22. Jahrgang | Sonderausgabe | 18. November 2019

Über paradoxen Sozialismus

von Ulrich Knappe

Die vorliegende Sonderausgabe beruht auf der Monografie „Über paradoxen Sozialismus“ von Ulrich Knappe. Das Buch wurde durch den Wissenschaftsverlag Peter Lang verlegt und erschien Ende 2018.
Der Autor untersucht den praktizierten Sozialismus, weil er Zweifel hegt, dass die Darstellungen in der überlieferten marxistisch-leninistischen Theorie die geschichtliche Wirklichkeit zutreffend reflektieren. Er nimmt die Marx’sche Methode zur Gesellschaftsanalyse auf und wendet sie kritisch auf den praktizierten sowjetischen und chinesischen Gesellschaftsentwurf an.
Damit betritt er theoretisches Neuland und vermittelt heuristische Denkansätze.
Mit unserer Sonderausgabe möchten wir zu einer breiteren Aufnahme seiner Überlegungen beitragen und zur Diskussion anregen.
Wir baten Knappe, eine Artikelserie für Das Blättchen zu verfassen und einige Themen zu komprimieren. Entstanden ist jene Abfolge von zwölf Essays, die wir nachfolgend publizieren.
Die essayistische Form gestattet die Verdichtung der Gedanken. Die wissenschaftliche Beweisführung und Argumentation tritt etwas zurück. Wer sich hier detaillierter informieren möchte, der sei auf die Monografie verwiesen.
Die Artikel stehen jeweils für sich. Trotzdem ergibt die Reihung einen eigenen Zusammenhang.
Wir wünschen unseren Lesern Anregungen bei der Lektüre und intellektuelles Vergnügen beim weiterführenden Nachdenken.

Die Redaktion

Das aktuelle Erkenntnisinteresse an einer Erforschung des „real existierenden Sozialismus“

Am 2. Mai 2019 veröffentlichte Die Zeit ihr bekanntes Interview mit Kevin Kühnert, dem Vorsitzenden der Jungsozialisten. Darin stellte er die Frage, ob wir bei der Lösung heutiger und künftiger gesellschaftlicher Probleme um eine Zurückdrängung privater Profitinteressen herum kommen werden.
Ein hoch brisantes Thema.
Für seinen Mut, es ungeschminkt zu thematisieren, gebührt Kühnert Dank.
Nur am Rande: Auf die drängenden Probleme des Klimawandels kam er nicht zu sprechen. Auch aus dieser Herausforderung ergäben sich Ansätze, die ein entsprechendes Umsteuern plausibel und akzeptabel erscheinen lassen müssten.
Kühnert warf seinen kritischen Blick auf die kapitalistische Gesellschaft, ließ sich aber, meiner Meinung nach, viel zu schnell auf angestaubte Themen festlegen. Es mag sein, dass Enteignungen, Vergesellschaftungen, Kollektivierungen, Verstaatlichungen, Genossenschaftsgründungen et cetera probate Mittel sein können, um künftig den großen gesellschaftlichen Interessen Vorfahrt vor den kleinen privaten Sonderinteressen zu verschaffen.
Aber führen nicht auch hier viele Wege nach Rom?
So beschlich mich beim Lesen ein unangenehmes Gefühl.
Welches Bild vom Sozialismus transportiert Kevin Kühnert? Selbstverständlich das der Sozialdemokratie und das steht dem demokratischen und nicht dem diktatorischen Sozialismus nahe.
Aber reicht diese einfache Abgrenzung heute aus?
Haben die Begriffe Enteignung, Vergesellschaftung, Kollektivierung nicht alle eine traurige Geschichte, die sie dem diktatorischen, praktizierten Sozialismus zu verdanken haben?
Ja, in Ordnung, diesen Sozialismus hat die Sozialdemokratie nicht zu verantworten. Aber auch dort sollte man bedenken, dass Millionen Menschen nur den praktizierten sowjetischen Sozialismusentwurf, den sie in hohem Bogen auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgten, vor Augen haben können.
Möchte man die Menschen an diesem Punkt abholen, müsste man sich mit ihren konkreten Erfahrungen beschäftigen und sich die Mühe machen, diese untergegangene Gesellschaft in ihrem Wesen, also auch wissenschaftlich, zu verstehen.
Den vorwurfsvollen Ton gegenüber Kevin Kühnert bitte ich zu entschuldigen. Es betrifft ja bei weitem nicht nur ihn und seine Genossen.
Es liegt mir jedoch fern, mit dem Finger auf andere zu weisen und den Splitter im fremden Auge zwar zu sehen, den Balken im eigenen jedoch nicht zu bemerken.
Woher sollte denn eine solche wissenschaftliche Aufarbeitung des sowjetischen Gesellschaftsentwurfes auch kommen?
Als Francis Fukuyama Anfang der 1990er Jahre seinen Bestseller „Das Ende der Geschichte“ veröffentlichte, schien sich die wissenschaftliche Aufarbeitung der untergegangenen sowjetischen Gesellschaft erübrigt zu haben. In den Sozialwissenschaften machte sich eine große Abstinenz gegenüber diesem Thema breit. Einzig und allein die Historiker drehten Stein für Stein um und förderten Erstaunliches zutage.
Wer hat sich aber die Mühe gemacht, auf den historischen Forschungsergebnissen aufbauend, eine geschlossene wissenschaftliche Interpretation der gescheiterten Gesellschaft vorzulegen?
Wäre das nicht eine Aufgabe für Gesellschaftswissenschaftler und Philosophen aus der DDR, die mit ihrer Lebenserfahrung und ihrem wissenschaftlichen Horizont die Brücke aus der Vergangenheit heraus in eine so dringend benötigte Aufarbeitung schlagen könnten?
Sicher, der Schock war für uns alle groß und es musste erst einmal Zeit vergehen, bis genügend Abstand zum Untersuchungsgegenstand gewachsen war.
Es ist auch völlig verständlich, wenn vielen die Kraft für eine solche Aufarbeitung fehlte oder die althergebrachten Denktraditionen nicht durchbrochen werden konnten.
Aber jetzt rappelt es im Karton und die jungen Vorwärtsdrängenden benötigen dringend Antworten und Ideen, wie sie mit der überkommenen Geschichte umgehen soll(t)en.
Vor diesem Hintergrund ist es, so finde ich, keine Ermessenfrage mehr, ob man sich des Sozialismus‘ erinnert, ihn retrospektiv erforscht, über ihn nachdenkt, über ihn spricht und Kontroversen öffentlich austrägt.
Hier setzen meine Überlegungen an.
Im Verlaufe meiner Studien hatte ich bemerkt, dass man, Land auf, Land ab, Karl Marx gemeinsam mit dem praktizierten Sozialismus verwarf. Die Verlockung war zu groß, mit dem Scheitern eines praktischen Entwurfes auch gleich die damit verbundene Theorie zu beerdigen.
So reizten mich folgende Problemstellungen. Zum einen wollte ich eine Analyse des praktizierten Sozialismus mit Marx und nicht gegen ihn oder ohne ihn vornehmen. Zum anderen wollte ich unvoreingenommen der Frage nachgehen, was das für eine Gesellschaftsform gewesen war, in der ich gelebt hatte und deren Untergang ich miterleben musste (durfte).
Was lapidar klingt, wuchs sich im Verlauf meiner wissenschaftlichen Arbeit zu einer großen Herausforderung aus. Ich sah mich nämlich plötzlich allein auf weiter Flur und hatte kaum Möglichkeiten des Gedankenaustausches.
Nur mit den eigenen ideologischen Scheuklappen behaftet, betrat ich als institutionell und parteipolitisch Unabhängiger das theoretische Neuland. Ich kann rückblickend sagen: Es war ungeheuer spannend, aufschlussreich aber auch ernüchternd, nach 30 Jahren zu den eigenen theoretischen Wurzeln zurückzukehren.
Es kann sein, dass der skeptische Leser, der noch in der Tradition des Marxismus-Leninismus gefangen ist, meine Sicht der Dinge nicht teilt. Das muss ich in Kauf nehmen, genauso wie die Schelte, die ich von jenen erhalten werde, die eine Akzeptanz von Marx als Sakrileg wider den herrschenden Zeitgeist empfinden werden.
Aber angesichts der immensen Herausforderungen, denen sich das kapitalistische Gesellschaftssystem gegenübersieht, eröffnen diese neuen Gedanken und das sich abzeichnende Andere einer sozialistischen Entwicklung einen völlig neuen Blickwinkel auf die möglichen Transformationsbewegungen.

Das Beharrungsvermögen der russischen Geschichte

Ende des Jahres 1917 entern sozialistische Korsaren unter der Führung von Lenin und Trotzki den Riesentanker Russisches Reich und meinen, die Flagge auf einem Schnellboot hochgezogen zu haben.
Sie setzen, entgegen aller Warnungen, den Industrie-Sozialismus in einem hauptsächlich feudal geprägten Land auf die Tagesordnung.
Mit dieser Konzeption ausgestattet, betreten sie die Kommandobrücke und initiieren eine Entwicklung, die die tatsächlichen Resultate gesellschaftlichen Wandels in Widerspruch, ja Harnisch zur sozialistischen Bewusstseinsproduktion bringen wird.
Die Diskrepanz zwischen tatsächlicher und vermuteter Entwicklung wird schemenhaft deutlich, wenn man sich der inhaltlichen Bestimmung des historischen Ballastes zuwendet, den die russischen Revolutionäre vorfinden. (Was nicht gleichbedeutend mit (s)einer Erkenntnis ist.)
Die Beschäftigung mit der russischen und sowjetischen Geschichte hat mich veranlasst, den Ballast in verschiedene Begrifflichkeiten zu fassen. In Kontinuitäten, Parallelen, Knoten sowie Brücken und daran binde ich Teile meiner Gesellschaftsanalyse an.
Kontinuitäten erfassen Zustände, die in ihrem Wandel die gesamte russische Geschichte durchziehen, von ihren Anfängen im 7. Jahrhundert bis in den Sozialismus.
Zwei solcher Kontinuitäten habe ich näher untersucht.
Die Ost-West Ambivalenz findet ihren Ursprung im Zerfall des Römischen Reiches, in der allmählichen Abspaltung Ostroms bis hin zur feindlichen Entgegensetzung der beiden Teilimperien ab dem Jahr 1054. Die Abkehr der christlichen griechischen Orthodoxie von den Lateinern, verbunden mit der Christianisierung der Kiewer Rus, setzt das byzantinische Fundament, aus dem dann verschiedene Entwicklungsformen der Ambivalenz hervortreten. Für das 20. Jahrhundert ist die Systemauseinandersetzung zwischen einer sozialistischen Sowjetunion und der kapitalistischen Restwelt eine solche konkrete Erscheinungsform.
Eine zweite Kontinuität finde ich in der Art und Weise, wie sich in der Kiewer und Moskauer Rus – später im Zarenreich bis hin zum russischen Imperium – gesellschaftliche Fortschritte durchsetzen.
Meist kommen die Anstöße von oben, und nur wenige Personen, früher die Großfürsten, später der Zar, sind zur autokratischen Führung prädestiniert. Gesellschaftlicher Wandel vollzieht sich in Russland in quälender Behäbigkeit, weil sich die Eigentumsverhältnisse nur über lange Zeiträume umbrechen lassen. Es dauert fast ein Jahrtausend, bis das Eigentum vordergründig in einer Hand konzentrieren ist.
Der Zar wird mittels seines Reichtums in die Lage versetzt – neben dem althergebrachten Vererben des väterlichen Feudalbesitzes (votčina) – sich eine eigene Gefolgschaft durch Vergabe von Land- und Leuten (pomest’e) zu schaffen. Mit dem Dienstadel entsteht (neben dem Erbadel) eine typische russische Differenzierung der herrschenden Klasse.
Parallele Entwicklungen binde ich an die spezifische Rolle der Gewalt. Die offensichtlichste Parallele bilden die Geschehnisse in der Herrschaftsperiode von Iwan IV. (Grosny) Mitte bis Ende des 16. Jahrhunderts und der Stalins von 1928 bis 1956. Es geht mir aber nicht vordergründig darum, Personen für die Anwendung von Gewalt „verantwortlich“ zu machen und Gewalt zu verteufeln.
Was ich aufzeigen möchte: So nützlich Gewalt sein kann, gesellschaftliche Entwicklungen auszulösen, sie reicht als bleibende Triebkraft gesellschaftlicher Entwicklung nicht aus, sondern erschöpft sich.
Auch ihre Steigerung in den Terror, unter Stalin in den Staatsterror (gleichbedeutend mit der sowjetischen Form von Totalitarismus) kann auf Dauer nicht als gesellschaftliche Triebkraft dienen.
Im Gegenteil, je gesteigerter die Gewaltformen, desto eher greifen Stagnation und Lethargie um sich.
Bevor ich zum Kernproblem komme, dass die russische Geschichte für die Erbauer des Sozialismus aufgespart hat, möchte ich noch auf zwei Brücken verweisen, die aus der jüngeren russischen Geschichte in den sozialistischen Aufbau hinüber reichen.
Die eine ist die Herausbildung der zarischen Bürokratie, die andere ist das Aufkommen der Industrialisierung.
Da ich der zarischen Bürokratie mit ihrem Hinüberwachsen in den sozialistischen Staat einen separaten Artikel widme, kann ich dieses Thema zurückstellen.
Zur Industrialisierung sei in aller Kürze nur so viel gesagt: Als im Jahr 1861 die Leibeigenschaft zu enden beginnt, setzt auch eine erste Industrialisierungswelle ein. Es ist ein Irrtum, die Industrialisierung den Bolschewiki zuzuschreiben. Sie nehmen einen Faden gesellschaftlicher Entwicklung auf, der zum Ende des 19. Jahrhunderts schon deutliche Muster gewebt hatte.
Durch den Ersten Weltkrieg bedingt, versiegt die Industrialisierung und wird dann ab 1928 zum Mantra sozialistischer Entwicklung.
Der größte Felsbrocken jedoch, den die russische Geschichte als Ballast mit sich wälzte, war die russische Dorfgemeinde.
Das aufkommende Patriarchat auf russischem Boden bleibt in eigentümlicher Weise mit einem Relikt seiner gentilgesellschaftlichen (matriarchalen) Vorstufe verknüpft.
Während die orthodoxe Christianisierung alle patriarchalen Institutionen wie die Monogamie, die Ehe, die moderne Familie, das väterliche Erbrecht, das Aufkommen exzessiver Gewaltformen, die Errichtung politischer Herrschaft und anderes mehr durchsetzt und damit der russischen Entwicklung ein strenggläubiges, orthodox geprägtes Patriarchat beschert, bleibt eine überlieferte, matriarchale Eigentumsform, das Gemeineigentum am Boden, erhalten.
Es wäre allerdings falsch, die russische Dorfgemeinde als unveränderliche Gesellschaftsform zu begreifen.
Wenn früher Boden, Höfe und Gerätschaften gemeinschaftlich genutzt und die Erträge der Arbeit gleich auf alle Mitglieder der Gemeinde verteilt wurden (artel), so modifiziert sich die russische Dorfgemeinde im Verlaufe der Jahrhunderte. Sie macht dem privaten Besitz am Hof und den Gerätschaften Platz, behält aber das Gemeineigentum am Boden bei (Ackerbaugemeinde).
Das Gemeineigentum am Boden realisiert sich über Jahrhunderte, bis zum Beginn der 1930er Jahre, in zwei Formen. Zum einen bleiben Seen, Flüsse, Wiesen, Wälder und Torfgebiete gemeinschaftlicher Besitz, der nach eingehender Beratung durch den Ältestenrat auch durch alle gemeinschaftlich bearbeitet wird. Diese auf Interessenausgleich ausgerichtete und Frieden stiftende Einrichtung, deren Produktionsergebnisse gleich und gerecht unter allen Gemeindemitgliedern verteilt wird, erhält die Bezeichnung mir.
Der übrige Boden wird – in sogenannten Umteilungen (peredeli) – nach Beratung durch den Ältestenrat an die patriarchal organisierten Familien verteilt und so der privaten Nutzung zugänglich gemacht.
Während in Asien und Westeuropa das Gemeineigentum am Boden sehr früh untergeht und dem Fortschritt des Privateigentums der Bauern am Boden Platz macht, bleibt diese modifizierte Form in Russland erhalten. In ihrem Dualismus von allgemeiner Gleichheit und differenzierender Individualität, ist sie weit genug, um alle geschichtlichen Wendungen zu überstehen.
Die periodisch vollzogenen Umteilungen des Bodens folgen nicht dem verwandtschaftlichen Prinzip und sie berücksichtigten auch die Eingliederung von Kriegsgefangenen, von Sklaven (cholopy) oder auch von Mietlingen (zakupy), die sich aufgrund einer Missernte oder Krankheit an ihren Feudalherren verkaufen müssen (Schuldknechtschaft).
Der rechtlich freie männliche, der Familie vorstehende Bauer, der im Verband der Dorfgemeinde (volost’) Stimmrecht hat, der sich seinen Herren frei wählen darf (Abzugsrecht), der von seiner und seiner Familie Hände Arbeit lebt und im Kollektiv der Dorfgemeinde Steuern, Zinsen und Abgaben entrichtet, ist die tragende Säule des bäuerlichen Russlands. Von ihm nähren sich sowohl seine Herren als auch über zweihundert Jahre hinweg die mongolischen Besatzer.
Als Iwan Grosny durch Errichtung der opričnina mehr und mehr Landstriche verwüstet und ohne Rücksicht auf Verluste sein bluttriefendes Eigentum schafft, wandern immer mehr Bauern in unerschlossene Landstriche aus. Infolge dessen verarmt der Landadel, und um die Einnahmequelle zu sichern, werden die Läuflinge am davon Laufen gehindert. Die russische Leibeigenschaft ist entstanden, die den Bauern an seinen Grundherren bindet.
Die ausgewanderten Bauern werden zu schwarzen Bauern, zu Staatsbauern, die, vermittelt über ihre Dorfgemeinden, Tribute an den Zaren entrichten. Die Dorfgemeinde nimmt in diesem Zusammenhang einen herausragenden Platz ein. Sie trägt dafür Sorge, dass im Kollektiv die Abgaben und Steuern erarbeitet und abgeführt werden, und sie haftet kollektiv für die Flucht von Läuflingen.
Es bleibt festzuhalten: Die russische Geschichte vererbt den sozialistischen Revolutionären eine spezifische Form des bäuerlichen Gemeineigentums, das Grundlage einer egalitären, vielleicht sozialistischen Entwicklung hätte sein können. Der Leser erahnt schon, welches Danaergeschenk die Geschichte bereithält und welches Paradoxon in den Aufbau des Sozialismus hineinragt.

Die russische Dorfgemeinde
– eine Kontroverse zwischen Marx und Lenin

Im März 1881 richtet Vera Iwanowna Sassulitsch, eine ehemalige Volkstümlerin, aus dem schweizerischen Exil heraus, das sie gemeinsam mit Georgi Plechanow und Pawel Axelrod teilt, einen Brief an Marx, der zu diesem Zeitpunkt gesundheitlich schwer angeschlagen ist und zwei Jahre später verstirbt.
Die russische Frage trifft Marx also an seinem Lebensabend. Sein Lebenswerk hat er vollbracht, und er kann rückblickend urteilen.
Sassulitsch fragt Marx, ob die von ihm im Buch „Das Kapital“ dargestellte gewaltsame Trennung der englischen Bauern von ihrem Boden (Synonym dafür ist der Begriff „Kaudinisches Joch“) eine historische Notwendigkeit sei, also auch Russland erfassen müsse, oder ob er die Chance sieht, die russische Dorfgemeinde zu erhalten und von hier aus zum Sozialismus überzugehen.
Der Antwortbrief ist knapp gehalten, trotzdem aufschlussreich und beinhaltet drei Aussagen.
Erstens: Der beschriebene Formenwandel des Privateigentums, weg vom bäuerlichen zersplitterten Privateigentum am Boden hin zum kompakten (privat)kapitalistischen Eigentum war eine Voraussetzung für das Entstehen des westeuropäisch geprägten Kapitalismus. Es handelt sich hier um ein Spezifikum und keine allgemeingültige Entwicklung.
Zweitens: Die Liquidierung der russischen Dorfgemeinde würde nicht eine Form des Privateigentums in eine andere überführen (wie in Westeuropa), sondern Gemeineigentum müsste dem Privateigentum weichen. Die im Kapital angestellten Überlegungen haben diese Problemstellung nicht berührt und können daher weder für noch gegen die russische Dorfgemeinde ins Feld geführt werden.
Drittens: Die ausführlichere Beschäftigung mit der russischen Frage und das damit verbundene Quellenstudium (in Originalsprache) veranlassen Marx, in der Dorfgemeinde den Ausgangspunkt und Anker der sozialen Wiedergeburt Russlands zu erkennen. Damit sie in diesem Sinne wirken könne, müsste man sie vor allen zerstörenden Einflüssen (hauptsächlich den Attacken der zarischen Bürokratie) bewahren und ihr dann die normalen Bedingungen einer natürlichen Entwicklung sichern.
Es spricht für den Wissenschaftler Marx, dass er in der westeuropäischen Entwicklung ein Spezifikum erkennt und unvoreingenommen an eine neue (eurasische) Problemstellung herangeht. Festzuhalten ist: Er disqualifiziert die russische Dorfgemeinde nicht, sondern sieht gute Gründe, sie zu erhalten.
Wie sich später zeigt, hat Marx die russische Frage weit ausführlicher beschäftigt, als das in seinem Antwortbrief vom 8. März 1881 zu erkennen war.
Er entwirft drei Briefe, deren Originale Anfang der 1920er Jahre in den Besitz des russischen Staatsarchivs für sozialpolitische Geschichte übergehen. Im Jahr 1924 werden die Briefe in der Originalsprache veröffentlicht. Das Vorwort dazu hat Boris Iwanowitsch Nikolajewski verfasst, der 1922 emigriert ist und bis dahin Leiter des Staatsarchivs war. Im gleichen Jahr werden die Briefentwürfe von David Borissowitsch Rjasanow (Leiter der ersten MEGA und des Marx-Engels-Institutes, Parteiausschluss 1931, erschossen 1938) in russischer Sprache herausgebracht.
Folgende Frage stellt Marx in allen drei Briefentwürfen in den Mittelpunkt: Kann die russische Dorfgemeinde die kapitalistische Entwicklung überdauern und zum Ausgangspunkt einer sozialistischen Entwicklung in Russland werden. In allen drei Schriftstücken antwortet er mit Ja.
Die russische Dorfgemeinde ist seiner Ansicht nach von zersetzenden inneren und äußeren Einflüssen bedroht, aber noch intakt. Es lohnt sich, sie zu erhalten und den Bauern das Kaudinische Joch zu ersparen.
Dieser Ansicht entgegengesetzt sind die Auffassungen der bolschewistischen Revolutionäre.
Lenin veröffentlicht im Jahr 1899, also nur 18 Jahre nach Marx’ Studien zur russischen Frage, seine Schrift „Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland“.
Lenin weint hier der russischen Dorfgemeinde keine Träne nach. Im Gegenteil, er sieht ihre Auflösung als notwendig, ja fortschrittlich an. Er erkennt nichts Bewahrenswertes an ihr, sondern sieht sie als Überbleibsel der mittelalterlichen Vergangenheit. Die Gemeinschaftlichkeit der Produktion und die Solidarität der russischen Bauern behindern in seinen Augen die Mobilisierbarkeit des Bodens und das Freisetzen von Arbeitskräften für die aufstrebende Industrie.
Seine Abwehrhaltung gegenüber der Dorfgemeinde speist sich aber noch aus weiteren Quellen.
So entdeckt Lenin im oben erwähnten Buch die Klassenspaltung in Dorfbourgeoisie und Dorfproletariat. Marx hat, erstaunlicher Weise, kurz vorher einen solchen tiefgreifenden Wandel nicht bemerkt. Zu seiner Zeit ist die feudale Klassenteilung in Russland (100 Millionen Menschen sind Bauern und etwa zwei Millionen Menschen stellen den Adel und seinen Beamtenapparat) noch intakt.
Scheinbar hat sich innerhalb weniger Jahre in dem traditionsschweren Russischen Imperium eine Revolution unerhörten Ausmaßes vollzogen. Zwei neue Klassen seien entstanden und Russland sei in toto zu einem kapitalistischen Land geworden.
Während Marx die Klassenzugehörigkeit von Menschen über ihren Besitz/Nichtbesitz an Produktionsmitteln definiert, geht Lenin in Ausarbeitung seiner Klassentheorie einen anderen Weg. Zur Dorfbourgeoisie zählt für ihn, wer wohlhabend ist. Nachdem im Jahr 1861 die Beseitigung der Leibeigenschaft eingeläutet wird, führen die politischen Ausführungsbestimmungen zu einer deutlicheren Differenzierung in reichere und ärmere Bauern.
Man kann sich aus der Leibeigenschaft nur loskaufen, indem man 20 Prozent der Ablösesumme in bar bezahlt und den Rest über 49 Jahre Abarbeit (gegenüber dem adligen Grundherrn) abstottert.
Etwa 30 Prozent der Bauernfamilien besitzen kaum Geldmittel und begeben sich zeitweilig und freiwillig in den Dienst reicherer (Kulaken) Familien. Sie wollen so schnell als möglich so viel Bargeld erwirtschaften, damit auch sie sich den Schritt in die Freiheit erkaufen können.
Wenn sie dann die Mittel zum Freikauf zusammengetragen haben, werden sie nicht zu Privatbesitzern am Boden, sondern bringen – wie ihre reicheren Klassengenossen – den so erlangten Bodenbesitz als Gemeineigentum in die Dorfgemeinde ein. Im Gegenzug erwirtschaftet die Dorfgemeinde kollektiv den Schuldendienst gegenüber den adligen Gläubigern.
Sie bleiben also an allen Fronten innerhalb ihrer Klassenzugehörigkeit, sie bleiben gemeinschaftliche Eigentümer der mir und des Ackerbodens. Sie bleiben Privatbesitzer ihres Hofes. Sie bleiben stimmberechtigte Mitglieder der Dorfgemeinde. Sie nehmen an den Umteilungen teil und ernähren sich wie eh und je über ihrer Hände Arbeit (im patriarchalen Familienverbund). Sie sind keine eigentumslosen Dorfproleten, die ausschließlich von Lohn leben, sie zahlen keine Miete und wohnen in eigenen Häusern. Sie verkaufen sich nicht permanent, sondern zeitweise. Der Zweck der Unterordnung ist nach wie vor eine Stärkung des Gemeineigentums der gesamten Gemeinde.
Das heißt, auch wenn sie Lohn in Geldform erhalten, sind sie bei weitem noch keine Lohnarbeiter im klassischen Sinn.
Lenin vertieft die Kontroverse mit Marx noch durch einen zweiten Umstand.
Dem Klassenmerkmal wohlhabend zu sein fügt er eine willkürlich erhobene Bemessungsgrundlage hinzu. Wohlhabend sind in seinen Augen nur jene Bauern, die mehr als ein Pferd besitzen.
So werden 25 Millionen Bauern zu Proletariern und 65 Millionen Bauern werden zu Bourgeois (Kulaken).
Auch das ist ein Novum in der Weltgeschichte. Die Ausbeuter sind den Ausgebeuteten zahlenmäßig weit überlegen, und ihre Existenz entsteht nicht durch objektive Umstände, sondern durch die rein subjektive und willkürliche Zuteilung eines Klassenstatus. Indem man den Klassenkampf zwischen diesen beiden Klassen entfacht, mit dem Ziel die Dorfbourgeoisie zu enteignen, meinen Lenin und seine Getreuen, zum Sozialismus voranschreiten zu können.
Lenin nährt seine Begründungen für die Überwindung des russischen Kapitalismus und den Übergang in eine sozialistische Entwicklung – ohne Beteiligung der russischen Dorfgemeinde – noch aus einer anderen, mehr theoretischen Quelle.
Für ihn ist das Produzieren von Waren gleichbedeutend mit Kapitalismus.
Auf den ersten Blick scheint das stimmig zu sein. Selbstverständlich werden im Kapitalismus Waren hergestellt. Aber auch in vorkapitalistischen Gesellschaften werden Waren produziert. Es muss also einen Unterschied geben. Kurz gesagt besteht er darin, dass die Ware eine neue Qualität annimmt, weil der ihr anhaftende, jahrtausendalte Tauschwert, in eine neue hypermotorische Form springt. (In meiner Darstellung die WERTform der Ware genannt.)
Indem Lenin diesen Unterschied nicht erfasst (aus welchen Gründen auch immer) gelingt es ihm, die russische Gesellschaft in Gänze zur kapitalistischen zu machen, obwohl sie das so nur in geringen Teilen oder Ansätzen ist.
Durch die Reduktion von Kapitalismus auf Warenproduktion gerät vor allem auch das Spekulative am Handel in den Bereich moralischer Verwerflichkeit und wird zum Betrug.
Sich an der Not anderer dumm und dämlich verdienen, indem man – den Bedürfnissen folgend – Waren transportiert und sie anderswo für mehr Geld verkauft, als man sie eingekauft hat, das wird zum Sinnbild für die Verwerflichkeit des Kapitalismus und seiner Überwindung in einer neuen, sozialistischen Gesellschaft.

Die Transformation der zarischen
zur bolschewistischen Bürokratie

Es ist unter warägischen Herrschergeschlechtern seit Entstehen der Kiewer Rus gängige Praxis, zurückgesetzte Erbansprüche mittels Abfindung zu befrieden.
Eine Ausdehnung dieser Praxis zur Gewinnung einer Verwaltungselite kristallisiert sich mit den politischen und geistlichen Umbrüchen Ende des 15. Jahrhunderts heraus.
Iwan III. (1462 bis 1505) kann im Zuge des Niedergangs der Mongolenherrschaft große Territorien auf sich vereinen. Dieser Zuwachs an Macht erfordert eine verwaltungstechnische Absicherung. Er beginnt, neben dem Erbadel, einen Dienstadel mittels Apanage zu installieren. Sein Nachfolger Iwan IV. (Grosny) setzt das fort, instrumentalisiert den Dienstadel und führt ihn in der opričnina gegen die weltliche Macht alteingesessener Erbadelsgeschlechter sowie der Klöster und festigt darüber seine separate Macht als erster inaugurierter Zar.
Man kann festhalten: Die Gründung der Zarenherrschaft mittels Macht- und Eigentumskonzentration ist geschichtlich mit dem Entstehen des Dienstadels, einer militärfachlichen und verwaltungstechnischen Elite, verbunden. Sie entfaltet ihren Einfluss mit der Entwicklung der Zarenmacht und erfährt besonders unter Zar Peter I. (1682 bis 1725) eine deutliche Aufwertung.
Er verfügt eine Rangtabelle (mestničestvo) und ermöglicht fähigen Unteroffizieren oder Verwaltern einen direkten Aufstieg über Laufbahnstufen. Der Dienstadel nimmt mehr und mehr Beamtenfunktionen wahr und wird aufgrund seiner Sachkenntnis zu einer unentbehrlichen Stütze.
Das Zentrum der Machtausübung befindet sich in St. Petersburg. Im Jahr 1726 werden dort 2500 Staatsdiener verzeichnet. Da in Moskau einige Verwaltungsstrukturen gedoppelt werden, entsteht auch dort eine Beamtenschicht, der zum gleichen Zeitpunkt in etwa 1500 Beamte zuzurechnen sind.
Regiert wird über den ukaz (Erlass), so wie es die mongolischen Besatzer vorgelebt haben. Die Staatsdiener geben sich als kleine Zaren aus, die im Abglanz des großen Autokraten herrschen dürfen.
Unter Zarin Katharina II. (1762 bis 1796) expandiert das russische Reich kräftig und wird zum Imperium. Die Verwaltungsstrukturen werden zum einen inhaltlich strukturiert und zum anderen erfolgt eine Reform regionaler Verwaltungen (zemstva). Die Zahl der Staatsdiener mit Adelstitel steigt im Jahr 1763 auf 16.504.
Der Fortschritt des Parlamentarismus, den die Französische Revolution gebracht hat, erschüttert auch die verkrustete Autokratie in Russland.
Um nicht hoffnungslos zurückzubleiben, führen im Jahr 1825 Beamtenadlige, die über die Rangtabelle aufgestiegen sind, einen Staatsstreich durch (Dekabristen-Aufstand). Ihre Ziele sind die Schaffung von Volksvertretungen, das Erarbeiten einer Verfassung und die Aufhebung der Leibeigenschaft.
Der Aufstand wird brutal niedergeschlagen und die zarische Geheimpolizei ochrana entsteht. Trotzdem bleibt festzuhalten, dass sich die Beamtenschaft von der Autokratie zu entfernen und im Interesse nationaler Entwicklungen zu handeln beginnt.
Ab dem Jahr 1830 wird der Staatsdienst für qualifizierte Bewerber geöffnet. Der Erbadel behält nur das Privileg, die Laufbahnstufen schneller durchlaufen zu können.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts sind 295.943 Beamte über die Rangtabelle aufgestiegen und verfügen über einen Erbadelstitel. Der Hochadel verachtet diese Parvenüs, ähnlich wie der westeuropäische Adel die „Bürgerlichen“ verachtete. Das Herkunftsprinzip reicht für den Aufstieg in Ministerien und Verwaltungen nicht mehr aus. Der Beamtenadlige ist hoch qualifiziert, und er erhält ein Gehalt. Der konservative Erbadel zieht sich mehr und mehr aus den Verwaltungen auf seine Liegenschaften und in die Armee zurück. (Dort wird er in der Februarrevolution 1917 ausgeschaltet.)
Der Staatsapparat, so wird deutlich, kommt auch ohne den Erbadel aus. Er gelangt zunehmend in die Hände aufgeklärterer, liberalerer beamtenadliger Staatsdiener, die die Abschaffung der Leibeigenschaft vorantreiben und die Russland industrialisieren (wollen).
An der Schwelle zum 20. Jahrhundert hat sich in Russland der Adel in eine konservative und eine liberalere Strömung aufgespalten. Der liberale Flügel übernimmt Aufgaben und Funktionen im Staat, die in Westeuropa von einem aufgeklärten Bürgertum und der von ihm beauftragten Institutionen wahrgenommen werden. In Russland dagegen muss kein Umweg genommen werden, um über demokratische Willensbildung hin zu einer staatlich institutionellen Machtausübung zu gelangen. Die Bürokratie sitzt im Staat und wird nicht von Kräften außerhalb (die es nicht gibt) beauftragt.
Auf diese Konstellation stoßen die russischen Revolutionäre im Jahr 1917.
Sie erheben in ihrer Revolutionstheorie den Anspruch, den Staatsapparat zerschlagen zu wollen/müssen.
Lassen wir diesen Anspruch durch die Wirklichkeit des revolutionären Geschehens überprüfen.
Am 8. November 1917 konfrontieren die Bolschewiki den Zweiten Allrussischen Sowjetkongress mit der Nachricht: Wir haben gestern Nacht, ohne Eure Zustimmung und ohne Euer Zutun, eine Regierung gebildet, den Rat der Volkskommissare. Ihr könnt nun diskutieren, aber die Spitze des Staatsapparates haben wir schon in der Hand.
Die Konsequenz, die auf diesen Husarenstreich folgte, bestand darin, nun die Macht gegen die Sowjets absichern zu müssen.
Da die wenigen Berufsrevolutionäre, die die Spitze des Staates besetzt hatten, über keinen Instanzenbezug zur lokalen Ebene verfügten, übernahmen sie stillschweigend das vorhandene zarische Regierungspersonal.
Innerhalb einer weltgeschichtlichen Sekunde migrierten Teile des zarischen Beamtenadels in den neuen Staat. Das Neue war im Alten gewachsen und sprang in eine neue Qualität. Bolschewistische Führungspersönlichkeiten und gewendete zarische Beamte verschmolzen in Folge zu einem Amalgam und konstituierten ein neues Geschichtssubjekt – die bolschewistische Bürokratie.
Das Regieren über Befehl und Erlass war sie gewohnt. Die Gewaltanwendung, die sie im Namen des Zaren auszuüben hatte, lag ihr nicht fern und musste nur neu legitimiert werden.
Das Entstehen einer staatlich organisierten Gewaltbürokratie, die sich dem sozialistischen Aufbau zuwandte, wetterleuchtete am geschichtlichen Horizont.
Ich möchte hier aus der historischen Analyse einen Schritt zurück treten und die Frage aufwerfen, ob in Gestalt der Sowjetunion nicht eine völlig andere als die angenommene sozialistische Gesellschaftsform im Entstehen begriffen war?
Offensichtlich fehlte die wichtigste Voraussetzung, die bürgerliche Gesellschaft.
Denn nur unter dieser Bedingung hatte Marx seine zaghaften und spärlichen Prognosen zum Sozialismus entwickelt.
Kann es sein, dass wir bis heute etwas anderes glauben und meinen, wenn wir von Sozialismus in der Sowjetunion reden? Kann es sein, dass uns die Geschichte genarrt hat und wir eine Gesellschaftsform außerhalb unserer gängigen theoretischen Vorstellungen von Sozialismus zu analysieren haben?
Und in Hinblick auf die russische Dorfgemeinde ist zu fragen, ob nicht in ihr der Ansatz für eine mögliche sozialistische Entwicklung lag, der dann später, ab 1928, vernichtet wurde.
Die bisherige Analyse veranlasst mich, den real existierenden Sozialismus als etwas anderes als das bis dato Angenommene zu charakterisieren.
In den folgenden Essays wird deutlicher werden, was ich meine.
Doch bis dahin muss uns die Geschichte noch einiges offenbaren.

Die russische Dorfgemeinde in der 1917er Revolution
und ihre Entwicklung bis Ende der 1920er Jahre

Der Erste Weltkrieg verschmilzt die Forderungen der Bauern und ihrer städtischen Klassenbrüder zu einer Einheit. Brot und Frieden, das sind gleichwertige Losungen, die aus den Schützengräben heraus in eine Revolution drängen.
Mitte Februar 1917 verdichten sich Streiks in und um St. Petersburg. Was Zar Nikolaus II. als Hungerrevolte missdeutet, entpuppt sich als Generalstreik und mündet im politischen Aufstand.
Am 21. Februar 1917 sollen Kosaken (Bauern) die Demonstranten (Arbeiter) auf dem Newski-Prospekt zusammenschießen. Doch sie verbrüdern sich mit den Hunderttausenden. Am 3. März 1917 dankt Zar Nikolaus II ab. Die Februarrevolution nimmt Fahrt auf, und die in den Städten entstehenden Arbeiter- und Soldatenräte (Sowjets), die unter Führung der Menschewiki stehen, teilen sich die Macht mit der Provisorischen Regierung.
Viele einflussreiche Bolschewiki kehren aus dem westeuropäischen Exil zurück, und Lenin zieht Trotzki auf seine Seite. Mit diesem Coup erlangen die Bolschewiki Einfluss auf die Sowjets, in denen sie bis dahin kaum vertreten waren.
Das Kräftemessen zwischen Bolschewiki, Menschewiki, Sozialrevolutionären und Kadetten, zwischen Sowjets und Provisorischer Regierung ist hinlänglich erforscht und jetzt nicht Gegenstand meiner Überlegungen.
Was ich in den Mittelpunkt stellen möchte, ist die Frage, wie verhalten sich 85 Prozent der Bevölkerung, wie verhalten sich die 100 Millionen Bauern? Bis auf die Tatsache, dass Bauern(soldaten) in die Sowjets gewählt worden sind, verharrt das bäuerliche Russland in erwartungsvoller Spannung. Werden die Revolutionäre auch ihre wichtigste Forderung aufnehmen? Adelsland in Bauernhand.
Da nichts dergleichen bis in den Sommer 1917 hinein passiert ergreifen die Dorfgemeinden vorsichtig die Initiative. In der volost’ übernehmen sie unbesetzte Stellen in der Polizei, in der Justiz und in der Verwaltung. In einem zweiten Schritt erklären sie brachliegenden (Adels-)Boden zu ihrem Eigentum und nehmen ihn in die Umteilungen auf. Diese Nachricht verbreitet sich unter den Bauernsoldaten an der Front wie ein Lauffeuer. Aber die Provisorische Regierung zögert die versprochene Landvergabe des gesamten Gutsherrenlandes immer weiter hinaus. Im Früherbst 1917, nach eingebrachter Ernte, reißt der Geduldsfaden der Bauern. Sie stürmen die Adelsnester und nehmen sich das fruchtbare Land, das ihnen auch nach der Beseitigung der Leibeigenschaft vorenthalten geblieben war. Hunderttausende Bauernsoldaten desertieren im Oktober 1917, um an den schwarzen Umteilungen teilzunehmen.
Für die Bauern bringt der Verlauf der Februarrevolution folgende wichtigen Ergebnisse: den Sturz des Zaren (sprich: den Bruch der Adelsherrschaft) und die Enteignung gutsherrschaftlichen Bodens zugunsten der Dorfgemeinden.
Als die Bolschewiki im November nach der Macht greifen, sanktionieren sie die Enteignungen des gutsherrlichen Bodens und sichern den Dorfgemeinden, in Widerspruch zu ihrer prinzipiell ablehnenden Haltung, Existenzrecht zu. Lenin ist klug genug, die Dorfgemeinden nicht gegen sich aufzubringen. Sein taktischer Schwenk auf die Dorfgemeinden zu entfernt ihn aber seiner prätorianischen Basis.
Nachdem die russischen Revolutionäre die politische Macht wie eine reife Frucht geerntet haben, legen sie durch die Entmachtung der Sowjets und den Ausschluss aller anderen sozialen Strömungen von der Machtausübung die Grundlage für den Bürgerkrieg (1917 bis 1921). Die Anwendung exzessiver Gewalt nach innen wird zu ihrem Markenzeichen.
Als zu allem Unglück auch noch die ersehnte Weltrevolution ausbleibt, sehen sie sich plötzlich allein der Aufgabe eines sozialistischen Aufbaus gegenüber.
Ihre ersten Schritte in Richtung Sozialismus bestehen darin, die Warenproduktion abzuschaffen und zu kommunistischen Verteilungsprinzipien überzugehen. Im Klartext heißt das: die Bauern haben ohne Gegenleistung zu produzieren und große Teile der Ernte abzuführen.
Sonderbar, dass sie damit nicht einverstanden sind und sich gegen den Raub zu wehren beginnen. In die verbarrikadierten Dörfer werden proletarische, bewaffnete Requirierungstrupps geschickt, die die Dorfbourgeoisie (die von Lenin definierten 65 Millionen Kulaken) mit vorgehaltener Pistole zur Abgabe ihrer Vorräte veranlassen.
In den Städten verteilen sie die Beute nur an jene, die eine Arbeit nachweisen können. Der Paulinische Spruch: „Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen“ wird zum Programm.
Großbetriebe werden enteignet und an die Belegschaften übergeben. Da die Arbeiter aber eher an Lohnerhöhungen als an Arbeitsorganisation interessiert sind, gehen die enteigneten Betriebe in Staatsbesitz über.
In einem weiteren Schritt verstaatlichen die Bolschewiki die Banken. Wozu benötigt man die im Sozialismus? Die Bolschewiki vernichten alle Aktien und schaffen die Kreditvergabe ab. Übrig bleibt nur Bargeld, und um Löhne auszahlen zu können, wird die Notenpresse bedient. Das löst eine Hyperinflation aus.
Die von den Bolschewiki in den Anfangsjahren zu verantwortende Misswirtschaft führt zu gesellschaftlichem Niedergang. Streiks erschüttern die Städte, Betriebe stürzen in die Pleite, der Hunger wird zur Waffe der Bauern gegen die Städter, die Bauern erheben sich gegen die Plünderungen, Bauernaufstände erschüttern wie zu Zeiten Pugatschows den ländlichen Raum und als 1921 auch noch der Regen ausbleibt, stürzt das revolutionäre Russland in eine Hungersnot.
Da die Masse der städtischen Lohnarbeiter sowieso nur für die Wintermonate befristet in den städtischen Betrieben arbeitet, denn sie sind noch mit Land, Hof und Familie an die Dorfgemeinde gebunden, kehren mehr und mehr (Wander)Arbeiter den Städten ganz den Rücken und verbleiben in ihren Dorfgemeinden. Lenin muss 1921, nach vierjähriger Amtszeit feststellen, dass das Proletariat verschwunden ist. Das Einläuten der NÖP erfolgt vor dem Hintergrund, dass die Dorfgemeinde die einzige intakte (alt)gesellschaftliche Organisationsform geblieben ist.
Die ländliche „Bourgeoisie“ hat gewonnen. Die „Kulaken“ werden nicht weniger, sondern mehr.
Gab es 1903 nur zehn Millionen Bauernhöfe, so sind es im Oktober 1917 schon 16 Millionen. Und nur zehn Jahre später zählt die Sowjetunion 25 Millionen Bauernhöfe. Die vier Jahre Kriegskommunismus haben zwar den Bauern viel abverlangt. Aber in der Konsequenz geht die Dorfgemeinde gestärkt aus dieser Phase hervor.
Im März des Jahres 1921, als die Bolschewiki auch noch auf die putschenden Kronstädter Matrosen schießen lassen, reißt Lenin das Ruder herum und verkündet eine Phase der Stabilisierung (NÖP). Man muss erst einmal verschnaufen, eine Phase des Staatskapitalismus einläuten, bevor man eine zweite Tsunami revolutionärer Veränderungen auslösen kann.
Die sieben Jahre der NÖP stabilisieren das Land tatsächlich, und sie ermöglichen realgeschichtlich den Übergang in eine zivilisierte Industrialisierung, die nicht zu Lasten der Bauern gegangen wäre. Im Resultat hätte sie zu einer weiteren Stärkung der Dorfgemeinde und ihrer Egalitätsprinzipien führen können.
Vor allem zwei Namen sind mit diesem suchenden Vorantasten in einen neuen, unerforschten Sozialismus verbunden: Alexej Rykow (Vorsitzender des Rates der Volkskommissare von 1924 bis 1930, erschossen 1938) und Nikolai Bucharin (Leningetreuer und Liebling der Partei, erschossen 1938).
Beide haben den Kriegskommunismus maßgeblich gefördert, aber ihn in seinen Wirkungen als Fehler begriffen. Nun wollen sie die Landwirtschaft zum Motor der anstehenden Industrialisierung machen. Die Dorfgemeinden sollen freiwillig und zu ihren Gunsten in Landmaschinen, Traktoren, Infrastruktur und Bildung investieren. Im Ergebnis dieser Industrialisierung wären die Dorfgemeinden stärker denn je. Diese Konzeption kollidierte mit der Auffassung, in den fleißigen und wohlhabenden Mittelbauern die Dorfbourgeoisie zu sehen. Ein solches Herangehen verwischte die (vermeintlichen) Klassengegensätze und konnte nur Versöhnlertum sein.
Die innergesellschaftliche Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Strömungen gewinnt die konservative, gewaltbereite Fraktion um Stalin. In einem Auf und Ab, in das auch noch die Auseinandersetzung um Trotzki verwoben ist, gewinnen orthodox-stalinistische Kräfte die Oberhand und stellen die Weichen in Richtung einer zweiten grandiosen Klassenschlacht.

Das Kaudinische Joch

Ist es nicht eigentümlich, dass die entscheidende Phase des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion (die später als die Phase des Sieges der sozialistischen Produktionsverhältnisse bezeichnet wird) mit der Vernichtung des Gemeineigentums also der Zerschlagung der russischen Dorfgemeinde einhergeht?
Was ist das für ein Sozialismus, der die Grundlage seiner Existenz zerstört? Was ist das für ein Sozialismus, der diese Phase seiner gesellschaftlichen Entwicklung mittels eines Staatsterrorismus bisher unbekannten Ausmaßes durchsetzt und die Menschen so fest in das eiserne Band des Terrors schließt, dass dadurch der Raum des Handelns, als Maß individueller Freiheit, verschwindet?
Doch der Reihe nach.
Der Auslöser für die Zerschlagung der russischen Dorfgemeinde – sprich der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft – ist im Getreidestreik der sibirischen Bauern zu finden.
In den Jahren 1927/28 sind sie nicht mehr bereit, die staatlich verordneten Niedrigstpreise für den Verkauf ihres Getreides und die künstlich in die Höhe getriebenen Preise für Industriegüter zu akzeptieren. Sie drohen der Staatsmacht, indem sie Getreide zurückhalten und es erst dann an die kooperativen Handelsgenossenschaften verkaufen wollen, wenn jene ihnen höhere Preise zahlen.
Um Stalin haben sich mittlerweile die Reihen der gewaltausübungsfähigen und -bereiten Kräfte geschlossen. Ermöglicht wurde das, indem jeder Querdenker oder Querhandler politisch ausgeschaltet wurde. (Später, ab Mitte der 1930 Jahre, wird man sie auch physisch vernichten.) Trotzki, der Oppositionsführer, wird 1929 ins Asyl gedrängt. Rykow, der Regierungschef, wird 1930 abgelöst, Bucharin, der Vordenker, wird 1929 innerhalb der Partei isoliert und entmachtet. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen.
So wird der Weg frei, die seit 1921 innerhalb der bolschewistischen Bürokratie schwelende Systemfrage „wer wen“ zu stellen. Es sind die Klassenfeinde, die die Staatsmacht herausfordern!
Die Kulaken (die Dorfbourgeois) setzen den Termin für das Examen an, und es scheint doch nur legitim zu sein, sie in die Schranken zu weisen!
Mit Inkrafttreten des ersten Fünfjahrplanes 1928 setzt eine für die Menschheitsgeschichte bis dahin noch nie dagewesene Klassenschlacht ein, in deren Ergebnis die stalinistische Bürokratie bluttriefend als Sieger hervorgeht. A. Ciliga, der die 1930er Jahre als Sozialwissenschaftler miterlebt hat, vergleicht diese Zeit mit der Epoche des Frühkapitalismus, die nichts mit dem Kampf freier Arbeiter für ein Jahrhundert des Sozialismus gemein hatte.
Stalin verlässt 1928 (und er wird es erst im Zweiten Weltkrieg wegen der Treffen mit Roosevelt und Churchill wieder tun) seinen Herrschaftssitz im Kreml. Er fährt nach Sibirien. Als er nach wenigen Wochen zurückkehrt, gibt es kein Halten mehr. Die Direktiven überstürzen sich. Der Zusammenschluss in Kooperativen wird gestoppt, die Warenproduktion wird aufgehoben, der Warenhandel ausgesetzt und die Zerschlagung der russischen Dorfgemeinde begonnen.
Bevor ich das näher beschreibe, möchte ich noch einmal die Struktur der russischen Bauernklasse darstellen. Etwa drei Prozent der Bauern haben Ende der 1920er Jahre größeren Reichtum erlangt. Man könnte sie als Kulaken bezeichnen, wenn Reichtum ein Klassenmerkmal wäre. Ungefähr 20 Prozent der Bauern sind arm (bednjaki). Die große Masse der Bauern, also 77 Prozent, sind wohlhabende Mittelbauern (serednjaki). Adligen Grundbesitz gibt es nicht mehr, er ist 1917, vor Ausbruch der Oktoberrevolution, beseitigt worden.
Die russische Dorfgemeinde schließt diese drei bäuerlichen Schichten in sich ein.

Die erste Etappe der Zerschlagung der russischen Dorfgemeinde
(Januar 1930 bis November 1930)

Der Mittelbauer wird undifferenziert als Kulak (Klassen- oder Volksfeind) eingestuft, und aus diesem Pool separieren staatliche Einrichtungen Menschengruppen:

  • Ungefähr 63.000 Familien werden als Konterrevolutionäre eingestuft, die entweder sofort erschossen oder in die Gulags abtransportiert werden (= 378.000 Menschen).
  • 150.000 Familien (= 900.000 Menschen) werden an den Ural oder nach Kasachstan zwangsumgesiedelt. Sie werden innerhalb von Stunden von ihren Höfen vertrieben, in Viehwaggons eingepfercht und unter schlimmsten Bedingungen bis zu zwölf Tagen Dauer abtransportiert. In der Steppe oder in der Tundra ausgesetzt, beginnen sie, sich eine neue Existenz aufzubauen.
  • Die dritte Gruppe bilden die 852.000 Familien (= 5,1 Millionen Menschen), die man zwar in den Dörfern belässt, denen man aber ihre fruchtbare Parzelle wegnimmt. Sie werden auf Armutsböden umsetzt.

Parallel dazu werden Dorfversammlungen einberufen, an denen diese drei Menschengruppen nicht teilnehmen dürfen und die Kolchose (kollektivnoje chosaistwo) wird gegründet. Der gewählte Kolchosvorsitzende ist (ein bewaffneter) Staatsfunktionär, dem ein (bewaffneter) Parteisekretär an die Seite gestellt wird.
Ende Februar 1930 sind 57 Prozent der sowjetischen Bauernfamilien den Kolchosen beigetreten.
Die Dorfgemeinde ist faktisch noch am Leben, aber durch die Enteignungen und die deutlich sichtbare Gewalt schon geschwächt. Es finden noch Umteilungen statt, an denen die Kolchose als kompaktes staatliches Gebilde teilhat.
Da die Separierung der Menschengruppen willkürlich verläuft, wächst der Widerstand, und die Situation in den Dörfern wird immer explosiver.
Stalin, als perfider Taktiker, macht in einem Prawda Artikel vom 2. März 1930 lokale Kader für Auswüchse verantwortlich und verweist auf die Freiwilligkeit der Zusammenschlüsse.
Innerhalb von drei Monaten tritt die Hälfte der kollektivierten Bauern wieder aus den Kolchosen aus.
Anfang Oktober ist die Kollektivierungsquote auf den Stand von Januar 1930 zurückgefallen.
Die Dorfgemeinde erhebt wieder ihr Haupt.

Die zweite Etappe der Zerschlagung der russischen Dorfgemeinde (1932)

In dieser Phase geht es darum, die nachwachsende Schlangenbrut der kapitalistischen Ausbeuter in den Dörfern zu vernichten. Der Unterkulak (podkulak) wird erfunden. Erneut werden Menschengruppen, jetzt ergänzt durch Vorschläge aus den Kolchosen, eingeteilt:

  • 400.000 Bauernfamilien (= 2,4 Millionen Menschen) werden enteignet und in die Gulags verbracht. Ihr Eigentum geht in Kolchosbesitz über.
  • 350.000 Bauernfamilien (= 2,1 Millionen Menschen) werden zwangsumgesiedelt (Tundra, Ural, Kasachstan). Auch ihr Eigentum geht in Kolchosbesitz über.
  • Weitere 450.000 Familien (= 2,7 Millionen Menschen) werden innerhalb des Dorfes auf Armutsböden umgesetzt.

250.000 Bauernfamilien (= 1,5 Millionen Menschen) entkulakisieren sich selbst, das heißt sie vernichten ihren Besitz oder verkaufen ihn für einen Spottpreis an die Kolchose. Die Kolchose gelangt auf diesem Wege in den Besitz der Pferde und leiht sie, gegen Entgelt, an ihre Mitglieder aus.
Dieser Schlag gegen die Dorfgemeinde ist tödlich. Ihre Organisationskraft wird zum Erliegen gebracht, und die neue Organisation (Kolchose) ist noch nicht voll handlungsfähig. Als 1933 der Regen ausbleibt und die stalinistische Bürokratie die Getreideexporte in die Höhe treibt, bricht sich die Gesellschaftskatastrophe einer Hungersnot (Holodomor) Bahn. Vor allem in der Ukraine (der Kornkammer) und in Kasachstan verhungern zwischen 1932 und 1933 drei bis sieben Millionen Bauern.
Mitte der 1930er Jahre haben die Bauern begriffen, dass sie geschlagen sind. Bis 1936 treten 91 Prozent der Bauernhöfe den etwa 240.000 Kolchosen bei.
Diese Enteignung/Erniedrigung der russischen Bauern ist historisch etwas völlig Neuartiges und zu dessen sozialkritischer Wertung und Bewertung komme ich später.
Nur so viel sei vorab angemerkt. Wir haben mit dem, was wir in der Sowjetunion bisher in offizieller wie in allgemeiner Lesart als Sozialismus bezeichnen etwas anderes vor uns, als bisher angenommen. Da dieses Andere jedoch von geradezu erdzeitalterlich dimensionierten Sedimentschichten immer wieder perpetuierter parteioffizieller Narrative überlagert ist – beginnend mit Lenins Schriften und mit einem Katechismus in Gestalt von Stalins „Kurzer Lehrgang der Geschichte der KPdSU (B)“, der nach 1945 auch ganz Osteuropa oktroyiert wurde –, muss man die Analyse rekonstruierend angehen, quasi soziologische Archäologie betreiben, wenn man zu einer schlüssigen Bewertung dieser Gesellschaftsform gelangen will.
Kritiker meiner Artikelserie werden mir vorwerfen, ich hätte mich mit meiner Eingrenzung auf die russische Dorfgemeinde zu weit eingeschränkt. Ohne Zweifel, es handelt sich um eine Einschränkung. Man könnte daraus aber nur begründete Kritik ableiten, wenn sie an der Herausarbeitung des Wesentlichen vorüberginge oder davon ablenkt.
Das, so meine ich, kann man mir nicht vorwerfen. Im Zuge der Artikelserie war ich gehalten, über einen durchgehenden Entwicklungsstrang beim Leser die Bereitschaft zu erzeugen, Zweifel am vorhandenen Sozialismusbild als begründet anzuerkennen.

Die Entwicklung von Lohnarbeit
in der Sowjetunion – ein Paradoxon

Schulterzuckend könnte man meinen: Was ist Aufregendes daran, in der Sowjetunion die Existenz und die Entwicklung von Lohnarbeit festzustellen? Seine Arbeitskraft verkaufen müssen, weil man sonst nichts anderes zur Absicherung des Lebensunterhaltes hat, das ist doch etwas völlig Normales.
Unter Kapitalverhältnissen ist es das. Unter sozialistischen Verhältnissen, die den Kapitalismus hinter sich lassen (wollen), ist es das nicht. Denn Lohnarbeit beschreibt immer ein Abhängigkeitsverhältnis, das zum Kapital.
Und das sollte eine sozialistische Gesellschaft doch wohl nicht nötig haben?
Schauen wir kurz auf die Entwicklung der Lohnarbeit in Russland, vor der 1917er Revolution.
Bis Mitte des 19. Jahrhunderts verharrt Russland ausschließlich in feudalen Produktionsverhältnissen. Die Dorfgemeinden sind unter der Leibeigenschaft angehalten, ein Abwandern von Arbeitskräften in die Städte nicht ohne Genehmigung zu dulden. Der Ältestenrat befindet über die Abwanderung von Männern in die Städte und stellt Pässe aus. Wenn dann die otchodniki (Auszügler) als Lohnarbeiter in die Städte abwandern dürfen, sind sie höchstens Wanderarbeiter, weil sie sich spätestens zur Ernte wieder bei ihren Familien und in der Dorfgemeinde einfinden.
Im Jahr 1860 verzeichnet Russland vier Millionen Wanderarbeiter, im Jahr 1913 sind es 17,4 Millionen (bei 159 Millionen Gesamtbevölkerung).
Die reinen industriellen Lohnarbeiter, die dauerhaft in den Städten von Lohnarbeit leben und das dörfliche Eigentum vollständig abgestreift haben, sind die marginale Ausnahme und stellen weniger als drei Prozent der Bevölkerung.
Während in Westeuropa die industrielle Lohnarbeit schon seit zweihundert Jahren gewachsen und Anfang des 20. Jahrhunderts die bäuerliche Subsistenzwirtschaft abgelöst hat, befindet sich Russland noch in einem unentschiedenen Schwebezustand.
Mit der Abschaffung der Leibeigenschaft haben die aufgeklärten zarischen Bürokraten den Umstieg des Landes in eine westlich orientierte Produktionsform im Auge. Es soll ermöglicht werden, ohne Restriktionen die Dorfgemeinde verlassen und zur Lohnarbeit in die Städte abwandern zu können. Dem stehen jedoch weiterhin zwei Hindernisse im Weg.
Zum einen steigt der Adel nicht in breiter Front aus seinen angestammten Verhältnissen aus und überläßt so ausländischem Kapital den Einstieg in ein Erschließen von Rohstoffreserven und in die Industrialisierung Russlands. Zum anderen haben die Bauern keine Not, ihre Dörfer verlassen zu müssen. Gewinnt doch die Dorfgemeinde durch Abschaffung der Leibeigenschaft weiter an Bedeutung. Die Bauern (ob arm oder reich) bringen ihr mühsam erkämpftes und dem Adel abgekauftes Land als Gemeineigentum in die Dorfgemeinden ein und diese haftet im Kollektiv für die Schulden des Einzelnen.
Dieses „Bausparen“ zementiert die dörflichen Strukturen auf einem riesigen Territorium, anstatt sie zugunsten einer städtischen Prosperität aufzulösen. Auch die Revolutionen von 1905, von 1907 und die von 1917 ändern an diesem Umstand wenig. Ausdrücklich festigt die 1917er Revolution die Rolle und die Bedeutung der russischen Dorfgemeinde. (Im Widerspruch zu den Auffassungen der Falken unter den Bolschewiki.)
Schauen wir nun noch einmal zusammenfassend auf die Entwicklungen nach 1917. Der Irrwitz des Kriegskommunismus, den die Bolschewiki zu verantworten haben, treibt die, in zaghaften Ansätzen entstandenen Lohn(wander)arbeiter wieder zurück in ihre Gemeinden. Das Proletariat, so muss Lenin 1921 feststellen, ist verschwunden. Die Hofgründungen nehmen nach 1917 explosionsartig zu. Geht man davon aus, dass ein russischer Bauernhof zwischen vier bis sechs familiäre Arbeitskräfte bindet, so werden von 1917 bis Mitte der 1920er Jahre rund 50 Millionen Menschen in den Dörfern sesshaft.
Wäre es nicht dringend nötig gewesen, dieser festen Bindung Russlands an ein dörfliches Gemeineigentum mit der Ausarbeitung eines anderen sozialistischen Entwicklungskonzeptes Rechnung zu tragen?
Ja natürlich!
Und es hat Ansätze eines solchen zaghaften Vorantastens im sogenannten Bucharinismus (1921 bis 1930) gegeben. Aber das dort Erdachte widersprach so offensichtlich dem, was der Marxismus aus westeuropäischer Sicht heraus auf die städtische Arbeiterklasse projiziert hatte.
Ein Richtungswechsel innerhalb der herrschenden Klasse der sowjetischen Staatsbürokratie, weg von zivilen hin zu gewaltbereiten Kräften, hat diese Ansätze zunichte gemacht und ein anderes Konzept favorisiert, das deutlich weniger mit Sozialismus zu tun hatte. Das muss man festhalten, weil die Enteignungen, die Vergesellschaftungen, die Kollektivierungen, die nach 1928 einsetzen, einen grauenhaften Beigeschmack haben.
Die Sowjetunion gerät in den Strudel totalitärer Verwerfungen, weil die gesellschaftlichen Einschnitte so fundamental werden und offensichtlich weit weniger mit Sozialismus zu tun haben, als proklamiert. Das sollte man bedenken, wenn man heute von einem Sozialismus, basierend auf Vergesellschaftung, Kollektivierung und Enteignung redet.
Dieses sowjetische Gesellschaftssystem, dass zweifelsfrei den Fortschritt der Industrialisierung zum Preis des Verlustes an Humanität erkaufte, haben Millionen Menschen mit ihrem Leben bezahlt, und man sollte ihnen dahingehend Respekt zollen, dass man ihr Opfer anerkennt und in einer aktuellen Debatte nicht übersieht.
Es ist, so meine ich, überhaupt kein akademisches Problem, wenn man sich angesichts globaler ökologischer Existenzprobleme mit dem vergangenen Sozialismus beschäftigt und den Versuch unternimmt, sein Wesen unter all dem falschen Glorienschein zu entdecken.
Zukünftige Lösungen benötigen mehr Gedankenarbeit, vor allem mehr Abgrenzung zu dem, was schon als Gesellschaftsexperiment stattgefunden hat.
Doch das nur als Nebenbemerkung.
Zurück zu meiner Themenstellung.
Wenn ich das Entstehen von Lohnarbeit für die Sowjetunion feststelle und geschichtlich beweise, so resultiert daraus die Frage, mit welcher Art von Sozialismus wir es hier zu tun haben.
Scheinbar kann er sich von der kapitalistischen Produktionsform nicht allzu weit entfernt haben.
Wie weit, das möchte ich abprüfen.
Zuerst schaue ich auf die Dimension. Binnen 13 Jahren (von 1926 bis 1939) wandern 23 Millionen Menschen vom Land ab in die Städte. Sie tun das nicht, weil sie Freude am Aufbau des Sozialismus empfinden (obwohl es die Enthusiasten auch gab), sondern weil sie und ihre entwurzelten Familien ohne städtische Lohnarbeit verhungert wären.
Hinzu kommen 15 Millionen Bauern, die das Martyrium des sowjetischen Lagersystems durchlaufen und im Gegensatz zu ihren Klassengenossen noch tiefer erniedrigt werden. Denn sie erhalten für ihre Arbeit, die sie auf den Großbaustellen (des Sozialismus!) leisten, keinen Lohn.
Nun schaue ich auf die Bewertung dieser Ereignisse:
Erstens: Wenn Marx die Entstehung des Kapitals an seine Rolle im Zuge der Enteignung (Expropriation) der (englischen) Bauern bindet, dann haben wir in der Sowjetunion ab 1928 einen klassischen und gewaltigen Kapitalakkumulationsprozess vor uns.
Zweitens: Wenn Marx die Stellung der enteigneten Bauern zu den Produktionsmitteln als einigendes Klassenmerkmal vor Augen hat und die Lohnarbeit aus der vollständigen Eigentumslosigkeit der proletarischen Schichten ableitet, dann entsteht ab 1928 in der Sowjetunion ein klassisches Proletariat, dem ein entgegengesetztes Bewusstsein vermittelt wird, respektive vermittelt werden soll.
Die Frage ist nun, welche Art von Kapital tritt dieser Lohnarbeit gegenüber? Denn wir finden andere Verhältnisse als in Westeuropa vor. Dort steht personifiziertes Kapital bereit. Hier werden die Kapitalfunktionen von einer kollektiven Staatsbürokratie übernommen und ausgeübt.
Drittens: Dieser offensichtliche Akkumulationsprozess von Lohnarbeit und Kapitalersatz, gleichbedeutend mit einem Klassenbildungsprozess, führt zu zwei Konsequenzen. Zum einen offenbart er tatsächlich etwas Neues im Alten. Zum anderen wird das unter einer unglaublichen ideologischen Überhöhung verhüllt und begraben.
Immer dann, wenn unsere Vorstellungen und wissenschaftlichen Theorien mit der Wirklichkeit kollidieren, schauen wir verdutzt auf und bemerken ein Paradoxon. Hier: Lohnarbeit und Kapital(ersatz) in der Sowjetunion?
Das geht doch wohl offensichtlich nicht zusammen.
Doch, das geht schon – nämlich dann, wenn man bereit ist, den alten ideologischen Ballast abzuwerfen. Auf Dauer unterliegen unsere Ideen und Theorien immer dem Zwang des Faktischen. Aber manchmal wehren und winden sie sich extrem lange.

Das Entstehen von Kapitalersatz in der Sowjetunion – ein Paradoxon

Als Kapitalersatz bezeichne ich eine spezifische Eigentumsform, die sich erstmals in der Sowjetunion herauszubilden begann und die irrtümlich oder mit dem Vorsatz, das eigentliche Wesen der Sache zu verbergen, auf den Begriff gesellschaftliches Eigentum gebracht wurde. Der wirkliche Entwicklungsprozess stellte nämlich die Sowjetbürokratie in den Mittelpunkt des Geschehens und nicht die arbeitenden Klassen. Das wurde so bisher nicht analysiert, weil die historische Wirklichkeit nach wie vor von einem falschen Schein verhüllt wird.
Die Sowjetbürokratie als Kollektiv suchte, fand und formte ihr Eigentum und nahm darüber Kapitalfunktionen wahr. Welche das waren und wie sich das abspielte, versuche ich, nachfolgend zu skizzieren.
Vorweg so viel: In der Wirkungsweise des Kapitalersatzes finden wir etwas Zwitterhaftes, Paradoxes. Die treibende gesellschaftliche Kraft wird von einem Kollektiv gebildet und seine kollektiven Eigentümerinteressen prägen die Entwicklung. Im Unterschied zur originären Entwicklung Westeuropas existieren aber keine privaten Interessen, können keine Privateigentümer, kann keine Kapitalistenklasse festgestellt werden. Das ist das marginal Neue im Alten, denn trotz dieses neuen Momentes erfüllt die kollektive, oligarchisch strukturierte Eigentümerklasse „Sowjetbürokratie“ die wichtigsten Funktionen, die Kapital zuwachsen. Aber damit noch nicht genug des Paradoxen, die Sowjetbürokratie schränkte die von ihr wahrgenommenen Kapitalfunktionen zugleich auch ein und geriet so in ein eigentümliches Spannungsfeld widerstreitender Interessen.
Zum Diskurs: Ich habe mich immer wieder gefragt, wie man davon ausgehen konnte, dass sich im revolutionären Russland flächendeckend gesellschaftliches Eigentum bilden konnte, und das binnen weniger Jahre, weil angeblich in der 1917er Revolution die vorhandene Eigentumsstruktur umgekrempelt wurde. Per Leninscher Definition war Russland ein kapitalistisches Land, und es schien simpel zu sein, Kapitalisten in einer Revolution aufspüren, expropriieren und das so entwendete Eigentum in die Hände der Arbeiter und Bauern legen zu können. Mit diesem, nun gesellschaftlichen Eigentum ausgestattet würde(n) die neue(n) Besitzerklasse(n) für ihre eigenen Zwecke produzieren und die Produktionsergebnisse gerecht verteilen. Soweit die naive Vorstellung über den Geschichtsprozess, der man auch heute noch begegnet.
Die Seifenblase zerplatzt, wenn man sich vor Augen führt, dass den über 100 Millionen russischen Bauern gesellschaftliches Eigentum nicht fremd war und man es ihnen nicht hätte bescheren müssen. Das hatten sie schon, und es blieb bis 1928 unangetastet. Auch die Einteilung der bäuerlichen Schichten in antagonistische Klassen – Dorfbourgeoisie und Dorfproletariat – war falsch und höchstens utilitaristisch nutzbar.
Bei den etwa vier Millionen klassischen Lohnarbeitern, die in großen Industrieunternehmen in wenigen Städten tätig waren, sah das schon anders aus. Aber hätten sie die Gesellschaft repräsentiert?
Wenden wir den Blick und schauen wir auf die Kapitalistenklasse, die es scheinbar zu enteignen galt.
Eine nationale, bürgerliche Klasse, sprich russische Kapitalisten gab es schlichtweg nicht. Soweit war die Entwicklung in dem traditionsschweren Riesenreich noch nicht vorangekommen. Die Handvoll russischer Industrie- sowie Handelsunternehmer, die es gab, wirkte im Umfeld ausländischen Kapitals. Das wiederum betrieb in Russland Zweigstellen oder Konsortien, und die Eigentümer dieser Produktionsmittel waren in Deutschland, den USA oder Großbritannien beheimatet. Hier konnte man in einer Revolution nur Manager zum Teufel jagen und Teilproduktionsstrecken in der Rohstofferzeugung übernehmen, die nicht dazu errichtet worden waren, den Bedarf einer Gesellschaft mit allem Lebensnotwendigen zu decken.
Welches Eigentum bildete sich nun im revolutionären Russland und der Sowjetunion tatsächlich? Oder – die gleiche Frage nur anders formuliert: Welches historische Subjekt übernahm die Führung und auf welchem Weg schuf es sein Eigentum?
Entgegen der sowjetischen Geschichtsschreibung herrschten in der Sowjetunion zu keinem Zeitpunkt die Arbeiter und Bauern, geschweige denn die von ihnen gewählten Räte. Die Machtausübung lag von Anfang an in den Händen einer kleinen oligarchischen Schicht von Bolschewiki, die sich mit dem übernommenen zarischen Beamtentum zu einer gestaltungsfähigen Klasse verbanden. Als nach der Oktoberrevolution versucht wurde, den Belegschaften der Großbetriebe die Führung der Unternehmen zu überlassen (Fabrikkomitees), wurde sehr schnell deutlich, dass die Gesellschaft dafür objektiv nicht reif war. Die Arbeiter gingen nach der Vertreibung der Manager weiter als Lohnarbeiter und nicht als Eigentümer an ihre Werkbänke. Nicht mangelndes Bewusstsein war dafür ausschlaggebend, sondern der vorgefundene Entwicklungsstand der produktiven der Kräfte der Gesellschaft machte es unmöglich, die Lohnarbeit abzustreifen. Die einzig mögliche aber irrationale Loslösung von der Lohnarbeit wäre das Verhungern gewesen.
Anfänglich wurden Betriebsleiter aus den eigenen Reihen gewählt, die aber häufig nur wenige Wochen auf ihren Posten blieben. Setzten sie die geforderten Lohnerhöhungen und Verkürzungen der Arbeitszeit nicht um, wurden sie abgewählt. Der Ausweg aus diesen anarcho-syndikalistischen Verhältnissen tat sich folgerichtig auf. Die Arbeiter delegierten das ihnen potentiell zugewachsene Eigentum gern an staatliche Institutionen, die versprachen, sich zum Sachwalter der Interessen aller zu machen. Über diesen Weg wuchs der jungen Sowjetbürokratie erstes industrielles Eigentum zu.
Ein zweiter Weg der Eigentumsbildung in den Händen der Sowjetbürokratie tat sich auf, weil das durch den Kriegskommunismus selbst verschuldete Durcheinander die Übernahme von Verteilungsfunktionen erforderte. Der positive Nebeneffekt. Man konnte sich als Funktionär und Staatsdiener durch ein Sonderversorgungsystem materiell besserstellen.
Aus diesen beiden Strömungen wuchs Industrie- und Handelskapital, dass die Sowjetbürokratie tastend und suchend zu formen begann.
Der übermächtige Anteil des bäuerlichen Gemeineigentums blieb vorerst unangetastet, obwohl es dem diktatorischen Herrschaftsausbau zunehmend mehr Hindernisse in den Weg stellte.
Lenin rief die NÖP aus und ersetzte parallel die willkürliche Abgabepflicht der Bauern durch eine Naturalsteuer. Im Industrie- und Handelsbereich eröffnete sein politischer Schwenk die Möglichkeit des Entstehens von staatkapitalistischen Betrieben, daneben aber auch von privaten Unternehmungen, die den staatlichen Betrieben Konkurrenz machen sollten. Von Anfang an schäumte die Sowjetbürokratie gegen die NÖP-Leute und das Stärken der Kulaken, musste sich aber der Not gehorchend (zumindest zeitweise) beugen.
Das Heldenlied der Sowjetbürokratie wird ab 1928 geschrieben, als sie dazu überging, ihr Industrie- und Handelseigentum gegen den zunehmenden Einfluss der NÖP-Leute zu verteidigen und in einem allgemeinen Rundumschlag gegen die Kapitalisten auch gleich noch die (vermeintliche) Dorfbourgeoisie enteignete. Dieser fundamentale Akkumulationsprozess von Lohnarbeit und Kapital(ersatz) erfasste die komplette Gesellschaft und wurde ideologisch bis zur Unkenntlichkeit verklärt, wobei die umfassende staatliche Industrialisierung und die „sozialistische Umgestaltung auf dem Land“ zum Kern des offiziellen Narrativs wurden. Primär stürzte die Sowjetunion wegen der ökonomischen Interessen der herrschenden Partei- und Staatsbürokratie in den Stalinismus, sprich in die totalitäre Phase ihrer Entwicklung, und nicht, weil Stalin besonders hinterhältig oder brutal war. Zur historischen Wahrheit gehört dabei auch, dass die Sowjetunion unter dem Staatsterror in ihre deutlichste Wachstumsphase eintrat und sie wie ein Stern der Verheißung am düsteren Nachthimmel der von der Weltwirtschaftskrise geschüttelten kapitalistischen Welt aufstieg.
Hier liegt eine Ursache (weitere liegen in der Geschichte), der Rolle der Gewalt als ökonomischer Potenz in Russland demiurgische Qualitäten zuzuschreiben.
Auf dem Höhepunkt der totalitären Verwerfungen, als die Sowjetbürokratie die bluttriefende, die gesamte Gesellschaft einschließende Errichtung ihres Eigentums mit der Kollektivierung der Landwirtschaft abgeschlossen hatte und das hehre Trugbild einer strahlenden sozialistischen Perspektive um das grausam entstellte gesellschaftliche Sein errichtet werden sollte, wurde jener bereits erwähnte Kurze Lehrgang publiziert und in immer neuen Auflagen reproduziert, der auch die bis 1990 gültige Definition gesellschaftlichen Eigentums enthielt.
Es war weder damals noch bis zum Ende der Sowjetunion empirisch untersucht worden, was in dieser Zeit wirklich entstand. Ein ideologischer Schlussstein wurde gesetzt, der im Zirkelschluss alle kritischen Fragen nach der tatsächlichen Qualität dieser Gesellschaft erstickte.

Die gefesselte WERTform der Ware im Sozialismus
– das wesentliche Paradoxon

Wie wäre Karl Marx an die Untersuchung jener Gesellschaft herangegangen, deren herrschende Klasse sich seiner Idee bemächtigte und (damit?) scheiterte?
Ich bin mir sicher, er hätte nach dem ökonomischen Kern der Sache gesucht und von dort aus Erklärungen für die eigentümliche Bewegung (das Taumeln) dieser Gesellschaft erarbeitet.
Nun bin ich nicht Marx, und es wäre vermessen, mich auf eine Stufe mit ihm zu stellen. Aber wofür sind seine wissenschaftlichen Methoden da, wenn man sie nicht zur Kenntnis nimmt und anzuwenden versucht?
Marx kommt der Bestimmung des Kapitalismus auf die Spur, indem er sich der Ware zuwendet und in ihr das Vergrößerungsglas findet, durch das alle weiterführenden Problemstellungen betrachtet werden sollten.
Die Ware ist ein historisches Entwicklungsprodukt, das seit Jahrtausenden in zwei (sich bedingende) Seiten abstrahiert werden kann, in Gebrauchs- und Tauschwert. Der Tauschwert ist das ökonomisch Interessantere, weil er sich in Zahlen, später in Geld, also in gesellschaftlichen Relationen ausdrücken lässt. In den vorkapitalistischen Gesellschaften dominiert der Gebrauchswert den Austauschprozess. Gegenstände, die den individuellen Konsum übersteigen, können zu Waren werden. Sie sind nicht das Ziel der Produktion, sondern mehr Randerscheinung. Auf einem vorkapitalistischen Markt treten sich Verkäufer (der am Tauschwert interessiert ist) und Käufer (den der Gebrauchswert interessiert) zufällig gegenüber. Das Geld (eine seit mehreren Jahrtausenden vorhandene und sich modifizierende gesellschaftliche Erscheinung) tritt zwischen die Waren (Menschen) und vermittelt ihren Austausch.
Ausgangs- und Endpunkt ist die Ware, das Geld bleibt der Vermittler. Hat der Verkäufer seine Ware verkauft und der Käufer ihren Zweck konsumiert, ist der ökonomische Vorgang als solcher beendet.
Erst ein neues oder erneuertes Bedürfnis lässt ihn wieder aufleben.
Anders in der kapitalistischen Gesellschaft. Hier werden Waren mit einem gänzlich anderen Ziel produziert. Der Gebrauchswert tritt hinter den Tauschwert zurück. Die Waren werden nicht in erster Linie produziert, um ein Bedürfnis zu befriedigen, sondern um aus ihrem Verkauf mehr Geld zu erwirtschaften. Die Ware, ihr Gebrauchswert wird vom Zwecksetzer zum Vermittler. Geld wird investiert, um Waren herzustellen, die dann gewinnbringend verkauft werden, also mehr Geld erzeugen sollen. Das Mehr an Geld wird genutzt, um erneut in den Produktionszyklus zu investieren (Akkumulation). Es entsteht ein sich selbst befeuernder Kreislauf, der von Marx erweiterte Zirkulation genannt wird. Das Geld wird zum Ausgangs- und Endpunkt der Zirkulation, und die Ware übernimmt die Vermittlungsfunktion. Das Geld steigt zum Selbstzweck auf, weil der Tauschwert ins Zentrum der Produktion gerückt ist. Diese (urbane) Gesellschaft ist im Gegensatz zum behäbigen dörflichen und materiell armen Vorkapitalismus hibbelig, unstet, hektisch, unausgeglichen, aber materiell reich. Der Segen, der sich für die Persönlichkeitsentfaltung durch die Reichhaltigkeit der Konsumtion ergibt, wird mehr und mehr zum Fluch. Und das deshalb, weil der unnatürliche Zwang zu immer mehr Konsumtion und die Anbetung des Wachstums um seiner selbst willen so viele Ressourcen verschlingen, dass das Ende dieser Produktionsweise aufgrund der Erschöpfung von Mensch und Natur wahrscheinlicher wird.
Marx definiert den Kapitalismus im Unterschied zum Feudalismus als „Tauschwert setzende Produktion“.
Den sich selbst permanent verwertenden Tauschwert erfasst er als etwas anderes als den Tauschwert aus den vorkapitalistischen Gesellschaften und nennt ihn „Wert“. Daraus leitet er eine Entdeckung, die „Wertform der Ware“ ab. (Um das Besondere daran zu zeigen verwende ich das Schriftbild WERTform). Die WERTform der Ware ist das unterscheidende Merkmal zur Warenproduktion unter vorkapitalistischen und nachkapitalistischen Gesellschaftsverhältnissen. Während sich der Tauschwert im Feudalismus nach erfolgtem Austausch auflöst, bleibt er in der kapitalistischen Gesellschaft aufgrund des permanenten hochfrequenten Austausches substanziell erhalten. Er wird zu einem Wert, der nicht untergeht. Im Kern beschreibe ich hier eine Seite der Werttheorie von Marx, die in der Definition des Begriffes „Kapital“ mündet.
Kapital ist im werttheoretischen Verständnis ein „sich selbst verwertender WERT“ oder „Mehrwert heckender WERT“. Kapital in diesem Sinne ist ein Prozess, weniger ein Gegenstand. Kapital ist ein gesellschaftliches Verhältnis von Menschen, hinter Sachen verborgen.
Der Übergang in den Sozialismus könnte sich nach der oben entwickelten Logik nur vollziehen, wenn die Tauschwert setzende Produktion voll zur Entfaltung gekommen ist und in diesem Zuge ihr Entfaltungsspielraum erschöpft ist. Die Gesellschaft würde dann über die Warenproduktion hinausgehen können.
Nun ist es mit dem WERT so eine Sache. Er lässt sich weder schmecken noch riechen, noch ist er messbar. Einzig und allein aus seiner Umgebungswirkung lässt sich seine Existenz und sein Wirken ableiten. Als die Bolschewiki ab 1918 den Kriegskommunismus ausrufen, das Geld abschaffen (wollen) und zu kommunistischen Verteilungsprinzipien übergehen, zeigt ihr Scheitern und Zurückrudern überdeutlich das Wirken anderer ökonomischer Zusammenhänge auf, als sie vermuten.
Der Aufbau des Sozialismus (in der Sowjetunion und später auch in China) vollzieht sich nicht im luftleeren Raum, sondern auf den (auch) ökonomisch vorgefundenen Fundamenten. Und die brechen zum Zeitpunkt der sozialistischen Revolutionen in beiden Ländern gerade in voller Breite in die WERTform der Ware um.
In revolutionärer Ungeduld möchte man viel schneller und weiter voranpreschen, aber die scheußlichen Verhältnisse ziehen einen immer wieder zurück.
Aus diesem Spannungsbogen saugt das, was man bis heute als Sozialismus bezeichnet, seine widersprechenden, paradoxen Erscheinungsformen.
Man wähnte sich im Sozialismus, also jenseits der WERTform der Ware, und war dennoch gezwungen, ihrem Aufblühen Rechnung zu tragen.
Stalin hat zeitlebens die Doktrin vertreten, dass es im Sozialismus keine Warenproduktion gäbe. Theoretisch mag er sogar Recht gehabt haben. Aber die gewaltigen Kollisionen seines voluntaristischen Vorgehens mit den ökonomischen Realitäten haben angezeigt, dass man in einer anderen Gesellschaft als der vermuteten angekommen war. Nur in welcher?
Es ist die große Tragik, dass man sich dieser Problemstellung nicht oder nur verzerrt bewusst wurde (wird) und heute jede neue soziale Utopie von dieser schweren Hypothek erdrückt wird.
Zusammenfassend möchte ich sagen: Das spezifisch Sozialistische, das uns die 73 Jahre Existenz der Sowjetunion hinterlassen haben, mündet darin, die WERTform der Ware einzuhegen.
Um es schneller begreiflich zu machen, wähle ich ein Bild: Die Planungsliliputaner stürzten sich Tag für Tag auf Gulliver WERT und versuchten, ihn zu fesseln. Je mehr Regungen er zeigte oder je deutlicher seine Zornesadern schwollen, desto mehr Planungsstricke wurden gespannt, und jede erfolgreiche Sedierung des gefesselten Riesen wurde anfänglich als Sieg gefeiert. Diese Marktfeindlichkeit wich jedoch der Erkenntnis, dass man von den Kräften, die der Riese entfalten konnte, abhängig war. An die Stelle rigoroser Marktfeindlichkeit (an der die Sowjetunion letztlich scheiterte) trat eine zweite Strategie – die der Marktregulierung (mit der China prosperiert).
Wir haben im realen Sozialismus als ökonomisches Grundprinzip die sich entgrenzende Begrenzung der WERTform der Ware vor uns.
So gesehen resultieren die Paradoxa dieser Gesellschaft aus der pulsierenden Begrenzung eines sich akkumulierenden und unter historisch neuen Bedingungen heranwachsenden Kapitalismus, der dadurch in marginalen Ansätzen über sich hinausgeht.
Die WERTform der Ware prägt den Kapitalismus und gleichzeitig in ihrer Begrenzung das, was bisher als Sozialismus bezeichnet wurde.
Diese Sicht der Dinge ermöglicht es mir, in Bezug auf den Sozialismus von einem Paradoxon, von einer gesellschaftlichen Mischform zu sprechen und von hier aus Erklärungen für die widersinnigen, widersprüchlichen Entwicklungen zu finden.

Gemeinsamkeiten und Unterschiede
im sowjetischen und chinesischen Sozialismusentwurf (Frühzeit)

Während ich bisher die Sowjetunion in den Mittelpunkt meiner Analyse stellte, rücke ich jetzt China in den Focus. Die sozialistische Sowjetunion ist im Jahr 1990 untergangen. Aber das sozialistische China existiert noch heute und schickt sich an, zur führenden Weltmacht aufzusteigen. All jenen, denen jetzt vor Freude und Rührung die Augen glänzen sei gleich zu Beginn Wasser in den Wein gegossen. Ob China mit seinem Aufbruch in einen (paradoxen) Sozialismus zum Wegbereiter für die Rückkehr des Menschen zu sich selbst oder zu seiner weiteren Entfremdung oder vielleicht sogar für seinen Untergang wird, ist noch nicht entschieden.
Auf jeden Fall ist es sinnvoll, China weder in die eine noch die andere Ecke zu stellen, und vorurteilsfrei den Blick auf die Geschichte und die möglichen Perspektiven dieses höchst interessanten Landes zu richten.
Wenn man China begreifen will, muss man tief in seine Geschichte und die Asiens hinab steigen. China hat, als Reich der Mitte, eine fast zehntausendjährige Geschichte und ruht damit auf einem gewaltigen kulturellen Sockel.
Schon sehr früh weichen Entwicklungen in China und dem späteren Russland voneinander ab.
In Russland erhält sich die Dorfgemeinde aus dem Grau der neolithischen Revolution heraus bis tief in den sozialistischen Aufbau hinein. China hingegen kennt seine Dorfgemeinde, falls es sie gegeben hat, spätestens seit der Reichseinigung unter dem Zentralkaiser Qin Shihuangdi (221 v. Chr.) nicht mehr. Sehr früh werden das Matriarchat und die damit verknüpfte egalitäre Eigentumsstruktur in China durch den Aufstieg patriarchaler Verhältnisse aufgebrochen. Der Fortschritt, hin zum privaten Eigentum männlicher Bauern am Boden und am Hof, prägt China schon, da hat die Kiewer Rus noch eintausend Jahre Zeit, um erste schriftliche Erwähnung zu finden.
Aber, und das ist ein wichtiger Unterschied: Die frühe russische Dorfgemeinde gründet sich nicht mehr auf dem Verwandtschaftsprinzip, während genau das für das chinesische Dorf bis in das 20. Jahrhundert hinein typisch bleibt. Aus dieser Besonderheit, der verfestigten Familien-, eindringlicher gesagt Clanstruktur, wachsen über mehr als zwei Jahrtausende die stabilen, feudalen Kaiserreiche Chinas empor. Die blutsverwandte Familie ist das Gefäß, in dem sich in China alle feudalen Klassenunterschiede sammeln. Russland kennt ärmere und reichere Bauernfamilien innerhalb der Dorfgemeinde. Es kennt aber nicht Reichtum und Armut unter einem Dach.
Das private bäuerliche Grundeigentum Chinas ist von Beginn an mit dem Pachtsystem verbunden. Reiche Familienangehörige (die Priestergemeinschaften angehören) verpachten Boden an ärmere Familienmitglieder und wenn diese die Pacht nicht zahlen können, werden sie, genauso wie Fremde, ausgepeitscht oder lebendigen Leibes begraben.
Der Feudalismus Chinas, der das Land zu einer frühen Weltmacht katapultiert, ruht darauf, dass die Klassenteilung in Besitzer des Produktionsmittels Boden und Nichtbesitzer innerhalb der Großfamilie leben und arbeiten.
Der konfuzianische Gedanke der freiwilligen Unterordnung der Frau unter den Mann, des Sohnes unter den Vater, des Untertanen unter den Kaiser ist das innere Gerüst, das die Unterordnungsverhältnisse spiegelt und gleichzeitig konservierend durch die Jahrhunderte trägt.
Es gibt einen zweiten Unterschied, der das frühe China vom frühen Russland trennt.
Während das Dorf in Russland mit seinen Bewohnern wandert (Brandrodung, Ermüdung des Bodens, Aufbruch, erneute Brandrodung et cetera), kaum einer Verwaltungsstruktur bedarf und Städte nur fernab in Gestalt kirchlicher und grundherrschaftlicher Zentren (Klöster, Kreml) kennt, bleibt das chinesische Dorf am Platz seines Entstehens und strukturiert sich, mit anderen Dörfern, wie in einer Bienenwabe um ein Zentrum. Die hoch entwickelte Produktions- und Handelsstruktur der chinesischen Agrarproduktion benötigt Märkte, Geldwirtschaft und eng angebundene Verwaltungsstrukturen.
In diesen Zentren bildet sich eine Mittel-/niedere Oberschicht von Geldverleihern, Kaufleuten und niederen Beamten. Die Spitze der Pyramide zeigt dann das gehobene Beamtentum, den Kaiser und den Kaiserhof, die auf der Grundlage dieser Organisations- und Verwaltungsstruktur tausende Kilometer entfernt existieren können.
Russland schöpft seine Zivilisation aus dem orthodoxen, byzantinischen Christentum und der so gefärbten Christianisierung. China schöpft seine Zivilisation aus der Meritokratie des chinesischen Beamtentums. China kennt keine Religion und keine Institution Kirche. Die steuerzahlenden Bauernfamilien wählen alle zwei Jahre zwei Millionen junger Männer aus, die sich für die Beamtenlaufbahn qualifizieren können. Diese Stellung ist nicht erblich, gilt nur für Lebenszeit und adelt den „Besitzer“ durch Wissen, Bildung und moralische Integrität.
Das Ziel der Ausbildung besteht darin, das Shengyuan zu bestehen und ein Shenshi (ein Examinierter, ein Beamter) zu werden.
Die breite Masse der Shenshi kommt in den dorfnahen Verwaltungszentren zum Einsatz. In etwa 1500 Examinierte steigen in höhere Funktionen auf und nur die 300 Besten werden an den Kaiserhof berufen. Das ist in aller Kürze die Beschreibung des Gerüstes, das über zweitausend Jahre Stabilität sichert und an dem die frühe Weltmacht China emporrankt.
Doch die Unerschütterlichkeit der feudalen Verhältnisse ist für China nicht nur von Vorteil. Das birgt auch die Gefahr der Verkrustung und des Abstiegs.
Die Beamten werden allmählich immer korrupter, und die Abführung von Steuern an den Kaiserhof beginnt zu versanden. Ab Beginn des 18. Jahrhunderts wird der Beamtentitel käuflich, das potenziert die vorhandenen Abstiegstendenzen.
Die europäische Entwicklung, der Aufbruch in den britischen Handelskapitalismus, geht an China vollständig vorüber. Hochmütig und leichtfertig wird die Aufnahme gleichberechtigter Handelsbeziehungen zwischen Großbritannien und China abgelehnt.
So wird dem aufsteigenden westeuropäischen Kapitalismus der Zugang zum chinesischen Markt verwehrt. Über die beiden Opiumkriege, die China gegen Großbritannien und seine Verbündeten verliert, schießt sich der westeuropäische Kapitalismus an den Küsten und Flussmündungen den Weg zu Handelsniederlassungen frei, denen China die Meistbegünstigung einräumen muss.
Christliche Missionare überschwemmen China und tragen den puritanischen Geist der evangelikalen Kirche ins Land.
Auch im Inneren wächst zunehmend Konfliktpotential. Je brutaler das überkommene Ausbeutungssystem innerhalb der Großfamilie durchgesetzt werden muss, desto brüchiger und instabiler wird es auch.
Die Taiping Revolution (1850) erschüttert China. Im Jahr 1895 verliert China den Krieg gegen die japanischen Zwerge und muss die Halbinsel Korea und Teile der Mandschurei abtreten.
In etwa ab Mitte des 19. Jahrhunderts betritt China den abschüssigen Weg in den Niedergang, und bis zur endgültigen Demütigung durch die Niederschlagung des Boxeraufstandes im Jahr 1900 durch europäische Expeditionskorps, ist es nicht mehr weit.

Gemeinsamkeiten und Unterschiede
im sowjetischen und chinesischen Sozialismusentwurf (Neuzeit)

China ist an der Schwelle zum 20. Jahrhundert von einer in sich ruhenden, feudalen Weltmacht zu einer heftig wogenden und nach Auswegen aus den Dilemmata suchenden Nation geworden.
Entlang folgender Bruchkanten vollziehen sich die gesellschaftlichen Eruptionen.
Erstens: Die chinesische Bauernfamilie, auf konsensuale Anerkennung verschiedener Unterordnungen angelegt, versinkt mehr und mehr in der Unerträglichkeit dieser Verhältnisse. Der in der bäuerlichen Familie bestehende Konsens zwischen Herrschenden (Besitzenden) und Beherrschten (nicht/kaum Besitzenden) schwindet. Den Zerfallserscheinungen kann nur durch Verschärfung des althergebrachten Herrschaftsdrucks widerstanden werden.
Zweitens: Das chinesische Beamtentum kann seinen Einfluss nur noch mit zunehmender Gewaltanwendung sichern. Die Käuflichkeit der Beamten und die grassierende Korruption verweisen auf die Fäulnis des Systems und das Eröffnen von politischen Gestaltungsräumen für neue, revolutionäre Kräfte.
Drittens: Der westeuropäische Kapitalismus – als imperiale Bedrohung erscheinend – wirft von außen seine Anker in die riesigen unerschlossenen asiatischen Märkte.
Durch die Demonstration ökonomischer und militärischer Überlegenheit, der das Feudalsystem nichts entgegenzusetzen hat, wird auch von dieser Flanke aus revolutionären Kräften perspektivisch Gestaltungsspielraum eröffnet.
Viertens: Dem offensichtlichen Zerfall der feudalen Herrschaftsstruktur setzen Zentralmacht und Beamtentum auch ideelle Mittel entgegen. Der Konfuzianismus wird immer konservativer, letztlich wird er reaktionär. Dadurch infiziert er sein Fundament.
China, das wird immer deutlicher, kann sich scheinbar nur wandeln, wenn es sich kulturell, philosophisch neu erfindet. Auf diesen Boden fällt der Marxismus (nicht Marx) und bringt den Samen ein, aus dem die Paradoxa der chinesischen sozialistischen Entwicklung sprießen werden.
Vor diesem Hintergrund möchte ich Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur russischen Entwicklung zusammenfassen.
Gemeinsamkeit: Auf den ersten Blick sind Russland und China feudale Großreiche, die durch ihre kontinentale Mächtigkeit ein anderes Beharrungsvermögen besitzen als die kleinen wendigen westeuropäischen Nationen. Russland und China treffen mit diesem Beharren auf die ökonomischen Fortschrittskanonen des aufbrechenden Kapitalismus. Ohne ihn würden sie eventuell noch heute althergebracht existieren. Aber der galoppierende Fortschritt, der mit der neuen Produktionsweise anhebt (Entstehen der Wertform der Ware, Entstehen von Lohnarbeit und Kapital, Überführung der Wissenschaft und der Technik in Produktivkräfte, Ablösung des Absolutismus durch die bürgerliche Demokratie, Parlamentarismus, Entwicklung von militärischen Machtmitteln auf neuer technischer Grundlage et cetera) lässt ihnen keine Zeit, sich mit der üblichen Behäbigkeit aus den Verstrickungen des Alten zu lösen. Binnen weniger Jahrzehnte erhebt sich die Grundsatzfrage, ob „man“ zum Amboss verdammt ist oder sich noch rechtzeitig zum Hammer wandeln kann.
Der Feudalismus wird in beiden Ländern zu einem Hemmschuh gesellschaftlicher Entwicklung, auch wenn er sich in seiner Struktur unterscheidet.
Ein grundlegender Unterschied besteht darin, dass Russlands Feudalismus auf der Dorfgemeinde ruht. Sie ist der Blasebalg, durch den jegliche feudale Entwicklung ventiliert wird. Der russische Adel steht der dorfgemeinschaftlichen Bauernfamilie von Anbeginn entgegen, er kommt von außen und behauptet sich aus dieser Richtung. Eine russische Revolution muss diesen, von außen in die bäuerliche Gesellschaft implantierten Zusammenhang zerbrechen. (Februarrevolution 1917) China kennt keine Dorfgemeinde mehr. Der Blasebalg, durch den in China jegliche feudale Entwicklung ventiliert wird, ist der Clan der Bauernfamilie. Eine sich ankündigende chinesische Revolution muss also keinen von außen in das Dorf gesetzten Klassengegensatz, sondern einen von innen heraus entstandenen auflösen.
Jeglicher Feudalismus – ob der west- oder osteuropäische oder der asiatische – gründet auf einem sichtbaren Ausbeutungsmechanismus. Arbeit für andere ist sowohl räumlich (Fron auf Feldern anderer) als auch zeitlich (erst dort, dann privat ernten und bestellen) voneinander geschieden. Ob die feudale Ausbeutung in ihrer schwerfälligen Gestalt der russischen Leibeigenschaft daherkommt oder in der Leichtigkeit der Steuern und Pacht zahlenden chinesischen Bauern, ändert an ihrem Prinzip nichts. In beiden Formen ist ein (Agrar-)Mehrprodukt, von den arbeitenden Menschen (Bauern) mittels unterschiedlicher Zwangssysteme (Abgaben in Natural- und Geldform, Abführung von Steuern, Stellung von Diensten) an nicht arbeitende und von fremder Arbeit lebende Menschen (Adel, Beamtenschicht) abzugeben.
Der Fortschritt, den der Kapitalismus in diesen Zusammenhang bringt, ist immens. Unter der Herrschaft von Lohnarbeit und Kapital muss nichts mehr mit den alten Zwangsmethoden abgeführt werden. Es liegt ein deutlicher Unterschied, ja Fortschritt darin, Produzenten nichts mehr wegzunehmen, sondern ihnen nur etwas, das sie erarbeitet haben, (in Teilen) nicht zu geben. Marx bezeichnet diesen Fortschritt als den der „freien Arbeit“.
Die Ausbeutung verschwindet in der Lohnarbeit. Das Kapital wirft einen neuen geschichtlichen Mantel über die Ausbeutung und macht sie nicht ungeschehen, aber unsichtbar. Und so kann dieser Fortschritt, heraus aus knechtenden feudalen Verhältnissen, der sich in beiden Ländern umzusetzen und zu entfalten beginnt, auch unter der Flagge des Sozialismus seine Segel setzen.
Der Übergang in die Mischform gesellschaftlicher Entwicklung (paradoxer Sozialismus), der im Kern das Entfalten der WERTform der Ware unter der politischen Herrschaft einer sozialistischen Staatsbürokratie ist, vollzieht sich in Russland und China gleichermaßen.
Die Annahme, in einer anderen geschichtlichen Epoche zu sein, lässt in der Entwicklung beider Länder Wirklichkeit und Bewusstsein (in unterschiedlichen geschichtlichen Vorkommnissen) kollidieren.
Die Reglementierungen münden in zwei Formen. Die eine ist die der Wirklichkeitsverweigerung, aus der eine Markt- und Menschenfeindlichkeit resultiert. Die andere ist der Versuch der Regulierung von widersprüchlichen Entwicklungen, die aber in ihrem Wesen unerkannt bleiben. Aus dieser zwiespältigen, unentschlossenen, wankelmütigen Form entspringen Experimente der Gesellschaftsregulation unter Hinwendung zu einer humaneren Haltung. In letzterem schlummert die Möglichkeit, über den westeuropäisch geprägten Kapitalismus hinauszugehen. China hat diesen Entwicklungsweg, im Gegensatz zu Russland, noch nicht vollends verlassen.
Unterschiede: In Westeuropa bilden sich nationale Bourgeoisien im Schoß der feudalen Ordnungen aus, die dann in mehr oder weniger revolutionären Bewegungen zur ökonomischen, politischen und geistigen Herrschaft gelangen. In Russland und in China sehen wir diese Prozesse bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts nicht.
Trotzdem fällt der in beiden Ländern von außen einströmende Kapitalismus auf unterschiedlich aufbereitete Böden. In Russland ist der Boden fruchtbarer, da sich im Schoß der alten Gesellschaft wenigstens eine moderne Staatsbürokratie gebildet hat. Sie hat sich mit der Entwicklung der Autokratie der Zarenherrschaft über die staatlichen Einrichtungen gelegt und kann eigenständig existieren. Von oben greift sie in die gesellschaftlichen Strukturen ein und strahlt nach unten durch strukturelle Erweiterungen ab. Sie nimmt den embryonalen Kapitalismus auf und führt ihn (auch ohne Zaren) unter einer anderen diktatorischen Herrschaft (verfälschend Diktatur des Proletariats genannt) in eine Reifephase.
Ausgestattet mit Kollektiveigentum erfüllen die Staatsbürokraten ansatzweise auch Kapitalfunktionen. Oder anders herum, da eine Personifizierung von Kapital ein gesellschaftliches Reifestadium voraussetzt, das noch nicht erreicht ist, wird der schützende Kokon des Kollektiveigentums in Staatshand benötigt, um die Ingangsetzung von Kapitalprozessen auf nationalem Boden zu vollziehen. Dieses Umgestalten der Gesellschaft hat kein historisches Vorbild. Daraus entspringt das Widersinnige, das Paradoxe am Sozialismus. Letztlich wird er (der in der theoretisch verkündeten Form nie existiert hat, sondern höchstens als eine Mischform beider Gesellschaften) gesprengt, und aus dem Kokon der schützenden staatlichen Hülle treten die Kapitalisten (das personifizierte Kapital) hervor.
In China fällt der Samen des einströmenden Kapitalismus auf unvorbereiteten Boden. Der überlebte Kaiserstaat ruht auf der Meritokratie des chinesischen Beamtentums, und beide sind derart eng miteinander verflochten, dass keine voneinander getrennte Existenz möglich ist.
Während also Russland schon im Schoß des Alten ein weitertreibendes, neues historisches Subjekt (von oben kommend) auszubrüten beginnt, hat China nichts dergleichen vorzuweisen.
Die Autarkie Chinas, über Jahrtausende der Garant für die Weltmachtstellung, verkehrt sich in ihr Gegenteil. Sie verhindert den Aufbruch, und so stürzt China von der Höhe der feudalen Weltmacht ungebremst in die Bedeutungslosigkeit halbkolonialer Demütigungen.
Es scheint so, als habe die Verwurzelung in der Geschichte und in der Tradition dieses Zurückbleiben, dieses hilflose Ausgeliefertsein provoziert. Der Verlustschmerz, den die chinesische Nation erleidet, der daraus aufsteigende unbändige Wille, sich aus eigener Kraft den Demütigungen zu widersetzen und zu neuem Glanz aufzusteigen, ist ein nicht zu unterschätzender psychosozialer Faktor, der die sozialistische Entwicklung in ihrem Auf und Ab über die russischen Gegebenheiten hinaus weitertreiben lässt.
China, am Anfang des 20. Jahrhunderts, steht aus dieser Differenz zu Russland heraus vor zwei anderen Aufgaben. Zum einen ist das nationale historische Subjekt innergesellschaftlichen Wandels zu entdecken und zu formen. Zum anderen ist ein neues Verhältnis zur Geschichte notwendig.
Die geschichtliche Entwicklung zeigt, dass die Gemeinsamkeiten, die beide Länder haben, ihre Wege ineinander verschlingen. Die bestehenden Unterschiede lösen aber in China einen weit radikaleren Einschnitt aus und lassen China höher emporschnellen, als das Russland und der Sowjetunion je gelungen ist. China kehrt als Weltmacht zurück, und ob sich das in der Aufnahme der humanistischen philosophischen Traditionen und einem sozialen Fortschritt oder in einem Rückschritt äußern wird, ist noch nicht entschieden.

Der Aufstieg der chinesischen Kommunisten
zur nationalen Führungskraft

Die erste Etappe – Fuß fassen
Am 1. Januar 1912 wird die Republik China ausgerufen und die Jahrtausende währende Herrschaft der Kaiserdynastien endet. Die Zentralmacht geht in die Hände einer national ausgerichteten, bürgerlichen Sammlungsbewegung (Guomindang) über. Einer ihrer bekanntesten Gründer und Führer ist zum damaligen Zeitpunkt der Arzt Sun Yat-sen (geboren 1866, Sohn eines Kulis, Schulbildung teilweise auf Hawaii, der Bruder hat dort einen Laden, Aufenthalte in Europa, Kanada und Japan, Christ). Er wird zum ersten Präsidenten der neu gegründeten Republik. An seiner Seite wächst der Militär Chiang Kai-shek (geboren 1887, militärische Ausbildung teilweise in Japan) als Führungsfigur heran.
Sun stirbt 1925 und Chiang wird von da ab, bis zu seinem Tod im Jahr 1975, die wichtigste Figur im Kräftemessen zwischen national bürgerlichen und kommunistischen Kräften um Mao Zedong.
Der Marxismus hat in den 1920er Jahren schon eine Geschichte. Er geht über Marx hinaus, teils an ihm vorbei. Die Komintern entsteht 1919 und die Sowjetunion wird 1922 gegründet.
In diesem Umfeld nationaler und internationaler Entwicklung entsteht 1921 die Kommunistische Partei Chinas. Einer ihrer Gründer ist Mao Zedong (geboren 1893, Han-Chinese, Sohn eines Getreidehändlers, ab 1918 Hilfsbibliothekar an der Peking-Universität).
Zum Gründungskongress werden 13 Delegierte entsandt, die die 60 Mitglieder der KP Chinas vertreten.
Die Komintern unterhält Kontakte zu den chinesischen Kommunisten, aber man sieht in ihrer konspirativen Aktivität wenig Potenzial. Weit interessanter (für die weltrevolutionären Zwecke) erscheint die Guomindang. Chiang Kai-shek wird 1923 zu einer Studienreise in die Sowjetunion eingeladen und ab 1924 beginnt Stalin, auf die Guomindang zu setzen. Sie wird zu einer leninistischen Kaderpartei um- und ausgebaut. Die chinesischen Kommunisten werden seitens der Komintern verpflichtet, in die Guomindang einzutreten und sich ihren Prinzipien zu unterwerfen.
In dieser politischen Zwangsehe entsteht die innige Feindschaft zwischen Chiang und Mao.
Ähnlich der Feindschaft zwischen Stalin und Trotzki wird sich daran Weltgeschichte vollziehen.
Mao gelingt es, die Stellung der Kommunisten in der Guomindang zu festigen. Ein Ausdruck dafür ist die steigende Mitgliederzahl. Im April 1927 entledigt sich Chiang der lästigen und stärker werdenden kommunistischen Konkurrenz. Er lässt 34.000 Mitglieder umbringen und weitere 27.000 Sympathisanten inhaftieren. Dieser Bruch zwischen den beiden politischen Lagern führt in die Bewaffnung der Kommunisten, die Gründung ihrer Roten Armee und das Auslösen des Bürgerkrieges, der über 22 Jahre andauert. (Nur der japanisch-chinesische Krieg von 1937 bis 1945 führt zu Zweckbündnissen zwischen Chiang und Mao und einem Rückgang der innerchinesischen Konfrontation.)
Es führt mich zu weit von meinem Thema weg, würde ich der weiteren geschichtlichen Entwicklung im Detail folgen.
Wichtig für die weitere Entwicklung werden folgende Gesichtspunkte:
Erstens: Die chinesischen Kommunisten sind nicht die bevorzugten Bündnispartner der Sowjetunion, und sie rücken nicht nur organisatorisch von den nördlichen Nachbarn ab. Entgegen der bolschewistischen Position sehen sie nicht unter den Arbeitern, sondern unter den Bauern die revolutionäre Glut lodern.
Dieser grundsätzlich andere theoretische Ansatz entfernt Mao Zedong in der Hochzeit der Bauernverfolgungen von der Stalin-Fraktion, und er wird zum Abweichler gestempelt. Im Jahr 1932 wird er auf Bestreben der Komintern (und ihr höriger Anhänger) in der Kommunistischen Partei Chinas isoliert und aus dem Politbüro ausgeschlossen.
Zweitens: Der Zusammenbruch des chinesischen Kaiserreiches legt die Zersplitterung des Landes offen und verstärkt sie. Mao besucht 1927 seine Heimatprovinz und erstellt einen Untersuchungsbericht über die Bauernbewegung.
Die hier gewonnenen Eindrücke und Erfahrungen prägen seine Haltung zu den Bauern bis zum Ende der 1950er Jahre. Binnen kürzester Zeit, so stellt er fest, habe sich der Wind gedreht. Die Bauern sind erwacht. Vor allem arme Bauern, die etwa 50 Prozent der ländlichen Bevölkerung ausmachen, schließen sich in Bauernvereinigungen zusammen und beginnen, die überkommenen Macht- und Eigentumsverhältnisse anzugreifen.
Mao Zedong sieht in dieser Bauernbewegung und im kurzfristigen Anwenden von Terror den Vorläufer für ein landesweites Abschaffen des Feudalsystems und den Anknüpfungspunkt für die Führungsrolle der Kommunistischen Partei. In einem Punkt beweist er Genialität, in einem anderen verfällt er dem gleichen Irrtum wie die Bolschewiki.
Die Genialität: Während in Russland und der Sowjetunion die historische Chance zum Übergang in einen „Bauernsozialismus“ durch die Vernichtung der russischen Dorfgemeinde verspielt wird, erkennt Mao das revolutionäre Potenzial, das bei den Bauern liegt. Die Bolschewiki hatten schon immer ein gespaltenes Verhältnis zur Bauernschaft, und in ihrem tiefsten Inneren verachteten sie das Land. Mao Zedong stellt sich ohne Wenn und Aber auf die Seite der (300 Millionen armen) Bauern und erkennt damit die Besonderheit der chinesischen Verhältnisse.
Auf lange Sicht wird auch er die Bauern enteignen und zu Dienern (Lohnarbeitern) eines „proletarischen Staates“ machen wollen, aber bis dahin ist der Weg noch weit und unübersichtlich.
Fakt ist, in Zeiten in denen es für einen führenden Kommunisten sehr unbequem war, sich gegen den praktizierten Marxismus-Stalinismus zu stellen, weicht Mao deutlich ab. Damit schafft er den Ausgangspunkt für das Verankern der Kommunisten in einer neuen Gesellschaft. Das ist sein bleibendes Verdienst, obwohl er auf seinem weiteren Lebens- und Herrschaftsweg zu einem erbitterten Gegner der von ihm ausgelösten Entwicklung wird.
Der Irrtum: Mao und seine Anhänger teilen mit den Bolschewiki den Irrtum, dass die von Kommunisten eingeleiteten gesellschaftlichen Veränderungen in den Sozialismus führen müssen.
In diesem Irrtum gefangen wird auch er zum Despoten und totalitären Herrscher.
Drittens: Während die Oktoberrevolution den Sozialismus auf die Tagesordnung setzte, sehen die Kräfte um Mao Zedong ihre Aufgabe zuerst darin, den Feudalismus und den imperialistischen Einfluss (westliches Ausland, Guomindang, Japan) zu beseitigen. Vor den Aufbau des Sozialismus setzt man seitens dieser Teile der Kommunistischen Partei Chinas auf eine längere Übergangsphase, auf eine demokratische Diktatur des Volkes und auf Bündnisse. Dem entspricht die Politik der Massenlinie, die bis in die 1950er Jahre hinein verfolgt wird.
Viertens: Die Bolschewiki verbinden mit der Oktoberrevolution die Hoffnung, die Weltrevolution auszulösen. Tief enttäuscht und verunsichert müssen sie zu Beginn der 1920er Jahre erkennen, dass die Welt sich nicht nach ihren Wünschen richtet.
Die chinesischen Kommunisten haben den Vorteil, dass ihnen diese Enttäuschung schon andere abgenommen haben. Sie konzentrieren sich vorerst nur auf den nationalen Rahmen.

Die zweite Etappe – das Handwerk erlernen
Nachdem Chiang die Kommunisten im Jahr 1927 personell enorm geschwächt hat, ziehen sie sich zurück und gründen auf dem Land „rote Stützpunktgebiete“. Von dort aus wollen sie die Städte einkreisen, sprich: den Kampf gegen die Guomindang und die imperialistischen Eindringlinge wiederaufnehmen.
Aus Anlass des 14. Jahrestages der „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ (1931) werden diese Gebiete zur ersten chinesischen Sowjetrepublik zusammengelegt. Lokal arbeitende kommunistische Funktionäre, meist Offiziere der Roten Armee, untersuchen die Eigentumsstruktur in den Dörfern und teilen den Bauern einen Klassenstatus zu. (Das gleiche Prinzip kommt in der Sowjetunion im gleichen Moment zur Anwendung.) Im Anschluss daran werden aber keine Kolchosen gegründet, sondern in sogenannten „sprich bitter Versammlungen“ entfachen die Kommunisten den Klassenkampf zwischen den willkürlich eingeteilten Klassen. Im Ergebnis wird den reichen Bauern der Boden (teils auch das Leben) genommen und an die armen Bauern vergeben.
Die armen Bauern werden befreit, die reichen Bauern werden zurückgesetzt und auf Armutsböden umgesiedelt. Das Eigentum wird nicht grundlegend verändert, „nur“ die Eigentumspyramide wird umgedreht. Das ist der Mechanismus, dessen weitere Anwendung die Neuordnung der Gesellschaft erfolgreich einleitet.
Ich möchte diesen Mechanismus näher beschreiben, weil sein Verständnis der Schlüssel für das Begreifen der nachfolgenden Entwicklungen ist.
Erstens: Eine tatsächlich vorhandene, feudale Klassenspaltung in der Familie und im Dorf wird ausgenutzt, um Überlebtes abzuschaffen. Das Umdrehen der Eigentumspyramide vernichtet die überkommenen und reaktionär gewordenen Unterordnungssysteme. Der Sohn führt den Vater auf den Richtplatz, die Frau den Ehemann, der arme Bauer den reichen Shenshi.
Zweitens: Die Kommunisten, die diesen Umbruch ermöglichen, sind selbst Bauern, jetzt in Uniform.
Sie kommen nicht wild um sich schießend und alle gegen sich aufbringend in das Dorf (wie in der Sowjetunion). Sie kommen als Richter, die Anklägern, denen bisher niemand Gehör geschenkt hat, Gehör verschaffen.
Sie führen niemanden auf den Richtplatz, das tun die armen Bauern aus eigenem Antrieb.
Sie ermöglichen nur einen Umsturz, führen ihnen selbst nicht aus.
Durch sie wird Gerechtigkeit vollstreckt.
Drittens: Zwischen den ehemals armen Bauern, die jetzt zu reichen Bauern gemacht werden, und ihren Befreiern besteht ein tiefer Konsens. Die Bauern sind durch die Gewaltanwendung, die sie mit zu verantworten haben, moralisch korrumpiert. Ohne ihre Schuldzuweisung wäre niemand erschossen (enteignet) worden.
Die Bauern sind ihren Befreiern dankbar und es ist ihnen klar, dass sie ihren neuen Besitz nur behalten und erhalten können, wenn sie sich zu den Kommunisten bekennen.
Viertens: Die Kommunisten besetzen im Ergebnis dieses Prozesses Führungspositionen in den Dörfern. Sie behalten die Uniform an, sie behalten die Gewehre und übernehmen die Schutzfunktion für ihre Günstlinge.
Fünftens: Den enteigneten reichen Bauern (sofern sie die Massaker überlebt haben) ist das Hemd näher als die Jacke. Sie haben den Sturm wenigstens überlebt und können ihr Dasein auf niedrigster Stufe als Landarbeiter oder Armutshöfer gewährleisten. Die Erfahrung der Gewaltanwendung bringt sie in ein Unterordnungsverhältnis, in das sie sich fügen.
Die Stalinschen Kollektivierungstrupps hingegen dringen in Dörfer ein, die in sich gefestigt sind und ein allseits von den Bauern akzeptiertes Eigentumssystem (im Dualismus von gemeinschaftlichem und privatem Eigentum, Dorf/Ackerbaugemeinde) aufweisen
Faktisch kommen sie als Vernichter einer Eigentumsstruktur, deren Erhalt ihnen den Aufbruch in die von ihnen proklamierte Gesellschaft ermöglicht hätte. Sie feiern sich als Sieger, nachdem sie die russische Dorfgemeinde vernichtet haben und begreifen nicht, dass sie mit diesem Fundament ihren Sozialismus auf Treibsand „umgetopft“ haben.
Die chinesische Rote Armee unterliegt diesem Paradoxon nicht. Sie dringt in Dörfer ein, die in sich ungefestigt sind. Sie vermuten keinen Gegensatz zwischen Dorfbourgeoisie und Dorfproletariat (den es nicht gibt), sondern greifen einen vorhandenen Gegensatz innerhalb der Bauerngroßfamilien auf. Sie feiern keinen Pyrrhussieg, sondern einen tatsächlichen. Sie verankern sich in einem gesellschaftlichen Konsens und schaffen damit ein festes Fundament, von dem aus sie sich weiter vorantasten können.

Dritte Etappe – das Handwerk anwenden
Im Jahr 1934 bietet Chiang eine Armee von 1,2 Millionen Soldaten auf, um die Rote Armee zu vernichten. Der Übermacht weichend, begeben sich 86.000 Rotarmisten, darunter viele spätere Führungskräfte des sozialistischen Aufbaues, auf den Langen Marsch nach Nordwesten.
Im Oktober 1935, in der Provinz Yan an angekommen, „überwintern“ die Kommunisten bis zum Jahr 1945.
Mit Ende des Zweiten Weltkrieges bricht der Bürgerkrieg zwischen der Guomindang und den Kommunisten wieder mit voller Kraft aus.
Die Rote Armee kann über sowjetische militärische Reserven aus der Mandschurei verfügen und ist von einer bloßen Infanterie- zu einer modernen Armee gewachsen. Zur Volksbefreiungsarmee umbenannt, beginnt sie ihren Befreiungsfeldzug von Norden her.
In den eroberten Gebieten wird jenes Prinzip der Umverteilung bäuerlichen Eigentums zur Anwendung gebracht, von dem bereits die Rede war.
Das Verfahren wird auf Anhänger der Guomindang, Kollaborateure mit Japan und Nachfahren von Missionaren ausgedehnt. Die Eigentumsstruktur in den Städten bleibt unangetastet, da man noch die Politik der Massenlinie, die auf Bündnisse zielt, verfolgt.
In den Jahren 1946/47 eskaliert die Gewalt in den Dörfern. Mao bringt eine Methode zur Anwendung, die vor ihm Stalin erfolgreich angewandt hat.
Er lässt dem Terror freien Lauf und erst als die Bodenreform landesweit unumkehrbar ist, brandmarkt er „linke Abweichungen“ und straft jene Kader, die nicht schnell genug die neue Weichenstellung aufgegriffen haben. Er bündelt in der Terrorphase seine Machtstellung.
Hier beginnt sich ein Mechanismus abzuzeichnen, den wir schon in der totalitären Phase sowjetischer Entwicklung kennengelernt haben.
Durch die Konzentration der Machtausübung auf eine Person entsteht Voluntarismus, der als ökonomischer Faktor sowohl zur Umsetzung von Kapitalbildungsprozessen unter staatlicher Kontrolle als auch zu ihrer Zügelung, eingesetzt werden kann.
Am 1. Oktober 1949 wird die Volksrepublik China gegründet und Millionen Anhänger der Guomindang fliehen nach Taiwan. Das ist ein gewaltiger Aderlass, weil sich hier große Teile der Verwaltungselite und des nationalen Bürgertums absetzen. Für die Kommunisten ist das eine Chance, den Staatsapparat gewaltlos zu übernehmen, verbunden mit dem Makel, Sachkunde einzubüßen.
Doch hier steht jetzt die Sowjetunion bereit, die im Rahmen der Westausdehnung ihres Herrschaftsbereiches auch die neue Realität im Osten anzuerkennen beginnt.
Stalin hatte alles unternommen, um den chinesischen Kommunisten Steine in den Weg zu legen. Er schließt 1941 einen Friedenvertrag mit Japan, erkennt die territoriale Integrität von Mandschukuo an, setzt auch im Bürgerkrieg auf die Guomindang und gewährt materielle Unterstützung für Mao nur auf Kredit.
Im Jahr 1949 unternimmt Mao seine erste Auslandsreise. Er besucht die Sowjetunion und trifft Stalin. Der Jubel im sozialistischen Lager ist groß, aber Mao hat andere Erfahrungen mit Stalin und der Sowjetunion gemacht. Für ihn zählt weniger die (spät) proklamierte Freundschaft. Im Vordergrund stehen pragmatische Gesichtspunkte, die die junge Volksrepublik stärken und Maos Machtbasis erweitern. In Stalin begegnet ihm eine Person, die mittels unglaublicher Härte binnen kürzester Zeit ein rückständiges Agrarland industrialisiert hat und als Sieger aus einem Weltkrieg hervorgegangen ist. Mao erkennt die strategischen Vorteile, die ihm durch ein Bündnis zuwachsen, und so beginnen sich die Entwicklungswege der Sowjetunion und der Volksrepublik China zu verschlingen. Die Sowjetunion stellt Kredite bereit und entsendet Berater, die beim Aufbau der staatlichen Institutionen maßgeblichen Einfluss ausüben. Der erste Fünfjahrplan tritt 1953 in Kraft und präferiert die Entwicklung der Abteilung I. Analog der sowjetischen Erfahrungen wird eine Staatsbürokratie installiert, die sich der schützenden Hülle der ungebremst wachsenden Ministerien, Verwaltungen und Organisationen bedient und durch die Kommunistische Partei ein geeignetes Legitimationsinstrument besitzt. Die Politik der Massenlinie wird für beendet erklärt, und die Politik der Klassenlinie beginnt.
Den Städtern wird ein Klassenstatus zuerkannt und der Klassenkampf unter ihnen entfacht. Im Ergebnis wird privates industrielles Eigentum in staatliches überführt.
Im Gegensatz zur Sowjetunion läuft das fast gewaltfrei und relativ geräuschlos ab. Privat geführte Unternehmen und Banken sind sowieso durch die Flucht ihrer Eigentümer nach Taiwan „vogelfrei“ und werden vom Staat übernommen. Verbleibende Privateigentümer werden mit so viel wirtschaftlichen und administrativen Nachteilen und Hürden belegt, dass sie entnervt verkaufen oder dem Staat den Plunder schenken. Als Eigentumslose haben sie eher die Möglichkeit, sich und ihre drangsalierten Familien in einen besseren Klassenstatus zu hieven.
Der Staat übernimmt das Handelsmonopol nach innen und außen, gründet ein zentrales Banksystem und reguliert die Kreditvergabe. Es entstehen große Staatsbetriebe in den Städten, die ihren Angestellten Lebensmittelversorgung, kollektiven Wohnraum und eine Gesundheitsversorgung ermöglichen.
Aber nicht nur die Städter werden von der neuen Politik der Klassenlinie berührt.
Auch den Bauern wird nach etwa zehn Jahren ein neuer Klassenstatus zugesprochen. Das Ziel dieser Aktion besteht darin, eine Kollektivierung der Landwirtschaft durchzusetzen, das private Eigentum der Bauern abzuschaffen und analog den sowjetischen Erfahrungen den Zugriff des Staates und seiner Planungsorgane auf das Dorf zu gewährleisten.
Die Mittel, die zum Ausbau der Abteilung I eingesetzt werden, sind immens und wie in der Sowjetunion auch, sollen die Bauern durch ihre Leistungen die Industrialisierung bezahlen.
Ab diesem Moment beginnt der gesellschaftliche Konsens zu bröckeln, und die Entwicklung der Volksrepublik China gerät auf ein anderes Gleis.

Vierte Etappe – die Spaltung der Staatsklasse
Man vergegenwärtige sich folgende Situation: Als die Befreiungsarmee vorrückt und die Bauern in Uniform ihre benachteiligten Klassenbrüder befreien, gehen beide, Befreier und Befreite, eine Symbiose ein. Dazu gehört auch, dass sich die Kommunistische Partei durch viele bäuerliche Aktivisten verstärkt, die sich im Terror der Enteignung gegen ihre Familienmitglieder hervorgetan haben. Überhaupt steht „der Bauer“ im Zentrum des Denkens und Fühlens der chinesischen Kommunisten. Jetzt sollen die seit zehn Jahren in den langersehnten Besitz guter Böden gekommenen und von Pachten befreiten Ausgebeuteten die Klasse der Grundeigentümer, sprich die Dorfbourgeoisie, und ihre auf Armutshöfe gesetzten ehemaligen Peiniger das Landproletariat stellen.
Ob den chinesischen „Kulaken“ das Schicksal ihrer russischen Klassenbrüder bekannt ist, sei dahingestellt. Auf jeden Fall verfügen sie noch über frische Erfahrungen, welcher Terror 1946/47 von ihnen ausgegangen war.
Neben der Furcht und der Angst, das Gleiche könne jetzt ihnen widerfahren, wenden sich nicht nur Bauern, sondern auch kommunistische Funktionäre gegen diesen Widersinn. Aber vorerst bleibt die Einheit der Kommunistischen Partei und des Staates gewahrt.
Die Bildung von halbsozialistischen Genossenschaften (das Inventar der Bodenbearbeitung wird kollektiv geteilt, der Boden bleibt privat) und sozialistischen Genossenschaften (Inventar und Boden gehen in Kollektiveigentum über) wird vorerst nur den Landproleten (den ehemals reichen bäuerlichen Familienmitgliedern) anempfohlen. Aber was soll dabei herauskommen, wenn sich die Armutshöfe zusammenschließen und ihre kargen Produktionsmittel teilen? Den Landproleten steht noch gut im Gedächtnis, was ihnen 1946 passiert ist, und der Übertritt in eine (staatlich organisierte) Genossenschaft bietet ihnen Schutz vor zukünftigen Enteignungen.
An den Zuwachszahlen der Zusammenschlüsse in Kooperativen können sich die Funktionäre einige Monate berauschen.
Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis dieser Horizont überschritten werden soll. Das Tempo der Kollektivierungskampagne wird zum Kernpunkt der Auseinandersetzung innerhalb der Kommunistischen Partei. Zwei Flügel zeichnen sich ab. Auf der einen Seite stehen die Verfechter einer beschleunigten Industrialisierung, die auch möchten, dass so schnell wie möglich die Bauern dafür bezahlen sollen (im Folgenden die Pacemaker genannt). Auf der anderen Seite stehen die Bremser, die im Interesse ihrer ehemals benachteiligten Klassenbrüder einen vorsichtigen Kurswechsel ansteuern.
Der Widersinn, nach wenigen Jahren Landbourgeoisie und Landproletariat (in Anlehnung an Lenin) feststellen und auf dieser Basis die Eigentumspyramide erneut umdrehen zu wollen, entfernt die fest in der Bauernschaft verwurzelten kommunistischen Führungskräfte von den Pacemakern. Mao stellt daher fest, dass es in der Partei Kräfte gäbe, die fortwährend den Standpunkt der Groß- und Mittelbauern vertreten und damit hinter dem notwendigen revolutionären Tempo zurückblieben.
Das ökonomische Grundrauschen ist aber hier das gleiche, wie in der Sowjetunion am Ende der 1920er Jahre. Die Entwicklung der Städte und die voranschreitende Industrialisierung benötigen Arbeitskräfte. Die Strukturen im Dorf sind aber nicht darauf ausgelegt, diesen Proletarisierungsschub herbeizuführen. Die eingeleiteten Veränderungen, die China aus dem Feudalismus herauskatapultieren, sind objektiv Kapitalbildungsprozesse in Gestalt der Ausprägung von Lohnarbeit. Erneut greift sich dieser ökonomische Zwang eine Klasse, die vorgibt, den Sozialismus aufzubauen. Genauso wie die Stalinfraktion sich von der Bucharin/Rykow-Fraktion gebremst sah, sieht sich die Mao-Fraktion von den innerparteilichen Bremsern behindert. Auch in China bleibt es der Staatsklasse vorbehalten, im Namen des sozialistischen Aufbaues, zur Kapitalbildung beizutragen.
Auch hier vertauschen das Sein und das Bewusstsein ihr Ursache-Wirkungsgefüge und zeitigen paradoxe Erscheinungen.
Vorerst gibt es aber, wie gesagt, nur einen Riss in der Kommunistischen Partei Chinas und keinen Bruch. Der bahnt sich in Gestalt der Kollektivierung der Landwirtschaft als innere Problemstellung und in zwei weiteren, von außen kommenden Punkten an.
Erstens: Den voranstürmenden Kräften um Mao Zedong geht es mittlerweile nicht nur um China. Die in Asien und Afrika von den imperialistischen Hauptmächten errichteten Kolonialreiche brechen in den 1950er Jahren in sich zusammen, und China gerät als ehemaliges halbkoloniales Entwicklungsland in die Situation, international ausstrahlen zu können.
Das ist an sich nicht zu kritisieren, aber damit ist die Führungsrolle der Sowjetunion infrage gestellt, und die Pacemaker verlieren an Bodenhaftung. Aus dem Zusammenbruch des Kolonialsystems schließen sie auf den Zusammenbruch der kapitalistischen Welt binnen zehn Jahresfrist. Mao sieht sich mehr und mehr als Alleinherrscher und großen Steuermann, ohne dessen Zutun all diese Entwicklungen nicht zustande gekommen wären oder zustande kommen werden.
Sein Blick für die Realitäten, der ihn in den 1920er bis 1940er Jahren auszeichnete, beginnt sich einzutrüben.
Zweitens: Im internationalen Geschehen gibt es einen zweiten Grund, der die Pacemaker voranpeitscht. Im Jahr 1953 ist Stalin gestorben und seine Erben verspielen (in den Augen der maoistischen Pacemaker) seine sozialistischen Errungenschaften. Der XX. Parteitag der KPdSU stößt Stalin vom Sockel, und die Lockerungen im Umfeld der osteuropäischen Satellitenstaaten führen in die „Konterrevolution“ (Ungarn 1956). Es liegt für die Volksrepublik China im Rahmen des Möglichen, dass innerparteiliche Kritiker (mit Unterstützung des Revisionisten Chruschtschow) auch Mao gefährlich werden könnten.
So setzen die Pacemaker alles auf eine Karte. Schließlich ist auch die Sowjetunion unter Stalin erfolgreich „in den großen Sprung“ aufgebrochen. Anders als in der Sowjetunion sind aber die in der neureichen Bauernschaft verwurzelten, moderaten Kräfte nicht ausgeschaltet. China befindet sich auch gegen Ende der 1950er Jahre in keinem totalitären Taumel.
In einem Anflug von Selbstüberschätzung verkündet Mao ab 1958 die „Politik des großen Sprungs nach vorn“. Jetzt wird mit den Bremsern nicht mehr diskutiert, sie werden schlichtweg übergangen.
Es geht nicht mehr um den Sozialismus, jetzt soll der Kommunismus errichtet werden.
Innerhalb weniger Monate werden 500 Millionen Bauern in Volkskommunen zusammengeführt. Persönlicher Besitz und Eigentum, ob bei Reichen oder Armen, wird zu Eigentum der Volkskommunen, die unter staatlichem Einfluss stehen. Die Familien werden aufgelöst. Diese neuen Zusammenschlüsse sollen zu einem deutlich höheren Überschuss an Getreide führen, als es die Vielzahl der kleinen genossenschaftlich zusammengefassten Armutshöfe vermocht hatte. Der Überschuss soll dem Staat zukommen, der sich im Gegenzug für die Versorgung, Unterbringung und Betreuung der in großen Brigaden organisierten Menschenmassen verantwortlich fühlt und die Überwindung der Rückständigkeit des Landes durch Aufbruch in den Kommunismus – gleichbedeutend mit einer Industrialisierung – proklamiert.
In dieser Hinsicht wäre die Bildung von Volkskommunen vielleicht sinnvoll gewesen. In völliger Überschätzung der Kräfte werden aber der Landbevölkerung noch weitere strategische Aufgaben übertragen. Bei der Errichtung der „kommunistischen“ Gesellschaft sollte auch die Teilung der Arbeit in Stadt und Land überwunden werden. Die Volkskommunen haben deshalb die Stahlproduktion zu übernehmen und sollen Großbritannien innerhalb weniger Jahre überflügeln. Das übersteigt die Kräfte der Bauern. Neben der Übertragung ihres Besitzes und ihres Eigentums an die Volkskommunen haben die Bauern auch ihre Vorräte an die Volksküchen abgeführt. Niemand darf mehr zu Hause kochen. Anfänglich quellen die Kessel der Volksküchen schier über.
Der Aufbau der Hüttenindustrie, das Zusammentragen von eingeschmolzenen Erzen aus den Häusern und Pagoden, das Fördern von Erzen und das Erzeugen von Brennmaterial vor Ort sowie die Erledigung weiterer von der Kommunistischen Partei übertragener Aufgaben lassen die Bauern ihr Handwerk, das Bestellen der Felder, vernachlässigen. Aber niemand wagt, das Wort gegen den Großen Vorsitzenden zu erheben. Überall im Land geht es scheinbar beim Aufbau des „Kommunismus“ zügig voran. Hunderttausende Funktionäre überbieten sich mit Erfolgsmeldungen und heißen den Export des scheinbar im Überfluss produzierten Getreides gut. Der Voluntarismus steht in voller Blüte. Doch innerhalb weniger Monate sind die Vorräte verzehrt oder exportiert und neue Produkte zur Nahrungsgewinnung wachsen kaum nach. So bricht sich die größte Hungertragödie und in deren Folge die größte Migration des Jahrhunderts Bahn. Von 1959 bis 1961 verhungern in der Volksrepublik China 15 bis 45 Millionen Menschen. Sogar die Statistik des Landes bricht zusammen, weil auch die Statistiker verhungern. Da die Städte einer zentralen Versorgung unterliegen, verlassen viele Millionen Bauern ihre Dörfer und streben in die Städte, um nicht zu verhungern. Wir sehen die ersten chinesischen (Lohn-)Wanderarbeiter.
Erst als die Nahrungsmittelversorgung für die Städte kurz vor dem Zusammenbruch steht, sind die Pacemaker um Mao Zedong bereit, die Politik des großen Sprungs zu beenden. Innerparteiliche Kritik, die seitens des Verteidigungsministers Peng Dehuai 1959 erstmals vorsichtig formuliert wird, führt zu seiner Entlassung. Als dann die Parteiführung öffentlich Disziplinierungsmaßnahmen unterzogen wird, ist der Bruch innerhalb der Kommunistischen Partei Chinas und im Staatsapparat vollzogen.
Ab jetzt stehen sich zwei unterschiedliche, ja feindliche Formationen in der Partei und im Staat gegenüber. Das ist etwas völlig Neues, das weitreichende Folgen hat.
Die Kommunistische Partei Chinas, fest in der Bauernschaft verwurzelt, aus dem Bauernvolk hervorgewachsen, ist schwer angeschlagen. Die Bauern haben den Kommunisten vertraut, sie sind bisher alle Wege mitgegangen und jetzt steht das Land vor einer schlimmeren Katastrophe, als sie Krieg und Bürgerkrieg herbeiführten.
Damit nicht der Eindruck entsteht, der Himmel habe der gesamten kommunistischen Führungsschicht den Auftrag entzogen, müssen so schnell wie möglich andere Konzepte und andere Protagonisten her. Mao zieht sich, schwer angeschlagen, in die zweite Reihe zurück und entsendet (in einem Scheingefecht) die Volksbefreiungsarmee, damit sie lokale Funktionäre und Großgrundbesitzer innerhalb der Kommunistischen Partei bestraft.
Aber vor aller Augen wird deutlich, wer die Karre aus dem Dreck zieht. Es sind die Bremserkräfte um Deng Xiaoping und Liu Shaoqi, die die undankbare Aufgabe übernehmen und als Regierungsbeauftragte die Tragödie beenden.
Getreide wird importiert und der Export vorübergehend eingestellt. Der Hunger und das Elend nehmen ein Ende. Private Parzellen dürfen durch die Bauern wieder bewirtschaftet und der Ertrag auf lokalen Märkten verkauft werden. Die Agrarpreise werden erhöht, um das Interesse an einer Produktion für den Markt anzukurbeln. Die Schmelzöfen der Volkskommunen werden abgebaut und die Volksküchen geschlossen. Die Bauern dürfen wieder ihre familiären Bindungen eingehen und auch zu Hause kochen und essen. Ungefähr 20 Millionen Menschen werden aus den Städten wieder zurück aufs Land geschickt. Die zweite Migrationswelle rollte durch China.
Zentrales Element der Reform ist die Einführung des Familienverantwortlichkeitssystems auf dem Land. Die Bauern pachten im Familienverbund den jetzt staatlichen Boden, haben Abgabenquoten zu erfüllen und dürfen die Überschüsse verkaufen. Unter der Hand hatte sich die ökonomische Grundlage für diese Mischgesellschaft auf dem Land ergeben. Das zersplitterte Privateigentum der Bauern ist beseitigt und hat dem kompakten Staatseigentum (nicht dem kompakten kapitalistischen, personifizierten Privateigentum an Produktionsmitteln) Platz gemacht.
Das wird in China nicht reflektiert. Vielmehr ist es der Fraktion der Pacemaker ein Dorn im Auge, dass offensichtlich kapitalistische Methoden der Warenproduktion und der Ausbau der Ware-Geld-Beziehung zu einem Aufschwung führen.

Fünfte Etappe – das Chaos
Diese Etappe umfasst die „Große Sozialistische Kulturrevolution“, wie sie von den Pacemakern, die sich zu Ultrarevolutionären entwickelt haben, in Anlehnung an die „Große Sozialistische Oktoberrevolution“ genannt wird. Sie dauert von 1965 bis zu Maos Tod im Jahr 1976 und umfasst zwei Phasen.
Die erste Phase des spontanen Terrors von unten dauert bis 1968, sie ist spektakulärer als die zweite, da Kinder und Jugendliche die Akteure sind. Sie hat weit weniger Opfer zu beklagen. Nur 347.000 sogenannte Rinderteufel und Schlangengeister, Lehrer, Professoren, Ärzte, Funktionäre werden in Umerziehungslager deportiert oder erschlagen.
Die Auswirkungen auf das Denken und die Moral der 16 Millionen jugendlichen Rotgardisten, die die Intelligenz verachten, der oberflächlichen Dummheit von Parolen erliegen, Traditionen verachten, Kulturdenkmäler schänden und vernichten, sind viel schlimmer. Ihr tragisches Schicksal, das sie als Spielball der Machtinteressen konservativer Parteikreise erdulden müssen, wird noch dadurch verstärkt, dass man sie fallen lässt, in einer dritten Migrationswelle auf das Land deportiert und in den tiefsten nördlichen Provinzen „versauern“ lässt.
Die zweite Phase des organisierten Staatsterrors von oben ist unspektakulärer. Die Volksbefreiungsarmee bekommt den Auftrag, die Anarchie von unten zu beenden, aber sie soll die Kulturrevolution vollenden. So werden 36 Millionen Menschen „überprüft“, Millionen von ihnen in Umerziehungslager gebracht und Hundertausende ermordet.
Nach meiner Auffassung hat die Kulturrevolution rein destruktiven Charakter und ist in ihrem Kern eine „Kulturlosigkeitsrevolution“. Sie ist geprägt vom Richtungskampf innerhalb der zerbrochenen chinesischen Staatsbürokratie und von der Skrupellosigkeit der um ihre Machtstellung kämpfenden Revoluzzer, die sich rücksichtslos des kostbarsten Teils der Gesellschaft, der Kinder und Jugendlichen, bedienen.
Das ökonomische Feld, auf dem die in die Kulturrevolution treibenden Widersprüche entstanden sind, ist ein Analogon zur Sowjetunion.
Die Industrialisierung Chinas findet in der Produktionsmittelherstellung (Abteilung I) statt. Die Herstellung von Konsumtionsmitteln (Abteilung II) hat keine Priorität, daher die Askese.
Genauso wie in der Sowjetunion steht quantitatives Wachstum im Mittelpunkt, das durch immer mehr Einsatz lebendiger Arbeit, immer höheren Material- und Energieverbrauch nur noch gegen zunehmende Widerstände befördert werden kann. Diese Art und Weise der Produktion, die sich gegen die Bedürfnisbefriedigung stemmt (denn in den Waren der Abteilung II schlummern alle Widrigkeiten der Marktwirtschaft), erschöpft sich in China schneller als in der Sowjetunion.
Es ist bezeichnend, dass die zehn Jahre der Kulturrevolution dafür genutzt werden, die unter Deng und Liu (nach dem großen Hunger) eingeleiteten Reformen wieder zurückzudrehen.
Das Familienverantwortlichkeitssystem in der Landwirtschaft weicht wieder dem Dirigismus. Das ab 1958 eingeführte, an den Wohnort gebundene Sozialleistungssystem dient der Unterbindung von Binnenmigration. Die Bauern sind zwar der Produktionsmittel entledigt, schmoren aber in ihren Dörfern als Befehls- und Lohnempfänger, die kaum über das Existenzminimum hinauskommen. Ein Abwandern in die Stadt ist nur mit Genehmigung möglich und nicht gewünscht. Durch das Wachstum der Bevölkerung verarmt die Landbevölkerung immer mehr, während die städtischen Großbetriebe durch fehlenden Zustrom an Arbeitskräften ihre Planziele kaum mehr erreichen.
Der politische Ausweg, um dem zu begegnen, sind zunehmender Voluntarismus, der Einsatz von Gewalt und das Ausweichen in den Staatsterror. Die Kulturrevolution ist auch Ausdruck dafür, dass sich das extensive, marktfeindliche Wirtschaften erschöpft hat und nur noch blinde Zerstörungswut einen Aufbruch in die Regulierung wertschöpfender Prozesse verhindern kann.
Die grassierende Dummheit und dumpfe Kulturlosigkeit, die ab 1965 in China um sich greifen, hat in diesem überlebten Wirtschaftsmodell ihre Ursache.
Die ökonomische und politische Alternative verkörpern die „Anhänger des kapitalistischen Weges innerhalb der Kommunistischen Partei“, aber man wird ihrer nur noch durch Umerziehung in Arbeitslagern, schlimmstenfalls durch Erschießung, Herr.
Das Marktfeindliche ist offensichtlich in der Defensive, das Marktregulierende zeichnet sich als Lösung der Krise ab.
Im Unterschied zur Sowjetunion sind die gesellschaftlichen Kräfte in China präziser konturiert.
Die sowjetische Gesellschaft hat mehr als 25 Jahre Staatsterror ertragen müssen und sich in diesem Zeitraum aller Querdenker entledigt. Die Stalinfraktion (mit ihr die nach innen gerichteten Gewaltorgane) haben bessere Bedingungen vorgefunden, um ganze Arbeit zu leisten.
Die chinesische Staatsklasse ist gespalten, die Pacemaker versuchen, sich der bremsenden Pragmatiker zu entledigen. Aber die zehn Jahre bis zu Maos Tod reichen nicht aus, um diesen Teil der Führungselite zu liquidieren.

Sechste Etappe – Phönix aus der Asche
Maos Tod führt (ebenso wie der Stalins) in ein Machtvakuum. Innerhalb von zwei Jahren sammeln sich die Pragmatiker, die am Leben gebliebenen Vertreter des „kapitalistischen Weges innerhalb der Kommunistischen Partei“ und scharen sich um Deng. Der kritisiert Mao, aber verdammt ihn nicht. Die ultrarevolutionäre Führungsspitze um die Witwe Maos (Viererbande) wird entmachtet, aber es unterbleibt ein „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. So wird den zig-Millionen gläubigen Maoisten eine Brücke in die Zukunft gebaut.
Im Jahr 1976 leben in China 28 Prozent der Bevölkerung unterhalb des Existenzminimums. Der bereitgestellte Wohnraum, der 1952 schon 4,3 Quadratmeter pro Einwohner betrug, schrumpft bis 1976 auf 3,8 Quadratmeter. Der Anteil der Techniker unter den Arbeitern ist im Ergebnis der Kulturrevolution von vier Prozent (1965) auf 2,5 Prozent gesunken. Innovation in Wissenschaft und Technik ist undenkbar, weil Klugheit einem Todesurteil gleichkommt. Die Universitäten verdienen den Namen kaum noch, den sie tragen.
Aber das Land bricht, wie in einem plötzlich einsetzenden Frühling, der quälende Eiseskälte vertreibt, fulminant in eine Wachstumsphase auf.
Die von den ultrarevolutionären Pacemakern gemachten Fehler sind so offensichtlich, dass sich für die Pragmatiker (denn Bremser sind sie nicht mehr) ein etwa 50 Jahre umspannendes Programm ergibt.
Die erste und entscheidende Maßnahme besteht darin, den antriebs- und mutlosen Bauern neue Perspektiven zu geben. Das staatliche Eigentum am Boden bleibt erhalten, aber die kollektive Nutzung wird zugunsten der Familienverbände abgeschafft. Sie erhalten langfristige Verträge zur Bodennutzung. Die in den staatlichen Depots der Landmaschinenstationen vor sich hin rottenden Traktoren, Lastkraftwagen und Maschinen gehen in ihr Eigentum über. Die umstrukturierte Zentralbank gewährt ihnen günstige Kredite. Der Funke springt über. Die Bauern nehmen dieses Programm an. Sie gründen Produktions- und Handelsgenossenschaften und karren Gemüse, Obst, Reis, Getreide, Fisch und Fleisch in die Städte. Die vom Mangel gezeichneten Städter stürzen sich auf dieses Angebot. Es hebt eine gewaltige Aufbruchsstimmung an.
Der ab den 1980er Jahren einsetzende Aufschwung, der von der Landwirtschaft ausgeht, stellt den Konsens zwischen Bauern, Arbeitern, der Intelligenz, der Armee quasi dem Volk und den Kommunisten wieder her. Die Kommunisten stehen in der Tradition Mao Zedongs, sie haben den Langen Marsch (mit ihm!) überstanden, sie haben die Bauern befreit, die Guomindang und die Imperialisten vertrieben, die Staatskonzerne geschaffen, den Hunger in den 1960er Jahren besiegt und jetzt beginnen sie, die bleierne Zeit des Dahinsiechens und der ideologischen Grabenkämpfe der Kulturrevolution zu beenden.
Ein tiefes Aufatmen hebt China empor. Der Konsens, der die Kommunisten mit dem Volk verbindet, wird erneuert und der Mantel des Vergessens über die dunklen Zeiten gelegt.
War das Streben nach Bedürfnisbefriedigung und -entfaltung unter der Herrschaft der Pacemaker ein kleinbürgerliches Relikt, so wird jetzt das Streben nach (bescheidenem) materiellem Reichtum (Fernseher, Kühlschrank, Auto, Smartphone, Fleisch) zum Sinnbild des sozialistischen Aufstieges.
Binnen weniger Jahre wird Gulliver WERT von seinen Fesseln entbunden und beginnt mit voller Kraft, in sein hypermotorisches Wesen (den Formenwandel des Kapitals, den Mehrwert und den Profit) zu streben.
Trotzdem wäre es falsch, von einer rein kapitalistischen Entwicklung zu sprechen. Selbstverständlich ist sie nicht zu übersehen, und sie treibt in Erscheinungen, die hinter den Manchester-Kapitalismus zurückfallen (Wanderarbeit, Umweltzerstörung).
Aber China personifiziert Kapital nur teilweise. Das große Staatseigentum bleibt erhalten und damit auch die Klasse der im Staat agierenden Kollektiveigentümer. Je nachdem, aus welcher Richtung man die Entwicklungen nach 1976 betrachtet, man kann Kapitalstrukturen nicht ohne ihre Regulierungsformen erkennen und bewerten. Das Kapital ergießt sich in gesellschaftliche Strukturen, selbstverständlich, aber sie sind neu, sie kommen ohne Reglementierungen, ohne Regulierungen nicht aus. So gesehen schreitet die Mischgesellschaft, die auf der Grundlage eines absoluten Reglementierungsanspruchs gegenüber dem Kapital entstanden und teilweise gescheitert ist, in einer anderen Form fort.
Aus der flüchtigen Form der Marktfeindlichkeit bewegt sie sich in die beständigere Existenzform der Marktregulierung.
Wenn man den Standpunkt des Betrachters wechselt, könnte man auch meinen, man habe es mit Staatskapitalismus, Staatsmonopolismus im westlichen Sinne zu tun. Eine solche Sichtweise verstellt jedoch den Blick auf das Neue. Im Westen wird der Staat dann als wirtschaftlicher Akteur und Arbeitgeber zugelassen, wenn die privaten Eigentümer zu schwach für die Lösung gesamtgesellschaftlicher Anliegen sind oder die Unterfangen vorerst zu unlukrativ erscheinen. Der Staat ist ein „Ausputzer“ in ökonomischen Fragen, und sobald die kleinen Steuerzahler die immensen Kosten für den Bau eines Autobahn- oder Eisenbahnnetzes, eines Energieerzeugungs- oder Gesundheitssystems et cetera pp. getragen haben, beginnen die Zerschlagung und Privatisierung im Interesse großer Konzerne. Sicherlich läuft das in unterschiedlichen Phasen ab. Mal erscheint der Staat in stärkerer, mal in schwächerer Position. Aber gleich wie, er war, ist und bleibt ein Gestaltungsmittel in den Händen des personifizierten, privaten (großen) Kapitals und seiner Lobbyisten. Die bürgerliche parlamentarische Demokratie stellt dafür den Rahmen eines gesellschaftlichen Konsenses bereit. Sie ist eine historische Errungenschaft und birgt Momente zur Gestaltung von Kompromissen zwischen Kapital und Lohnarbeit, zwischen Jung und Alt, zwischen ländlichen Räumen und den Städten.
Das moderne chinesische Gesellschaftssystem bewegt sich auf einem anderen Niveau. Der Staat ist nicht das Gestaltungsmittel in den Händen Außenstehender. Auf besonderem historischem Wege ist er zu einem Gestaltungsmittel jener geworden, die in ihm existieren. Das ist nicht das Volk, wohl aber eine kleine Klasse von Bürokraten, die für die Ausübung ihrer Herrschaft die bürgerliche Demokratie nicht benötigen. Sie wäre etwas Aufgesetztes und hätte keine Systemimmanenz. Folgerichtig ist die Diktatur der Austragungsort für die innergesellschaftlichen Widersprüche. Auch das ist Ausdruck dafür, eine Mischgesellschaft und keinen klassischen Kapitalismus vorzufinden.
China hat in den letzten 100 Jahren einen gewaltigen Entwicklungssprung vollzogen. Das Tempo der Veränderungen hat im Verlauf dieser Periode nicht ab-, sondern zugenommen.
Die 39 Jahre von 1980 bis heute zeigen uns noch einmal eine Beschleunigung. Im Ergebnis dessen steht China heute im Zentrum weltgeschichtlicher Veränderungen, ja, man könnte es als den Motor der Globalisierung bezeichnen. Chancen und Risiken bündeln sich im aufstrebenden Land der Mitte. Um das zu illustrieren möchte ich zusammenfassend einige dieser Spannungsbögen noch einmal kennzeichnen.
Erstens: China hat in kürzester Frist, von 1949 bis 1980, zwei Phasen der Gesellschaftsentwicklung durchlaufen. Von der Sowjetunion lernend und sich an sie anlehnend hat sich in China nach der Gründung der Volksrepublik eine nationale Staatsbürokratie gebildet, die ihr Eigentum im industriellen und landwirtschaftlichen Bereich konstituierte. Kurzfristig erlag man auch in China der Versuchung, dem objektiven Prozess der Entwicklung der WERTform der Ware mit drastischen Zwangsmaßnahmen zu begegnen. Durch die Spaltung der Staatsbürokratie in Pacemaker und Bremser und ihren Richtungskampf in der Kulturrevolution eröffnet sich nach Maos Tod die Chance, in eine zweite Phase einzutreten, ohne das Kerneigentum und die daran gebundenen Macht- und Herrschaftsmittel aus der Hand geben zu müssen. Die zweite Phase der Gesellschaftsentwicklung Chinas ist erst angebrochen und ihr Ausgang ist offen. Sie ist im Wesen von einer anderen Strategie getragen. Nachdem sich die Staatsklasse herausgebildet hat, ist es nicht mehr notwendig, sich der kapitalistischen Entwicklung frontal zu widersetzen. Das Anwenden starrer, terroristischer Methoden hat sich überlebt. Es wäre ein Trugschluss, daraus auf das „Ableben“ der gesellschaftlichen Mischform zu schließen. Die gesellschaftliche Mischform geht in eine zweite Phase über und trennt sich von der offensichtlichen Sinnwidrigkeit. Die chinesischen Kommunisten erhalten von der Bevölkerung den Bonus, eine gewachsene, andere Möglichkeit des Wirtschaftens ausprobieren zu dürfen. (Die gleiche Chance ergab sich in der Sowjetunion und noch deutlicher in der ČSSR, der VR Polen und der DDR. Diese Chance wurde erkannt, aber die antistalinistischen Kräfte waren nicht stark genug, ein Umsteuern durchzusetzen.) Durch die flexiblere Gestaltung gesellschaftlicher Entwicklungen kann die gemischte Gesellschaft eher sinnhafte Momente zum Tragen bringen. So gesehen beginnen sich die Paradoxa aufzulösen. China tastet sich voran und kreiert Lösungen, die planetar zukunftsweisend sein können. Damit ist noch nicht gesagt, ob sie zu sozialem Fortschritt oder Rückschritt, mehr Humanität oder ihrem Gegenteil führen.
Das ist eine Sicht auf die Dinge, die dem Charakter der Mischform der Gesellschaft und dem in ihm angelegten widersprüchlichen Fortschritt gerecht zu werden versucht.
Zweitens: Werfen wir einen Blick auf die Entwicklungen, die das Geschichtssubjekt Staatsklasse durchlaufen hat. Die kommunistische Staatsbürokratie findet in einer Befreiungsmission der armen Bauernschaft und ihrer festen Verankerung im Bauernvolk die Voraussetzung, um sich als Klasse konstituieren zu können. Die Versuche, einen Sozialismus sowjetischer Prägung zu errichten, führen zu einer notwendigen Konzentration des Eigentums in ihren Händen. Damit verbunden zeigt sich aber die Beschränktheit einer voluntaristischen, marktfeindlichen Politik. Das führt zu einer Spaltung der Kommunistischen Partei und der Staatsklasse. In einem erbarmungslosen Richtungskampf versuchen die marktfeindlich eingestellten Kräfte, das Ruder in den Händen zu behalten, scheitern jedoch, nachdem sie das Land in eine Hungerkatastrophe und die Anarchie der Kulturrevolution gestürzt haben. Die Lösung dieses Konfliktes besteht in einer weiteren Neustrukturierung der herrschenden Staatsklasse. Sie beginnt, aus ihren Reihen personifiziertes Kapital zu entlassen, und generiert sich seit Anfang der 1980er Jahre in zwei Schichten. Das ist kein überstürztes Vorgehen, sondern das Ergreifen einer konkret gewachsenen Möglichkeit. So bestehen privates Eigentum an Produktionsmitteln und kollektives Eigentum der Staatsklasse nebeneinander, gegeneinander, miteinander. Das Miteinander zeigt sich, wenn man einen Blick auf die Entwicklung der Lohnarbeit wirft.
Drittens: China hat sich binnen 60 Jahren von einem Agrarland zu einer führenden Industrienation gewandelt. Dieser Aufschwung geht deutlich zulasten der ländlichen Bevölkerungsgruppe. Obwohl auch auf dem Land bescheidener Wohlstand Einzug gehalten hat, ist die Stadtbevölkerung deutlich privilegiert. Mit der Herausbildung des industriellen Eigentums der Staatsklasse (Mitte der 1950er Jahre) entstehen Großbetriebe und den Beschäftigten wird ein Sonderversorgungssystem eingeräumt. In der großen Hungersnot ziehen Millionen hungernde Bauern in die Städte. Obwohl sie Mitte der 1960er Jahre wieder ausgesiedelt werden, bleibt das soziale Gefälle einer garantierten Lebensmittelversorgung gegen eine nicht garantierte, bleibt das Gefälle des städtischen Wohnraumes gegen den ländlichen, bleibt das Gefälle urbaner Bildungs- gegen ländliche Bildungssysteme, bleibt das Gefälle städtischer gegen ländliche Gesundheitsversorgung bestehen.
Als China beginnt, den Weg der Öffnung zu gehen und ausländisches Finanz- und Industriekapital unter der Losung „Ein Land, zwei Systeme“ in die Sonderwirtschaftszonen der Küstenstädte einströmt (ab 1980), entwickeln die Boomstädte einen gewaltigen Arbeitskräftebedarf. Das Kapital holt sich die Arbeitskräfte, die es benötigt. Im Jahr 1980 setzen sich nur zwei Millionen Wanderarbeiter in die Küstenstädte ab, um dort als Tagelöhner ohne festen Wohnsitz, ohne Zugang zu Bildung und Gesundheit, bar allen Arbeitsrechts, Spielball der Willkür der Unternehmer (man arbeitet illegal, ist nur geduldet) zu arbeiten.
Heute, 39 Jahre später, machen sich 300 Millionen solcher Wanderarbeiter jährlich auf den Weg, und ohne ihr Lohndumping wären der chinesische Aufschwung und das sprunghafte Ansteigen der Zahl der Milliardäre und Millionäre undenkbar. Diese 300 Millionen Lohndumper werden gewerkschaftlich kaum vertreten. Ein Streikrecht haben sie, genauso wie ihre städtischen Klassengenossen, nicht.
Solange die herrschende Staatsbürokratie den privaten Unternehmern, die aus ihren Reihen hervorgegangen sind, solche hervorragenden Kapitalverwertungsbedingungen garantiert, unterwerfen sich jene gerne dem politischen und ideologischen Diktat. Das ist die eine Sicht auf die Dinge, die das Miteinander beider Herrschaftsschichten zeigt. Den Verhältnissen in China wird man aber damit nicht gerecht, weil es auch ein Gegeneinander beider gibt. Das, was in China als Kampf gegen die Korruption bezeichnet wird, ist nicht vordergründig das Abstrafen kleiner Beamter, die ihre Machtstellung nutzen, um die Hand aufzuhalten. Hinter der als zentraler Aufgabe umrissenen Bekämpfung der Korruption (die sich die kollektiv agierende Staatsklasse vorbehalten hat) steht das Prinzip, Eigentumsrechte im privaten Sektor auch wieder einkassieren zu können.
Damit verbunden schränkt die Staatsklasse auch Kapitalverwertungsbedingungen ein, indem sie beginnt, das städtische Sonderversorgungssystem zu flexibilisieren und auf das ländliche auszudehnen. Der soziale Sprengstoff wird neutralisiert und nicht weiter angereichert.
Das städtische Sonderversorgungssystem können heute schon etwa 270 Millionen Menschen in Anspruch nehmen. Sollte das ländliche wie vorgesehen bis Anfang der 2020er Jahre angeglichen sein, wäre das ein großer sozialer Fortschritt für weitere etwa 600 Millionen Menschen.
Beide Prozesse sind im Gang. Nur den einen zu sehen, führt in die Irre. Aber beide Prozesse lösen sich nicht auf, sondern bleiben nebeneinander auch weiter bestehen, drängen in neue Formen.
Viertens: Man kann diesen gedanklichen Ansatz auch auf globale Entwicklungen beziehen. China hat mit der billigen Wanderarbeit genau das ausländische Kapital angezogen, das seine (lebendige Arbeit erfordernden und umweltzerstörenden) Produktionsprozesse auslagern wollte. Zum Preis der Einbeziehung in die internationale Arbeitsteilung ist China zur verlängerten Werkbank und zu einem führenden Umweltzerstörer geworden. Es hat damit jene globalen Kräfte gestärkt, die auch in ihren Ländern die sozialen und ökologischen „Errungenschaften“ torpedieren. Die Demokratiefeinde sehen in den Chinesen Verbündete, genauso wie die Wachstumspropheten, die Umweltfeinde und Menschenverachter. Aber auch hier ist die Entwicklung offen. China wird und kann sich mittlerweile auch aus diesen Verstrickungen lösen. Gerade jetzt, da sich die USA als Weltmacht verabschieden und sämtliche zukunftsweisenden Führungspositionen preisgeben. China hat beides in der Hand, es kann sowohl zum Vorreiter für sozialen und ökologischen Fortschritt als auch zum Totengräber beider Entwicklungen werden. Der Ausschlag in die eine oder andere Richtung wird wesentlich davon abhängen, ob ein neues, produktives Verhältnis zur reichhaltigen tausendjährigen chinesischen Geschichte gefunden wird.

An Stelle eines Nachwortes

Mittels der vorliegenden zwölf Essays habe ich versucht, ein differenziertes und neues Bild des real existierenden Sozialismus zu zeichnen, um damit einen Beitrag zur notwendigen Geschichtsaufarbeitung zu leisten.
Ganz im Kontrast dazu steht die von Egon Krenz in seinem Buch „Wir und die Russen“ (edition ost 2019) wiederholte These, Gorbatschow sei ein Verräter gewesen und wir hätten seinem Tun und Lassen den Untergang der Sowjetunion und das Zerbrechen der sozialistischen Staatengemeinschaft zu verdanken.
In der dritten, korrigierten Auflage seines Buches relativiert Krenz die Verräterthese, in dem er den Begriff des „objektiven Verrates“ einführt.
Ich erahne, was er damit andeuten will. Scheinbar gibt es im Leben eines politischen Menschen Situationen, da gelingt nur das Gegenteil vom Bezweckten. Ich nehme an, Krenz möchte eher einen solchen Sachverhalt benennen, denn auch an ihm vollzog „die Geschichte“ diesen eigentümlichen Wandlungsprozess.
Aber will und kann er sich solcher Gedankenarbeit noch stellen? Für seine Verräterthese erhält er jedenfalls viel Beifall, denn sie schafft Identität. Warum sollte er sich da dem mühevollen selbstkritischen Nachdenken unterziehen, wenn der Verkaufserfolg seines Buches mittels so schlichter Überlegungen gesichert werden kann?
Daher reizt es mich, quasi als Zusammenfassung, dieser einfachen und oberflächlichen Logik etwas entgegen zu setzen.
Ohne Umschweife sei gesagt: Ich halte nichts davon, Gorbatschow als einen Verräter zu brandmarken und ihn, wie einen biblischen Ziegenbock, mit den eigenen Sünden zu beladen und in die Wüste zu treiben. Es ist viel zu einfach, einen Einzelnen für kollektives Versagen verantwortlich zu machen und sich darüber persönlich rein zu waschen.
Gorbatschow hat, entgegen seiner Überzeugung und entgegen seiner Intention, etwas Erstarrtes, nicht mehr Haltbares zum Einsturz gebracht und das als Verrat zu kennzeichnen ist mehr als billig.
Was aber könnte die weltgeschichtlich bedeutsame Person Gorbatschow treffender charakterisieren als das eindimensionale Bild vom „Verräter“?
Ich meine, Gorbatschow war ab dem Jahr 1985 ein moderner Sisyphos, der am Hang über einen Stein stolpert. Er will das Hemmnis aus dem Weg wälzen. Doch im Moment der ersten Bewegung nimmt das Verhängnis seinen Lauf, denn der Stein ist einem überhängenden Schneebrett der letzte Halt. Ist der erst hinreichend gelockert, wird eine Lawine ausgelöst, die auch diesen Sisyphos mit in die Tiefe reißt.
Das alte Bild des Sisyphos, der seine Arbeit – unbefriedigt zwar, aber auch unbeschadet – immer wieder von vorn beginnen kann, wird um das endgültige Scheitern bereichert. Das ist ein Moment der Moderne.
Abschließend zu diesem Bild des modernen Sisyphos einige weitere Aspekte:
Erstens: Über welchen Stein stolperte Gorbatschow?
Als er im Frühjahr 1985 Generalsekretär der KPdSU wird, hat die Sowjetunion ein bleiernes Jahrzehnt hinter sich. Greise Führungskader haben sich an ihre Machtpositionen geklammert und alle Bestrebungen für Kurskorrekturen im Ansatz erstickt.
Die Sowjetunion kann mit den westlichen Industrienationen nicht mehr Schritt halten. Sie bleibt ökonomisch deutlich zurück, weil es nicht mehr ausreicht, Pläne nur anhand von quantitativen Kennziffern auszurichten.
Jener Betrieb, der die ihm zugeteilte Menge an Rohstoffen, elektrischer Energie et cetera verbraucht, erfüllt den Plan. Einsparungen sind nicht vorgesehen und werden nicht belohnt.
Jener Betrieb, der die Menge der geforderten Konsumgüter produziert, erfüllt ebenfalls seinen Plan. Ob sie auch dem Gebrauch standhalten, ist nicht mehr Gegenstand der Abrechnung.
Jener Betrieb, der für die Produktion der Erzeugnisse das geplante Personal beschäftigt, erfüllt nicht minder seinen Plan. Wo käme man hin, würde man Personal freisetzen?
Jene Kolchosen, die die festgesetzte Menge Getreide ernten, erfüllen den Plan. Ob dieses Getreide auch in den Speichern ankommt oder aus löchrigen Anhängern herausrieselt und am Wegesrand verrottet, ist nicht Sache der Kolchosbauern.
Es lag auf der Hand, dass dieses System so nicht weiter existieren konnte, und es schien eine Sache des gesunden Menschenverstandes zu sein, das en passant zu ändern.
Gorbatschow ging diese Probleme frontal an und machte die Sowjetbürokratie als Hemmnis aus. Er wollte die Planwirtschaft flexibilisieren und mehr marktwirtschaftliche Elemente zulassen. Genau das hatte die Sowjetbürokratie, als in den 1960er Jahren schon einmal solche Bestrebungen aufkeimten, erfolgreich torpediert und zum Erliegen gebracht. Wie schon die NÖP in den 1920er Jahren. Auch jetzt würde man sich von diesem Heißsporn Gorbatschow die Befehlsgewalt über die Betriebe nicht aus der Hand nehmen lassen. Abwarten und Tee trinken, das war die Devise.
Und so begannen Gorbatschow und die Seinen, mit Vehemenz den Stein zu lockern, der das Schneebrett noch in Balance hielt.
Zweitens: Was aber war das Schneebrett?
Als Gorbatschow mit der Umsetzung seiner ökonomischen (und politischen) Reformen begann, legte er sich mit dem kollektiven Eigentümer der Produktionsmittel, der Sowjetbürokratie, an. Sie hatte in den totalitären Verwerfungen der 1930er Jahre ihre Feuertaufe bestanden und mit der Industrialisierung ihre Funktionsweise ausgeprägt. Niemand hatte sich bisher ihrer Existenz versichert, weil sie hinter dem Rauchvorhang eines dogmatisierten Marxismus sehr gut gedeihen konnte. Ihre führende Rolle, die sie als die einer kommunistischen Bewegung auslegte, war ihr unüberwindliches ideologisches Schutzschild.
Drittens: Warum wird das Schneebrett von niemandem bemerkt?
Wenn ich den modernen Sisyphos skizziere, so möchte ich mich auch der Systematik des Scheiterns zuwenden. Gorbatschow scheiterte an einer eklatanten Wirklichkeitsunschärfe. Als die Lawine zu Tal rauschte wurde offensichtlich, dass er und viele andere (auch ich) die gesellschaftliche Wirklichkeit falsch wahrgenommen hatten. Der grundlegende Irrtum bestand darin, sich jenseits der WERTform der Ware zu wähnen und so die kapitalistische Gesellschaft als überwunden anzusehen.
Von hier aus reihte sich Irrtum an Irrtum, bis dahin, dass Gorbatschow und seine Anhänger diese Gesellschaft für reformfähig hielten.
Das war sie aber nicht mehr und die Bereitschaft der Menschen, sich aktiv an gesellschaftlichem Wandel zu beteiligen, war in den 30 Jahren des sowjetischen Staatsterrors (1927 bis Anfang der 1950er Jahre) in Lethargie umgeschlagen.
Gewalt, Angst, Bevormundung, Gigantismus, Vetternwirtschaft und eine Überhöhung des Bewusstseins gegenüber dem Sein hatten den Vorrat an gesellschaftlichen Triebkräften aufgebraucht. So sah sich Gorbatschow keinem flexiblen Gesellschaftsgebilde gegenüber, sondern einem zum Kristall erstarrten Eisblock.
Viertens: Wodurch kommt das Schneebrett ins Rutschen?
Gorbatschow betritt kraftstrotzend die Weltbühne. Als Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion verfügt er über eine gewaltige Machtfülle. Doch er läuft mit dem von ihm initiierten Reformpaket zunehmend gegen eine Wand. Zum einen blockieren ihn die eigenen (Klassen-)Genossen, wo sie nur können, zum anderen springt der Transmissionsriemen der Demokratie (Sowjets, Gewerkschaften, Massenorganisationen) nicht an.
So ergänzt Gorbatschow – denn er ist hartnäckig, und zum Umbau der Gesellschaft gibt es keine vernünftige Alternative – die Perestroika durch Glasnost. Das ist der Augenblick, da das ganze Gebilde ins Rutschen kommt. Der um den sowjetischen Sozialismus gelegte Heiligenschein löst sich auf und gibt den Blick auf den nackten Apparat und dessen Fundament frei – auf Menschenverachtung, Verachtung des Volkes und der Demokratie, auf die ganze totalitäre Struktur.
Nun gibt es kein Halten mehr. Die Sowjetbürokraten treten die Flucht nach vorn an. Warum eigentlich müssen sich den Reichtum der Gesellschaft alle Sowjetrepubliken teilen? Sind die (ethnischen) Russen nicht eine führende Nation? Das Gift des Nationalismus entfaltet seine Wirkung anhand einer Verteilungsdebatte, in der Bürokraten den schwächer werden Staat plündern und damit beginnen, sich als Kapitalisten zu generieren. Dafür hatte die Geschichte den Umweg über den „Sozialismus“ genommen, damit sich ein kruder Kapitalismus auf seinen Trümmern entfalten konnte.
Die Rolle Gorbatschows in diesem übergreifenden gesellschaftlichen Prozess war nicht die eines Verräters. Als moderner Sisyphos wurde er zum Vollstrecker und führte angestaute gesellschaftliche Probleme einer (Teil-)Lösung zu. Dass er hier nicht unfehlbar war, seiner Eitelkeit erlag und als Mensch auch fragliche Charakterzüge zeigte, ist mehr eine Randnotiz wert als die Beschreibung des wesentlichen Prozesses.
Als Ausweg hätte ihm ein Rückfall in den Totalitarismus offen gestanden.  Diese Option hat er wissentlich verneint und ausgeschlossen. Um seine innenpolitischen Ziele zu erreichen, war auch eine außenpolitische Abkehr vom Wettrüsten notwendig. Er ist diesen Weg konsequent gegangen und er hat gezeigt, dass Abrüstung möglich ist.
Objektiv hat er, bei allem Schmerz den diese Verwerfungen auch bei mir hinterließen, zu mehr Wahrheit und zu möglichem gesellschaftlichen Fortschreiten beigetragen.

Dr. phil. Ulrich Knappe, Jahrgang ’54, ist Diplomgesellschaftswissenschaftler und Philosophiehistoriker. Von 1986 bis 1990 arbeitete er in Lehre und Forschung im Lehrstuhl für marxistisch-leninistische Philosophie an der Militärakademie „Friedrich Engels“ in Dresden.
Im Dezember 1990 wurde er promoviert. Thema der Promotionsarbeit: „Die Entwicklung von Auffassungen zu Krieg und Frieden im marxistischen philosophischen Denken der DDR“.
Knappe war Gründungsmitglied der Dresdener Studiengemeinschaft für Sicherheitspolitik e.V. im Jahr 1990. Im Jahr 1991 verließ er die Studiengemeinschaft, weil neue berufliche Herausforderungen entstanden waren. Im Jahr 2010 kehrte er in die Studiengemeinschaft zurück und leistete bis zu ihrer Auflösung im Jahr 2017 Beiträge, die sich der Analyse des realen Sozialismus zuwandten.
Im Jahr 2014 veröffentlichte er im Verlag Peter Lang eine Monografie unter dem Titel: „Alter, neuer Kalter Krieg – eine philosophiegeschichtliche Analyse des Zusammenhangs von Sozialismus und Frieden“.
Im Jahr 2018 erschien im gleichen Verlag die Monografie unter dem Titel: „Über paradoxen Sozialismus“ (286 Seiten, 51,35 Euro).