollkommener Fremdkörper“ erscheinen. Harald Meller, Landeskonservator von Sachsen-Anhalt, kontert: „Dies ist zwar richtig, trifft aber auf jeden einzigartigen Fund zu. Die Himmelsscheibe von Nebra wäre in jeder vorgeschichtlichen Periode ein Fremdkörper.“ Stimmt. In der britischen Kult-Serie „Inspektor Barnaby“ taucht sie unter dem Namen „Moon-Stone-Diskus“ als ideale Mordwaffe auf.
Meller präsentierte 2002 die Himmelsscheibe höchstderoselbst der staunenden Öffentlichkeit und entwickelte in den Folgejahren die tollkühne Theorie von einem gigantischen bronzezeitlichen Herrschaftszentrum im heutigen Burgenlandkreis. Zuvor hatte er sozusagen als Undercover-Agent in Basel die Scheibe Raubgräbern aus ihren gierigen Krallen reißen können. Natürlich mit einer gewissen Unterstützung durch die Schweizer Polizei …
Befähigung zur Hochstapelei scheint seit Heinrich Schliemann zur Grundausstattung PR-bewusster Archäologen zu gehören. Das ist der Stoff, aus dem das ZDF seine sonntäglichen Geschichts-Dokus schneidert. Man darf gespannt sein.

Alfred Askanius

Stilblüten sammeln

sollte nur, wer ein Liebhaber ist. Sie auszujäten zeugt von einem schlechten Geschmack, von einem, der da wünscht, daß in der Zeitung nur korrekte Phrasen wachsen. Stilblüten sind die glücklichen Ausnahmen, denen wir in der Wüste der Erkenntnis begegnen. Und ist es nicht von einer ergreifenden Symbolik, wenn einer Zeitung der Satz gelingt:

„Sterbend wurde sie ins Spital gebracht, wo sie einem toten Kinde das Leben gab.“

Geschieht das nicht unser aller gemeinsamen Liebsten, der Kultur? Sterbend wurde sie in die Redaktion gebracht und gebar die Phrase. Ach, wer doch dem toten Kinde das Leben gäbe! Er würde die Mutter retten.

Karl Kraus (1912)

WeltTrends aktuell

In Deutschland und vielen anderen Ländern wird der 1. September als Tag für Frieden und gegen Krieg begangen – Anlass für WeltTrends, sich im Thema den nuklearen Strategien, die das Wettrüsten vorantreiben, zu widmen. Es geht um neue Ideen zur Rüstungskontrolle, die aktuelle Strategiediskussion in Russland, militärpolitische Positionen Chinas wie auch Trumps Rüstungskontrollpolitik und Macrons Abschreckungskonzept.

Dass die von den USA sowie Deutschland und anderen NATO-Staaten praktizierte „nukleare Teilhabe“ ein überholtes Konzept ist, argumentiert im Kommentar Rolf Mützenich, SPD-Fraktionsvorsitzender im Bundestag. Dringende Maßnahmen zur Minderung der nuklearen Gefahren schlagen ehemalige deutsche Abrüstungsdiplomaten in ihrem Appell an die Bundesregierung vor, auf den Das Blättchen bereits in seiner Ausgabe 17/2020 hingewiesen hatte.

Probleme des Westbalkans und der Syrienpolitik der EU erörtern verschiedene Autoren im WeltBlick.

Ausgangspunkt für viele Probleme des Nahen Ostens sind die Beschlüsse der Konferenz von San Remo 1920, die in der Historie erläutert werden.

Die Analyse verweist darauf, dass das nach 1945 etablierte System des Multilateralismus heute angesichts Corona-Pandemie und Trumps America-First-Doktrin vor großen Herausforderungen steht.

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WeltTrends – Das außenpolitische Journal, Heft 167 (September) 2020 (Schwerpunktthema: „Nukleare Strategien kontrovers“), Potsdam / Poznan, 4,80 Euro plus Porto. Weitere Informationen im Internet.

Aus anderen Quellen

Olaf Scholz (SPD), Bundesfinanzminister und von der Basis seiner Partei in seinem Bemühen, deren Vorsitz zu übernehmen, durch Nicht-Wahl abgestraft, ist vom Hinterzimmerestablishment derselben Partei kürzlich zum Hoffnungsträger, respektive Kanzlerkandidaten geadelt worden. Und damit könnte sich die SPD nach den jeweils grandios gescheiterten Vorgängerkandidaten Steinmeier, Steinbrück und Schulz schon wieder ins Knie gefi … schossen haben, denn gerade wird der Olaf von seiner Vergangenheit eingeholt. Als Hamburgs Erster Bürgermeister war er offenbar aktiv an einem Vorgang beteiligt, durch den der privaten Hamburger Warburg-Bank von den hanseatischen Finanzbehörden (oberster Chef seinerzeit: Olaf Scholz) bis zu 90 Millionen Euro geschenkt werden sollten, die sie zuvor durch kriminelle Cum-Ex-Geschäfte („eine Riesen-Schweinerei“ – O-Ton Scholz noch vor wenigen Monaten) dem Steuerzahler „geraubt“ (O-Ton Panorama) hatte. Dazu unlängst vom Finanzausschuss des Bundestages befragt, hat Scholz diesen augenscheinlich angelogen, wie das Nachrichtenmagazin Panorama öffentlich gemacht hat.Der Anfang vom Ende einer Karriere hat schon bisweilen so begonnen …

Panorama vom 03.09.2020. Zur Sendung hier klicken.

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Gideon Freudenthal, emeritierter, israelischer Professor für Wissenschaftstheorie sowie -geschichte und in den letzten Jahren wiederholt als scharfer Kritiker der Politik der Netanyahu-Regierung hervorgetreten, meint: „Der Antisemitismus, mit dem es Probleme gibt, ist der, der sich in der Israelkritik versteckt. […] Aber davon ausgehend auf jede Kritik an der israelischen Regierung zu schließen, ist eine große Fehlleistung. Ich glaube, die Unterschiede zwischen jemandem, der Israel mit antisemitischen Argumenten attackiert, und jemandem, der die Politik der israelischen Regierung kritisiert, sind sehr klar zu erkennen.“ Aufgefallen ist Freudenthal nicht zuletzt, „dass der Vorwurf des Antisemitismus in jüngsten Jahren auch in Deutschland systematisch genutzt wird, die Kritik der Politik Israels zu unterbinden“.

Hanno Hauenstein: „Der Antisemitismus, mit dem es Probleme gibt, ist der, der sich in Israelkritik versteckt“, berliner-zeitung.de, 05.08.2020. Zum Volltext hier klicken.

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Das Oberlandesgericht München sei von „Koryphäen der Rechtswissenschaft“ für „sein Urteil im NSU-Prozess scharf“ kritisiert worden, schreibt Christoph Lemmer. Und: Bei der Urteilsfindung seien „die Beweise nicht vollständig gewürdigt“ worden. „Das Urteil gegen Zschäpe beruhe stattdessen auf ‚einer Art Wahrscheinlichkeitsvermutung‘ […].“

Christoph Lemmer: Kippt das Mordurteil gegen Zschäpe?, heise.de, 31. August 2020. Zum Volltext hier klicken.

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Artikel 3, Absatz 2 des Grundgesetzes beginnt mit dem Satz: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Der prägt zwar bis heute die gesellschaftliche Realität in Deutschland immer noch nicht durchgängig, war aber ursprünglich auch überhaupt nicht vorgesehen. Wie es trotzdem dazu kam, hat Heribert Prantl jetzt nacherzählt. Das Ganze vor dem Hintergrund der Paritätsgesetze, die in Thüringen (dort vom Landesverfassungsgerichtshof zwischenzeitlich wieder gekippt) und in Brandenburg verabschiedet worden sind und für die Prantl sein unzweideutiges Votum formuliert: „Emanzipationsgeschichte lehrt, dass es ohne konkrete und offensive gesetzliche Hilfe keine Emanzipationsfortschritte gibt. Quotengesetze sind notwendige und probate Hilfsmittel. Nur auf diese Weise ist die Männerquote zu durchbrechen, die in den Vorständen der Wirtschaft bei fast hundert Prozent und in den Parlamenten bei durchschnittlich siebzig Prozent liegt. Es reicht nicht, wenn Frauen theoretisch alles werden dürfen, sie müssen es praktisch werden können. Eine bloß formale rechtliche Gleichbehandlung führt nicht zur Gleichberechtigung […].“

Heribert Prantl: Prantls Blick – die politische Wochenvorschau, sueddeutsche.de, 16.08.2020. Zum Volltext hier klicken.

Letzte Meldung

Noch bevor Gras über den Maulkorb für den Kabarettisten Dieter Nuhr (Blättchen berichtete) wachsen oder der Shitstorm gegen die Kabarettistin Lisa Eckhart (Blättchen berichtete) dem Vergessen anheimfallen konnte, hat Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) – mit mehreren Pleiten im jeweils dreistelligen Millionen-Euro-Bereich (unter anderem Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Blättchen berichtete) eine Skandalnudel ganz eigenständiger Dimension – bereits die notwendige Schlussfolgerung gezogen: Grütters wolle, so das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL, einen „Deutschen Satirerat“ einrichten. „Dieser solle Komiker beaufsichtigen und entscheiden, was Satire sei und was nicht“ und bei „Grenzüberschreitungen und fehlgeleiteten Pointen […] eine Rüge aussprechen“. Denn die Menschen sehnten sich, so DER SPIEGEL weiter, „nach einfachen Antworten, vor allem aber nach eindeutigen, sie halten Ungewissheiten und Ambivalenzen nur noch schwer aus“. Humor hingegen sei „ein Motor der Ambivalenzen. Also muss man ihn abstellen.“ Zumal der „Grundgestus des Witzes […] die Subversion, der Tabubruch“ sei.

Zwar behauptete das Hamburger Nachrichtenmagazin zugleich, die Sache mit dem Grütters-Rat gehe auf „Die Wahrheit“ zurück, vulgo auf „die Satireseite der taz“, doch wer lässt sich davon schon täuschen? In Zeiten, wo jedes Kind weiß, dass der Lügenpresse nicht zu trauen ist …

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