21. Jahrgang | Nummer 26 | 17. Dezember 2018

Bemerkungen

Chapeau für diesen Offenbach!

An dieser fürwahr rätselvollen Oper wird seit Jahrzehnten immer wieder herummontiert und herumgepfuscht. Der Komponist starb vor der Uraufführung und hinterließ nur einen Klavierauszug, der dann auch noch verbrannte. Noch nicht einmal die Szenenfolge konnte er einigermaßen verbindlich festlegen. Die Rede ist vom letzten Werk Jacques Offenbachs, „Hoffmanns Erzählungen“ (1881).
„Les Contes d’Hoffmann“ ist jetzt an der Deutschen Oper Berlin zu erleben. In der dramaturgischen Struktur folgt die Inszenierung dem „Drama fantastique“ von Jules Barbier – der Offenbach das Libretto lieferte – und Michel Carré. Das machte schon Walter Felsenstein, der 1958 Hoffmann vom Nimbus eines unrettbar dem Trunke ergebenen Saufbolds befreite.
Die Aufführung dauert weit über drei Stunden, aber zu keiner Sekunde stellte sich die Lust auf einen verstohlenen Blick zur Uhr ein … Das liegt natürlich auch an der Inszenierung. Die ist nicht neu, sie stammt aus dem Jahre 2005 und ist eine Koproduktion der Lyoner Oper mit dem Grand Teatre del Liceu in Barcelona und der San Francisco Opera. Was macht das? Der Intendanz des Hauses an der Bismarckstraße ist zu diesem Einkauf nur zu gratulieren! Selten sah ich den „Hoffmann“ bis zum Licht (Joël Adam) hin so stringent inszeniert. Laurent Pellys Regie nimmt Partitur und Libretto ernst. Keine Figur fällt billiger Effekthascherei zum Opfer. Selbst das oftmals zum Klamauk animierende Auftrittslied der Olympia, Spalanzanis mechanischer Wunderpuppe, wird auf eine Weise zelebriert, die durchaus Slapstick-Momente hat, aber doch der Tragik des Geschehens gerecht wird. Köstlich, wie Olympias Koloraturen-Kletterversuche durch ein Auf- und Niederschweben der Sängerin persifliert werden. Hier ist der Punkt, endlich den Namen der begnadeten Sopranistin zu nenne, die Stella, Olympia, Antonia und Giulietta in einem verkörpert: Cristina Pasaroiu! Merken Sie sich die Sopranistin aus Bukarest. An der Deutschen Oper gibt sie noch die Liu in der „Turandot“. Diese Ausnahmekünstlerin – dass die vier Frauen Hoffmanns häufig mit drei oder gar vier Sängerinnen besetzt werden, hat mit den enormen Ansprüchen dieser Partien zu tun – beweist auch schauspielerisches Vermögen. Den Wechsel vom Automaten Olympia über die Sängerin Antonia zur Kurtisane Giulietta bewältigt sie überzeugend. Während der „Turteltaube“ („Elle A Fui, la Tourterelle“) der Antonia vermag man, die berühmte Stecknadel fallen zu hören.
Daniel Johansson gibt den Hoffmann sehr brav mit der ganzen Fülle seiner Tenorstimme, aber er kommt recht steif daher. Anders dagegen Alex Esposito (Lindorf, Coppélius, Miracle, Dapertutto), dessen Bass im 1. Akt (der Lindorf-Auftritt zu Beginn des Besäufnisses bei „Lutter & Wegner“) zu bieder erscheint – doch im Verlauf des Abends gewinnt stimmlich funkelnd das Diabolische die Oberhand. Weshalb er, also Dapertutto, im 4. Akt die arme Giulietta unbedingt in den Degen Hoffmanns schieben muss, ist ein der Regie vorbehaltenes Mysterium. Offenbach und Barbier gaben sich mit dem Aufspießen Schlehmils zufrieden.
Und dann ist da noch Irene Roberts, festes Ensemblemitglied mit Paradepartien wie die Rosina im „Barbier“ und die Carmen. Die Mezzosopranistin macht aus der Schattenfigur des Nicklausse/La Muse eine beim Schlussapplaus zu recht gewürdigte Hauptfigur. Nur beim Einsatz zur Barcarole – für die Pelly eine schöne, jedem Kitsch abholde Lösung fand –, hakte es etwas.
Laurent Pelly hat bei „Lutter & Wegner“ einen ausgezeichneten Jahrgang entkorkt!

Wolfgang Brauer

Wieder am 05.01, 09.01 und 12.01.2019.

Vulkanismus

von Renate Hoffmann

Auf dem Vulkane sitzet
ein Wölken still und schwitzet
und schauet froh und munter
von oben weit hinunter

in einen tiefen Krater.
‚Ach du dicker Vater‘,
denkt es und
schauet nicht mehr munter
von oben dort hinunter.

‚Wenn ich jetzt niedersinke
und in dem Loch ertrinke,
dann wird es mächtig zischen.
Ich werde mich vermischen
mit Schwefeldampf und Gas;
Das ist fürwahr kein Spaß.

In meinen jungen Jahren
wollt’ ich noch viel erfahren
von der schönen runden Welt
und was sie so zusammen …‘

Zisch, Puff und Riesenkrach.
Aus war’s! Welches Ungemach.

Doch aus dem Krater schiebet sich
ein Schwefelhölzchen wonniglich.
Es ist vergnügt und lacht –
wer hätte das gedacht.

Die Gefahr des Glaubens

An die Mission von Klassen zu glauben, ist gefährlich. Glaubt man an diese Mission. so lebt man für diese Mission und für diese Klassen. Und wenn es sich dann im Laufe der Jahre herausstellt, dass die Klassen gar keine Lust haben, Missionen zu erfüllen, so steht der Gläubige mit leeren Händen da und hat Jahrzehnte seines Lebens ausgegeben, nicht für sich, sondern für die Klasse, die gar nicht das bedeutete, was der Gläubige meinte. Er hat sein Leben vergeudet.
Wenn der betreffende Knabe, der so sein Leben vergeudete, dabei ein sehr intensives Leben führte, so ist es schließlich nicht so arg schlimm, ein Leben zu vergeuden – vielleicht hat er sogar dabei noch ein Leben gewonnen. Zwar nicht in dem Sinne, wie er meinte. Aber doch so, dass er intensiv lebte und sich verschenkte. Und zum Schluss hat wer sogar noch Kenntnisse erworben, die, anders mitgeteilt, recht viel bedeuten können. Er weiß zum Beispiel jetzt, dass es gar keine Klasse gibt, die für andere Klassen lebt. Dass jede Klasse ganz rein klassenegoistisch ist und dass alle Idealismen der Klasse nur Täuschungen, vorgeschobene Idealismen sind, bewusst und unbewusst vorgeschoben.
Schließlich: Da das Leben nur den einen Sinn hat, möglichst lebendig zu sein und das Leben der anderen mindestens nicht zu schädigen, womöglich aber gar zu fördern, so macht ein Irrtum nichts, wenn er auch vierzig Jahre gedauert hat. Schließlich hat dieser Glaube manchem genügt und war einem selber ein so großes Erlebnis, schenkte einem so viele Erkenntnisse, dass man am Ende nicht gar so unglücklich zu sein braucht über seinen vierzig Jahre andauernden Irrtum.

Fritz Brupbacher

Worte und Schlagworte

Linguistisch meint der Begriff „Schlagwort“ eigentlich etwas ganz Harmloses: „Ausdruck oder Spruch, durch den besondere Beachtung erzeugt werden soll“ (Wikipedia). Im politischen Diskurs ist ihm allerdings längst eine Zweitbedeutung zugewachsen: Man schlägt mit Begriffen, man nutzt sie als Waffe, sie sollen verletzten, gern auch politisch tödlich. Inhaltliche Präzision und eine angemessene Berechtigung sind dabei perdu.
Der leider so früh verstorbene Roger Willemsen hat das alles gründlich, ja minutiös beobachtet. Man muss dafür aber nicht wie er ein Jahr lang alle Parlamentsdebatten des Bundestages aussitzen, es reicht eine mehrstündige Beobachtung dortiger Debatten via TV.
Wenn man den Rednern zuhört, weiß man auch nach der gerade abgelaufenen Haushaltsdebatte wieder, was man schon immer wusste: Die jeweilige Gegenseite ist demokratiefeindlich, populistisch oder gar totalitär. Ihre politischen Positionen und Gesetzesvorstellungen sind wahlweise ein Skandal oder offenbaren ein Totalversagen, sind ein Scherbenhaufen, mindestens aber eine Mogelpackung und damit ein arglistiges Täuschungsmanöver, das mit allerlei Taschenspielertricks dargeboten werde.
Und so weiter, und so fort.
Eigentlich müssten die komfortablen Sitzreihen im Parlamentsaal durch Schützengräben ersetzt werden, es wäre jedenfalls stimmiger.

Hans Jahn

Der Hirtenjunge und der Wolf

Es war einmal ein Hirtenjunge, der jeden Tag die Schafe hütete.
Jeden Morgen holte er die Tiere von ihren Besitzern ab und trieb sie in die Berge, wo die Schafe grasen sollten. Am Abend brachte er sie gewissenhaft zurück ins Dorf.
Doch manchmal langweilte sich der Hirtenjunge, schließlich sah er den ganzen Tag nur Schafe. So wollte er sich einmal einen Spaß erlauben und rief: „Der Wolf! Der Wolf! Der Wolf will sich ein Schaf holen!“
Da kamen alle Leute mit ihren Mistgabeln und Dreschflegeln aus dem Dorf gelaufen um den Wolf zu verjagen.
Doch da war kein Wolf!
Der Hirtenjunge lachte Tränen über die verdutzten Gesichter der Bauern. Dem Jungen gefiel der Spaß so gut, dass er ihn nach einigen Tagen wiederholte. Und wieder rief er: „Der Wolf! Der Wolf will sich ein Schaf holen!“ Und wieder kamen alle Bewohner des Dorfes angerannt, um den Wolf zu verscheuchen, doch es war kein Wolf zu sehen.
Eines Herbstabends, als sich der Hirtenjunge mit den Schafen auf den Heimweg machen wollte, kam wirklich ein Wolf. Der Bursche schrie voller Angst: „Der Wolf! Der Wolf will eines der Schafe holen!“ Doch diesmal kam nicht ein einziger Bauer.
Und so trieb der Wolf die Schafe in die Berge und fraß sie alle auf …

Aesop
(etwa 600 v. Chr.)

Wirsing mit Qualitätsanspruch

Seite 8 der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 9. Dezember war dem Rubrum Politik gewidmet. Im unteren Drittel der Seite platziert: drei Kinoanzeigen, unter anderem für den Film „Widows. Tödliche Witwen“ des Oscar-Gewinners Steve McQueen, und ein Selbstlob der für die Werbung zuständigen Frankfurter Allgemeine Media Solutions: „Werbewirkung braucht Qualität!“. Was man sich darunter vorzustellen hat, wurde neben den Anzeigen deutlich, wo von Aachen bis Wuppertal Lichtspielhäuser ausgewiesen waren, die die Streifen aktuell im Programm hatten. Nur war der in Rede stehende inzwischen mutiert – zu Windows.

am

Zeitlos Gültiges

Nicht was wir erleben, sondern wie wir empfinden, was wir erleben, macht unser Schicksal aus.

Man bleibt jung, solange man noch lernen, neue Gewohnheiten annehmen und Widerspruch ertragen kann.

An Rheumatismus und an wahre Liebe glaubt man erst, wenn man davon befallen wird.

„Man kann nicht allen helfen“, sagt der Engherzige und hilft keinem.

Nur der Denkende erlebt sein Leben. Am Gedankenlosen zieht es vorbei.

Am Ziele deiner Wünsche wirst du jedenfalls eines vermissen: Dein Wandern zum Ziel.

Gelassenheit ist die angenehmste Form des Selbstbewusstseins.

Wenn jeder dem anderen helfen wollte, wäre allen geholfen.

Wir unterschätzen das, was wir haben, und überschätzen das, was wir sind.

Eine gescheite Frau hat Millionen geborener Feinde: Alle dummen Männer.

Nichts macht uns feiger und gewissenloser als der Wunsch, von allen Menschen geliebt zu werden.

Wir werden vom Schicksal hart oder weich geklopft. Es kommt auf das Material an.

Nicht jene, die streiten, sind zu fürchten, sondern jene, die ausweichen.

Der Gescheiterte gibt nach! Eine traurige Wahrheit. Sie begründet die Weltherrschaft der Dummheit.

Die Gleichgültigkeit, der innere Tod, ist manchmal ein Zeichen von Erschöpfung, meistens ein Zeichen von geistiger Impotenz und immer – guter Ton.

Das Recht des Stärkeren ist das stärkste Unrecht. Es gibt wenig aufrichtige Freunde. Die Nachfrage ist auch gering.

Nenne dich nicht arm, weil deine Träume nicht in Erfüllung gegangen sind! Wirklich arm ist nur, wer nie geträumt hat.

Respekt vor dem Gemeinplatz! Er ist seit Jahrhunderten aufgespeicherte Weisheit

Kinder und Greise fabeln. Die ersten, weil ihr Verstand die Herrschaft über die Phantasie noch nicht gewonnen, die zweiten, weil er sie verloren hat.

Alberne Leute sagen Dummheiten. Gescheite Leute machen sie.

Der Umgang mit einem Egoisten ist darum so verderblich, weil die Notwehr uns allmählich zwingt, in seinen Fehler zu verfallen.

Die Herrschaft über den Augenblick ist die Herrschaft über das Leben.

Eltern verzeihen ihren Kindern die Fehler am schwersten, die sie selbst ihnen anerzogen haben.

Geistlose kann man nicht begeistern, aber fanatisieren kann man sie.

Alle anderen Enttäuschungen sind gering im Vergleich zu denen, die wir an uns selbst erleben.

Ein Urteil lässt sich widerlegen, aber niemals ein Vorurteil.

Der ans Ziel getragen wurde, darf nicht glauben, es erreicht zu haben.

Die Großen schaffen das Große, die Guten das Dauernde.

Im Entwurf, da zeigt sich das Talent, in der Ausführung die Kunst.

Die Willenskraft der Schwachen heißt Eigensinn.

Wenn es einen Glauben gibt, der Berge versetzen kann, so ist es der Glaube an die eigene Kraft.

Eine stillstehende Uhr hat doch täglich zweimal richtig gezeigt und darf nach Jahren auf eine lange Reihe von Erfolgen zurückblicken.

Maria von Ebner-Eschenbach,
1830–1916

Blätter aktuell

Die globale Klimapolitik steckt in der Sackgasse. Auch aus diesem Grund finden Befürworter des sogenannten Geo-Engineerings mehr und mehr Gehör, so der Professor für Integrative Geographie Jürgen Scheffran. Er warnt eindringlich vor den hohen Risiken einer Klimabeeinflussung mittels technischer Methoden – für das Klima selbst, aber auch für die politische Weltlage.
Die rechtsextremen Ausschreitungen in Chemnitz im Spätsommer wecken Erinnerungen an die Weimarer Republik. Doch auch der Dreißigjährige Krieg lohnt einen Vergleich mit gegenwärtigen Konflikten, so der Politikwissenschaftler Herfried Münkler. Auf diese Weise ließen sich Erkenntnisse über die gesellschaftlichen Bedingungen von Kriegen wie auch über die Voraussetzungen für einen stabilen Frieden gewinnen.
Demokratien werden durch Streit und Debatten gestärkt, sie leben vom Argument. Derzeit aber trage die Verengung öffentlicher Debatten auf einige wenige Themen – wie etwa die Migration – vor allem zur Aufheizung gesellschaftlicher Stimmungen bei, mahnen die Kulturwissenschaftler Aleida Assmann und Jan Assmann. Die zentrale Frage sei jedoch längst nicht mehr, ob wir die Integration schaffen, sondern wie uns diese gelingt. Um aber darauf eine Antwort zu finden, müssen wir die zerrissene Gesellschaft durch intensive Kommunikation befrieden.
Dazu weitere Beiträge – unter anderem: „Cum-Ex: Der unerhörte Skandal“, „Tschechien: Der Populist im Boomland“ und „Argentinien: Tango in den Abgrund“.

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Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, Dezember 2018, Einzelpreis: 9,50 Euro, Jahresabonnement: 79,80 Euro (Schüler & Studenten: 62,40 Euro). Weitere Informationen im Internet.

Herbst-Streifzüge aus Wien über das Haben

Die Ideologie des Habens gleicht einem Kanon, schreibt Franz Schandl zur Vorstellung des neuen Heftes: „Alle singen ihn. Nach den Jahrhunderten von Herrschaft, insbesondere kapitalistischer Hegemonie, ist das Haben geradezu eingefleischter Ausdruck des Seins, des Selbstseins und des Selbstbewusstseins.“
Das neue Heft setze ein Kontra zur Forderung aller Lager, „also gegen den klassischen Konsens, der da lautet, auch und noch: Wir wollen mehr haben!
Wir haben schon genug, soviel uns auch abgeht. Einerseits mag es ja als ein besonderer Luxus erscheinen, über das Haben schlechthin zu diskutieren, wo doch so viele Menschen fast nichts haben. Andererseits macht gerade dieses Haben, das wir da haben, das Leben kaputt. Mehr Autos, mehr Handys, mehr Fernreisen, mehr Müll. Das Haben betreibt schon des Längeren einen unseligen Komparativ der Vernichtung.“
Mit dem Thema Haben befassen sich Franz Schandl mit „Hüter des Habens“, Marianne Gronemeyer „Haben, als hätte man nicht“ , Nikolaus Dimmel „Am Ende des Metabolismus“ sowie Karl Kollmann „Bleibt dann wohl nur das Haben“ und Lukas Hendl „Nichts haben und nichts sein“.
Lesen kann man diese Beiträge im Heft 74 Herbst 2018 der Streifzüge. Magazinierte Transformationslust (8,00 Euro) oder im Internet.

vh

Aus anderen Quellen

„Die Slogans sind eindeutig“, vermerkt Alexis Spire zu den aktuellen Gelbwesten-Unruhen in Frankreich: „‚Steuererhöhungen stoppen‘, […] ‚Der Weg zur Arbeit wird zum Luxus‘, […] ‚Schluss mit der Abzocke! Wenn das Volk sich erhebt, ist die Revolution nicht mehr weit‘. Was die Demonstranten empört, die am 17. November aus Protest gegen höhere Kraftstoffsteuern wichtige Verkehrsachsen lahmlegten, ist Ausdruck einer vielschichtigen politischen Bewegung, die ein sehr konkretes Thema beschäftigt: die Beziehung zwischen Steuern und Sozialstaat.“
Alexis Spire: Frankreichs Gelbwesten – woher die Wut kommt, Le Monde diplomatique, 13.12.2018. Zum Volltext hier klicken.

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Seinen Austritt aus der SPD begründet Marco Bülow, seit 2002 direkt gewählter Bundestagsabgeordneter, unter anderem damit, dass die heutige SPD nicht mehr viel mit der Partei zu tun habe, in die er mal eingetreten sei. Das betreffe unter anderem das innerparteiliche Klima: „Alle Kritiker, die etwas andere Positionen haben als die Parteispitze, werden rausgedrängt und isoliert. Es ist total stromlinienförmig geworden, alles wird besetzt mit Leuten, die alles absegnen und abnicken, wenn sie überhaupt einmal um ihre Meinung gefragt werden. Will man mitbestimmen oder in der Partei Karriere machen, dann kann man das nur noch, wenn man dem huldigt, was die Parteispitze vorgibt.“
Florian Ernst Kirner:
Der Ausstieg, rubikon.de, 27.11.2018. Zum Volltext hier klicken.

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„Die Diagnose ist niederschmetternd“, so beginnt Christina Bylow ihren Beitrag: „Deutsche Krankenhäuser leiden an einem Syndrom, das aus dem Formenkreis der Zwangserkrankungen stammen könnte: fortgeschrittene Geldfixierung. Peter Hoffmann, Oberarzt für Anästhesie am Städtischen Klinikum München, sagt: ‚Das Geld steht im Mittelpunkt aller Gedanken.‘ Einerseits werde gespart, insbesondere am Personal und an der Zeit für den Patienten, andererseits werde mehr operiert, und zwar dort, wo es sich lohnt.“ Der Patient, so die Autorin, „ist nur noch Objekt in einer auf Gewinnmaximierung gedrillten Krankenhausmaschinerie.“
Christina Bylow: „Der marktgerechte Patient“, berliner-zeitung.de, 08.11.2018. Zum Volltext hier klicken.

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Die Explosion der Bohrinsel Deepwater-Horizon im Golf von Mexico im Jahre 2010 kostete nicht nur elf Menschen das Leben, sondern löste auch eine der bis dato größten Umweltkatastrophen aus. Doch damit nicht genug, wie Winand von Petersdorf schreibt: „Das Desaster brachte eine andere schleichende Öl-Katastrophe an die Oberfläche. Im Juni jenes Jahres werteten Experten der Umweltorganisation Skytruth Satelliten- und Luftbilder der betroffenen Region aus und entdeckten eine dunkle Öllinie, die sich wie ein langer Faden durch das Gewässer des Golfs von Mexiko zog. Mit Deepwater Horizon gab es keinen Zusammenhang. Das Öl musste von anderen Quellen stammen. Tatsächlich hatte schon sechs Jahre vor der Deepwater-Horizon-Katastrophe der Orkan Ivan einen gewaltigen Erdrutsch am Meeresboden des Golfs von Mexikos ausgelöst, der eine Bohrinsel der Firma Taylor Energy umkippte. Seitdem sickert, von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, Öl ins Meer – aus 28 verschiedenen Quellen, die mit der Bohrinsel verbunden waren.“
Winand von Petersdorf: Umweltskandal in Amerika: Die ignorierte Öl-Katastrophe, faz.net, 25.10.2018. Zum Volltext hier klicken.

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In ihrem neuen Buch „Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus“ warnt Shoshana Zuboff vor der wachsenden Macht von Google, Facebook und Co. und vor der immensen Gefahr für Demokratie und Wirtschaftsordnung, die von den Datensammlern ausgeht. Zum Begriff selbst erläuterte sie in einem Interview: „Der Überwachungskapitalismus ist eine Mutation des modernen Kapitalismus. Er geht davon aus, dass die private menschliche Erfahrung frei zugängliches Rohmaterial für die kapitalistische Produktion und den Warenaustausch ist. Zweitens kombiniert er digitale Technologien mit Strategien heimlicher Überwachung, um Verhaltensdaten aus allen menschlichen Erfahrungen zu extrahieren. Drittens nutzt er Maschinenintelligenz, um Verhaltensdaten in Verhaltensprognosen umzuwandeln – ich nenne sie ‚Vorhersageprodukte‘. Diese Produkte werden dann an die neuen Märkte verkauft, die ausschließlich mit Prognosen über unser zukünftiges Verhalten handeln.“
Mirjam Hauck: „Überwachungskapitalisten wissen alles über uns“, sueddeutsche.de, 07.11.2018. Zum Volltext hier klicken.

Das Beste zum Schluss

Dieses ewige Genöle und Rumgemeckere an die Adresse von Ämtern und Behörden sowie von deren Mitarbeitern hierzulande geht mir schon seit langem gehörig auf den Zünder. Dabei weiß doch jeder, der noch halbwegs bei Verstand ist, dass die seelenlose Routine der Bürokratie längst zu den letzten verlässlichen Rettungsankern in unserer Gesellschaft gehört. Und zwar von der Wiege bis zur Bahre. Wie auch folgendes lebenspralle Beispiel wieder eindrücklich belegt.
Annalena M.*, geboren in der deutschen Hauptstadt am 30. September, hatte das Licht der Welt noch nicht wirklich erblickt, da erhielt sie, mit Datum vom 19. Oktober, ihr erstes amtliches Schreiben – vom Bundeszentralamt für Steuern, An der Küppe 1, 53225 Bonn.
Dies ist der Wortlaut:
„Sehr geehrte Dame. Sehr geehrter Herr,
das Bundeszentralamt für Steuern hat Ihnen die Identifikationsnummer […] zugeteilt. Sie wird für steuerliche Zwecke verwendet und ist lebenslang gültig. Sie werden daher gebeten, dieses Schreiben aufzubewahren, auch wenn Sie derzeit steuerlich nicht geführt werden sollten.
Bitte geben Sie Ihre Identifikationsnummer bei Anträgen, Erklärungen und Mitteilungen zur Einkommen-/Lohnsteuer gegenüber Finanzbehörden immer an. Bitte geben Sie vorerst Ihre Steuernummer zusätzlich zur mitgeteilten Identifikationsnummer an.
[…]
Sollten Sie Fehler in den gespeicherten Daten feststellen, wenden Sie sich bitte an die oben unter der RÜCKSENDEADRESSE aufgeführte Behörde. Dies ist im Regelfall Ihre zuständige Meldebehörde. Beachten Sie bitte auch die Hinweise auf der Rückseite dieses Schreibens.
Mit freundlichen Grüßen
Ihr Bundeszentralamt für Steuern“
Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.
Amen.

Alfons Markuske

* – Name zur Gewährleistung des Schutzes des Persönchens geändert.