18. Jahrgang | Nummer 20 | 28. September 2015

Bemerkungen

Neue US-Kernwaffen nach Büchel

Laut US-amerikanischen Haushaltsplanungen, darüber berichtete das ZDF-Magazin „Frontal 21“ am 22. September, beginnen in Kürze die Vorbereitungen zur Stationierung modernisierter US-Kernwaffen auf dem Luftwaffenfliegerhorst Büchel in der Eifel, wo derzeit bis zu 20 bisher als taktisch – weil frei fallend und nicht besonders zielgenau – eingestufte Bomben vom Typ B61 lagern. Die sollen im Ernstfall von bundesdeutschen Jagdbombern Tornado zu ihren Zielen in Russland gebracht werden. Dazu passt, dass die Bundesregierung in den kommenden Jahren den Standort Büchel mit einem Aufwand von 120 Millionen Euro modernisieren will, vor allem durch Ausstattung mit einem modernen Instrumentenanflugsystem.
Sowohl die bisherigen dort stationierten Atomwaffen als auch ihre seit Jahren laufende Modernisierung und die Absicht der USA, die neuen Systeme nicht zuletzt in Deutschland zu stationieren, sowie die Problematik der sogenannten Nuklearen Teilhabe der Bundesrepublik sind in diesem Magazin wiederholt ausführlich thematisiert worden. Das betrifft ebenso den Sachverhalt, dass das Nachfolgemodell B61-12 eine Lenkwaffe und damit für strategische Einsätze etwa gegen verbunkerte russische militärische Führungseinrichtungen geeignet sein wird.
Eine Sprecherin des russischen Außenministeriums erklärte gegenüber „Frontal 21“: „Uns beunruhigt, dass Staaten, die eigentlich keine Atomwaffen besitzen, den Einsatz dieser Waffen üben, und zwar im Rahmen der NATO-Praxis der Nuklearen Teilhabe.“ Das sei „eine Verletzung der Artikel eins und zwei des Vertrages über die Nichtverbreitung von Atomwaffen“ (NPT). Diese Auffassung wird auch nicht dadurch unzutreffend, dass Russland seinerseits der Verpflichtung der Kernwaffenmächte zu umfassender nuklearer Abrüstung gemäß Artikel sechs des NPT bisher (wie alle anderen Atommächte, die Mitglieder des Vertrages sind) nur sehr unzureichend nachgekommen ist.
Ginge es nach einer breiten Mehrheit des Bundestages, dürften schon die alten US-Atomwaffen längst nicht mehr in Büchel lagern, denn im März 2010 hatte eine solche Mehrheit beschlossen, die Bundesregierung solle sich „gegenüber den amerikanischen Verbündeten mit Nachdruck für den Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland einsetzen“. Dieser Aufforderung ist durch die Bundesregierung unter Angela Merkel allerdings nicht entsprochen worden. Das ist nicht überraschend, gibt es doch seitens der Kanzlerin Äußerungen, nach denen sie eher zu den hiesigen Befürwortern einer Fortsetzung der Nuklearen Teilhabe zuzurechnen ist.
Auf konkrete Nachfragen flüchtet sich die Kanzlerin ja bekanntermaßen gern ins Vage. So auch in diesem Falle. Auf ihrer Sommerpressekonferenz am 31. August wurde sie konkret gefragt: „Ab dem Herbst 2015 sind im US-Bundeshaushalt die Modernisierungen der Atomwaffen auch in Büchel etatiert. Unterstützt die Bundesregierung die atomare Nachrüstung hier in der Bundesrepublik und befindet sich damit in Widerspruch zu ihrer früheren Haltung?“ Und sie antwortete: „Wir werden mit den Vereinigten Staaten darüber sprechen. Vielleicht hat das Verteidigungsministerium damit schon begonnen; das weiß ich nicht. Ich werde mich noch einmal erkundigen, und dann werden wir Ihnen zum gegebenen Zeitpunkt die Information geben.“
Nach dem jüngsten „Frontal 21“-Bericht könnte das der gegebene Zeitpunkt sein.

ws

Gegen Bescheidwissen

Zu den Lehren der Hitlerzeit gehört die von der Dummheit des Gescheitseins. Aus wievielen sachverständigen Gründen haben ihm die Juden noch die Chancen des Aufstiegs bestritten, als dieser so klar war wie der Tag. Mir ist ein Gespräch in Erinnerung, in welchem ein Nationalökonom aus den Interessen der Bayrischen Bierbrauer die Unmöglichkeit der Uniformierung Deutschlands bewies. Dann sollte nach den Gescheiten der Faschismus im Westen unmöglich sein. Die Gescheiten haben es den Barbaren überall leicht gemacht, weil sie so dumm sind. Es sind die orientierten, weitblickenden Urteile, die auf Statistik und Erfahrungen beruhenden Prognosen, die Feststellungen, die damit beginnen „Schließlich muß ich mich hier auskennen“, es sind die abschließenden und soliden statements, die unwahr sind. Hitler war gegen den Geist und widermenschlich. Es gibt aber auch einen Geist, der widermenschlich ist: seine Merkmal ist wohlorientierte Überlegenheit.

Aus: Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Philosophische Fragmente/ Aufzeichnungen und Entwürfe.

Literatur leuchtet, Kunst, Kultur – LICHTUNGEN

Pünktlich zum Ferienbeginn hatten die Feuilletons des deutschen Blätterwaldes wieder Literaturempfehlungen für Ihre geneigte Leserschaft im Gepäck. Gewöhnlich rauschen dann die üblichen anglo-amerikanischen Mainstream-Literaturtipps durch den bundesrepublikanischen Blätterwald; vereinzelt hängt auch mal ein leckerer Happen, zum Beispiel aus unserem Nachbarland Österreich, mit am Blatt:
In diesem Jahr war es der lesenswerte Roman „Aberland“ von Gertraud Klemm, ein bitterböses Portrait zweier Frauen-Generationen aus dem „bürgerlichem Milieu“, welcher im Droschl-Literaturverlag in Graz erschienen ist. Klemm ist nur ein Beispiel der erfolgreichen österreichischen Literaturförderung. Sie hat im letzten Jahr sogar den Publikumspreis beim Ingeborg Bachmann Wettbewerb erhalten.
Und in Graz, der zweitgrößten Stadt Österreichs, in der sowohl landschaftlich-malerischen als auch mit einem besonderen, fast schon italienischem Flair beschenkten steiermärkischen Kulturlandschaft, wird einiges dafür getan, dass es auch neue bisher unbekannte Talente aus Österreich und dem angrenzenden Südosteuropa an und ins Licht schaffen. Einen wesentlichen Anteil daran hat LICHTUNGEN, eine Zeitschrift für Literatur, Kunst und Zeitkritik, die nun bereits im 36. Jahrgang quartalsweise unter dem Protegé des Kulturamts der Stadt Graz herausgegeben wird. LICHTUNGEN ermöglicht es mit thematischen Schwerpunktsetzungen jungen Autoren, Gedichte, Essays und Erzählungen zu veröffentlichen und sie einem breiteren Publikum, manchmal auch zum ersten Mal, vorzustellen. Texteinsendungen sind jederzeit willkommen und mit mehr als 1.500 verkauften Exemplaren ist LICHTUNGEN ein fester Bestandteil der Steiermärkischen wenn nicht sogar der gesamt-österreichischen Kulturlandschaft: Denn LICHTUNGEN steht nicht nur für Literatur, sondern möchte auch für Kunst im weiterem Sinne eine Plattform bieten. So finden sich in den Heften auch immer wieder Fotos und Zeichnungen moderner Künstler. Ob diese dabei die Hoffnung antreibt, es mal hinüber ins Kunsthaus Graz zu schaffen, kann offen bleiben. Das Attribut „offen“ beschreibt in einem Wort, wofür die LICHTUNGEN wie auch die Grazer Kunstlandschaft insgesamt stehen: Offenheit und Toleranz für Neues, die Bereitschaft sich zu mischen, auszutesten und neue Sujets zu generieren.
Auch wenn dann mal die Ferienzeit vorbei sein wird und die Feuilletons Zeit haben, die Federn für die Frankfurter Buchmesse Mitte Oktober zu spitzen, ist es weiterhin eine gute Zeit, sich mit der aktuellen Ausgabe der LICHTUNGEN ein paar schöne Stunden zu schenken. Und wer weiß, vielleicht haben Sie dort bereits vor dem Frankfurter Großereignis schon ein paar spannende Autoren entdeckt, die nach der Frankfurter Buchmesse dann als „Neuentdeckungen“ den vorweihnachtlichen Buchtipp-Weihnachtsbaum im deutschen Blätterwald schmücken werden.

Stephan Giering

Kein Kommentar. Nur schöner

Häufig werden in Pressekonferenzen allzu investigative, indiskrete oder anderweitig aufdringliche Fragen nur mit einem knappen „Kein Kommentar.“ beschieden. Dass eine Abweisung auch origineller erfolgen kann, bewies dieser Tage ein leitender Vertreter eines bekannten Energieunternehmens mit folgender Erwiderung: „Diese Frage ist so schön, dass ich sie nicht durch eine Antwort kaputt machen möchte.“

Alfons Markuske

Frühe Berlin-Fotos von Konrad Hoffmeister

Seit Jahren ist der Leipziger Lehmstedt Verlag die erste Adresse, wenn es um die Fotografie der ehemaligen DDR geht, denn sie ist fester Bestandteil seines Verlagsprogramms. Einige Bildbände mit wichtigen Vertretern der DDR-Fotografie sind hier bereits erschienen, nun ein repräsentativer Band des Berliner Fotografen und Chronisten Konrad Hoffmeister (1926-2007) mit Fotos, die die ungeschminkte Realität in Berlin in den Jahren 1958 bis 1961 zeigen.
Mit seiner Kamera streifte Hoffmeister meist durch den östlichen, manchmal auch durch den westlichen Teil Berlins, um das Gesicht der Stadt festzuhalten. Im Mittelpunkt seiner Fotografien stehen die Menschen, meist bei der Bewältigung ihres Alltags. Besonders im Berliner Scheunenviertel hat er die Bewohner beobachtet, wie sie auf der Straße ihr Auto reparieren oder sich zu einem Schwätzchen zusammenfinden. Dabei sind spielende Kinder eines seiner Lieblingsmotive. Auch das gesellige Treiben auf Volksfesten, auf dem Weihnachtsmarkt oder bei Herrentagsausflügen hat ihn immer wieder auf den Auslöser drücken lassen, ebenso aber die Vereinsamung und Isolation von Menschen.
Es sind die Jahre unmittelbar vor dem Mauerbau, als der Kalte Krieg gerade in der „Frontstadt“ mit seiner Konfrontation zwischen West und Ost präsent war. Und so war Hoffmeister mit der Kamera bei Aufmärschen und Demonstrationen dabei und hat neben den Berlinern auch Transparente und Losungen eingefangen, die heute befremdlich wirken. Am Anfang des Bildbandes stehen gleich einige Aufnahmen aus einer umfangreichen Reportage über die konträren Kundgebungen zum Tag der Arbeit 1960 in Ost und West. Den Abschluss bilden einige Fotos von der Sektorengrenze, aufgenommen von westlicher Seite.
Die frühen Berlin-Fotografien von Konrad Hoffmeister wurden erst 2001 für eine bislang einzige Ausstellung aus den Tiefen von Hoffmeisters „Berlin-Archiv“ zutage gefördert. Nun versammelt „Von Panik keine Spur“ knapp 200 Schwarz-Weiß-Aufnahmen dieses Fotoschatzes und weist Konrad Hoffmeister als einen der vielseitigsten und experimentierfreudigsten Fotografen der DDR aus, eigenwillig und unabhängig. Komplettiert wird der bemerkenswerte Bildband durch einige biografische Notizen.
Da es nur wenige vergleichbare fotografische Projekte aus den fünfziger Jahren gibt, sind Hoffmeisters Fotos eine wahre Fundgrube über das „pure Leben“ in Berlin vor 1961.

Manfred Orlick

Konrad Hoffmeister: Von Panik keine Spur, Lehmstedt Verlag Leipzig 2015, 208 Seiten, 29,90 Euro.

Tragik der Größe

Nun war es also so gekommen. Er hatte es ja gewusst. Schon immer. Und gesagt hatte er es auch, laut und vernehmlich: Dass es so kommen würde, weil es gar nicht anders hätte kommen können. Und er hatte allzeit auch die Alternative benannt. Die einzig richtige und rettende. Man hätte nur alles anders machen müssen, dann wäre es nicht so gekommen, wie es nun gekommen ist. Aber „die da oben“ haben ja nicht auf ihn gehört. Und gelesen haben sie jene Organe auch nicht, in denen er es öffentlich gemacht hatte, dass mal so kommen wird, was jetzt so gekommen ist. Was eigentlich vermag die Welt zu retten, wenn diese nicht auf jene hört, die Bescheid wissen.

HWK

Film ab

Als es hierzulande noch Usus war, auch synchronisierten Filmen englischsprachiger Provenienz deutsche Titel zu verpassen, geschah dies nicht unbedingt immer im Wege direkter Übersetzung, sondern nicht selten im Ergebnis keineswegs stets streng logischer Entäußerungen damit betrauter einheimischer Vorabbetrachter. Aus „45 Years“ wäre so womöglich „Wenn aus Mücken Elefanten werden“ geworden. Doch im vorliegenden Falle hätte dies durchaus des Pudels beziehungsweise der dargestellten Beziehungskrise Kern getroffen.
Die Kritikerin der Zeit lag mit ihrer nicht unoriginellen Anspielung „Szenen einer Ehe“ gleichwohl ziemlich daneben: Der Zuschauer erfährt nachgerade nichts darüber, wie dieses betagte Paar die ersten 45 Jahre seiner Ehe miteinander gelebt hat, und so gibt es folglich zunächst auch nicht das geringste Indiz dafür, dass statt Friede, Freude, Sonnenschein vielleicht eher das Gegenteil vorgeherrscht haben könnte. Wenn das aber nicht der Fall gewesen sein sollte, dann wäre es nur noch alters-albern, weil eigentlich nicht nachvollziehbar, warum sie erst sukzessive und dann mit einem Ruck die ganze Beziehung infrage stellt und die gesamten 45 gemeinsamen Jahre nicht mehr gelten lässt, bloß weil sich just in den Tagen vor dem anstehenden Hochzeitstag und der dafür anberaumten Party herausstellt: Er hat eine Leiche im Keller, respektive im Gletschereis der Schweizer Alpen. Und zwar wortwörtlich, denn seine ursprüngliche große Liebe, um die es sich dabei handelt, ist seit mehr als 45 Jahren mausetot.
Klar, es gab in der Beziehung der beiden nun Alten sicher auch Defizite – und zwar nicht nur dergestalt, dass sie immer allein mit dem Hund rausgehen musste und er ihr nie morgens eine Tasse Tee ans Bett gebracht hat. Doch auch bei Frauen soll es schon vorgekommen sein, dass sie nicht ins Kloster gegangen sind, als es mit dem ersten Wunschkandidaten nichts wurde, sondern sich irgendwann für einen anderen entschieden. Dass daraus eine Tragödie alt-griechischen Ausmaßes erwächst, ist eher unwahrscheinlich. Genau das passiert jedoch in „45 Years“, und man begreift das, ohne es unbedingt zu verstehen, so richtig erst in der allerletzten Einstellung des Films, als das Paar im Eröffnungstanz auf der Hochzeitstagsparty über das Parkett gleitet. Man begreift es durch ihre Körpersprache bei diesem Tanz Die ist so absolut dezent wie final eindeutig. Des anschließenden Schlussstriches durch eine abrupte Hand- und Armbewegung der Frau hätte es gar nicht mehr bedurft. Und allein wie Charlotte Rampling diese Szene spielt, ist mehr als nur den Silbernen Bären wert, den sie (wie auch ihr Filmpartner Tom Courtenay) bei der diesjährigen Berlinale völlig zu Recht erhalten hat.

Clemens Fischer

„45 Years“, Regie: Andrew Haigh; derzeit in den Kinos.

Kein Meet&Greet

Das Blättchen ist ein Hauptstadtmedium – das wurde uns nachdrücklich bewusst, als uns eine Einladung zum Meet&Greet im neuen Hauptstadtbüro der kfd erreichte. Nicht nur das: Die unterzeichnende Pressesprecherin im kfd-Bundesverband war sogar erbötig, uns in ihren Berlin-Presseverteiler aufzunehmen. Zugegeben erschloss sich dem kleinen Blättchen-Team nicht auf Anhieb, wer oder was sich hinter der Abkürzung kfd verbirgt, obwohl besagte Sprecherin darauf hingewiesen hatte, dass es sich um Deutschlands größte Frauenorganisation handle. Die einzige Frau in unserer Redaktion vermutete ignorant, kfd stehe für „keine frauen da“ oder „kneipe für damen“.
Dabei hatten laut Einladungsschreiben schon bis zum Anmeldeschluss nicht weniger als „70 Personen aus Politik, Zivilgesellschaft und Kirche ihr Kommen zugesagt, darunter diverse Mitglieder des Bundestages, Vertreterinnen von Bundesministerien und NGOs wie der Konrad-Adenauer-Stiftung sowie Repräsentantinnen kirchennaher Einrichtungen“. Zur Umrahmung „des Events“ waren „ein weibliches Streicher-Duo, Bio-Fingerfood und Getränke“ versprochen. Die Einweihung „der Location“ wollten die Geistliche Leiterin der kfd und Bundespräses P. Dominik Kitta vornehmen. Dass die Katholische Frauengemeinschaft Deutschlands – also die kfd – einen Mann zum Präses hat, ist wohl kaum einem Frauenmangel in der Gemeinschaft geschuldet, und auch nicht der Tatsache, dass es von „Präses“ (noch) keine weibliche Form gibt. Vielmehr liegt das mutmaßlich an der Verfasstheit der katholischen Kirche.
Journalisten wurden jedenfalls gebeten, „vor allem beim Einsatz von sperrigem TV-Equipment“, die Einladende Frau B. „kurz im Vorfeld über ihr Kommen zu informieren“. Lange haben wir überlegt, der freundlichen Einladung zu folgen. Ganz ohne sperriges Equipment, schließlich verlangt Bio-Fingerfood nicht einmal den Einsatz von Messer und Gabel. Nur wussten wir das Vorfeld nicht zu lokalisieren, auf dem wir Frau B. von unserem Kommen informieren sollten. Bereits 1994 hatte Karl Hugo Pruys die Verhunzung der deutschen Sprache durch Politik und Medien in seinem Buch „Im Vorfeld wird zurückgeschossen“ beklagt. Pruys berichtete darin unter anderem vom Angebot des österreichischen Botschafters, interessierten Journalisten im Vorfeld des Deutschland-Besuchs seines Bundespräsidenten über die Bedeutung dieser Staatsvisite Auskunft zu geben. Ein Journalist antwortete darauf, wenn der Botschafter ihm sagen könne, wo das angesprochene Vorfeld zu finden sei, wolle er gern an dem Informationsgespräch teilnehmen. Die beiden, versicherte Pruys, haben einander nicht zu Gesicht bekommen. Noch so ein verpasstes Meet&Greet.

Achim Höger

Die Zeiten ändern sich … kaum

Sie hatte es mit den Augen und war auch sonst eine kränkelnde Natur, das Fräulein Anna Elisabeth Franziska Adolphina Wilhelmina Ludovica von Droste zu Hülshoff (1797-1848). Dieserhalb ließ sie sich zu einer vielversprechenden Badekur in Driburg (seit 1919 Bad Driburg, NRW) überreden. Die dortigen „sulfatischen Säuerlingsquellen“ standen, bezüglich ihrer Heilkraft, in bestem Ruf. –  In den Junitagen des Jahres 1819 reiste Anna Elisabeth, genannt Annette.
Das gesellschaftliche Leben am Ort gefiel ihr, wenngleich es nicht eben ihre geistigen Ansprüche befriedigte. Die Kuranwendungen jedoch scheinen der jungen Dame organisch aufgeholfen zu haben. Lästige Übelkeiten verschwanden, auch die Plage mit dem Kopfweh. Für die Augen gab es eine Linderung. –  Nun aber die Kontra-Indikationen: Überteuerte Lebensmittel und in Rechnung gestellte Dienstleistungen, die Fräulein von Droste nicht in Anspruch genommen oder gar nicht erhalten hatte:
„ […] zum Beispiel den Tafeldecker, wenn man, wie ich, auf seinem Zimmer ißt, den Brunnenmeister, wenn man, wie ich, keinen Brunnen trinkt, die Badefrau, wenn man, wie ich, eine eigene Bedienung bei sich hat.“ – Als die Ärzte nach Beendigung der Kur Annette nahe legten, in diesem Sommer Driburg erneut aufzusuchen, lehnte sie entrüstet ab: „[…] man muß sich mehr an dem unnützen Geldausgeben ärgern, als das Bad gut tun kann.“ Klare Worte. Kein Kommentar.

Renate Hoffmann

Aus anderen Quellen

Der Vorwurf, dass Teile der Linkspartei offenbar einen reformkapitalistischen Kurs steuern und damit den historischen Versuch der SPD zur Systemreparatur wiederholen – und sei es mit dem Vorsatz, der bessere Arzt am Krankenbett zu sein –, ist auch in diesem Magazin schon erhoben worden. Andere, etwa das Ostdeutsche Kuratorium von Verbänden e. V., tun das fundamentaler und beziehen die Transformationstheorie, wie sie unter anderem bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung gepflegt wird, dabei mit ein. Jetzt haben sich mit Michael Brie, Mario Candeias und Dieter Klein drei dieser Theoretiker zu der an ihnen geübten Kritik ausführlich zu Wort gemeldet. Sie beginnen mit einer Bestandsaufnahme: „Die europäische Linke befindet sich in einer extrem schwierigen Situation. Die Entscheidungen der Regierungen der Euro-Zone zu Griechenland haben die realen Kräfteverhältnisse verdeutlicht. In einer Situation einer Vielfachkrise dominieren neoliberale Kräfte das politische Feld und zerstören systematisch alternative Ansätze. […] Der Einsatz für Flüchtlinge, neue gewerkschaftliche Kämpfe, Bemühungen der Erneuerung der öffentlichen Daseinsvorsorge bei Bildung, Pflege, Gesundheit sowie breite Bewegungen für eine Energiewende, die die Macht der Großkonzerne brechen würde und ihren Namen verdient, zeigen, dass es viele gibt, die nach Alternativen suchen und sich konkret dafür einsetzen. So konnten den Herrschenden Zugeständnisse abgepresst, Modifikationen neoliberaler Politik erreicht werden, aber ein Richtungswechsel blieb aus. […] Der Wind bläst der Linken direkt ins Gesicht, immer schärfer und kälter.“ Dieser Diagnose ist schwer zu widersprechen. Inwieweit auch der Therapie der drei Theoretiker zu folgen ist, die unter anderem auf einer sehr antiquiert klingenden Prämisse beruht („Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur ihr eigenes Werk sein.“), muss der kritische Leser selbst entscheiden.
Michael Brie / Mario Candeias / Dieter Klein: Revolutionäre Realpolitik. Über die Kunst, die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen,
junge welt, 15.09.2015. Zum Volltext hier klicken.

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„Natürlich kann die jährliche Einwanderung von 500.000 Menschen technisch bewältigt werden“, stellt Jörg Baberowski, Professor für Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin fest und fährt fort: „Aber wollen wir sie auch bewältigen? Diese Frage hat niemand gestellt. Hat überhaupt ein Politiker je darüber nachgedacht, was das Gerede von der Willkommenskultur bewirkt? Es hat sich in den Krisenregionen dieser Welt inzwischen herumgesprochen, dass man für die Einreise nach Deutschland keinen Pass benötigt, dass der Wohlfahrtsstaat eine Versorgung gewährt, die in Pakistan oder Albanien nicht einmal für Menschen erreichbar ist, die in Lohn und Brot stehen. Solange der deutsche Sozialstaat der ganzen Welt Angebote macht, dürfen seine Repräsentanten sich nicht darüber beklagen, dass Menschen, die nichts haben, sie annehmen.“
Jörg Baberowski: Ungesteuerte Einwanderung: Europa ist gar keine Wertegemeinschaft, FAZ.NET, 14.09.2015. Zum Volltext hier klicken.

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Der Atomdeal mit dem Iran wurde unter anderem von fünf Nuklearmächten, die zwar Mitglied des Nichtverbreitungsvertrages (NPT) sind, aber nicht nur ihrer eigenen Verpflichtung zu nuklearer Abrüstung aus Artikel sechs des NPT nicht nachkommen, sondern auch zum Beispiel Indien und Pakistan nicht ernsthaft daran gehindert haben, sich Kernwaffen zuzulegen. Diese Widersprüche, so vermerken Michael Ambühl und Daniela Scherer, werden üblicherweise „mit zwei Argumenten gerechtfertigt: Erstens sei die Welt aufgrund der Abschreckungsdoktrin ‚Gleichgewicht des Schreckens‘ trotz der immensen Zerstörungskraft der Nuklearwaffen sicherer geworden. Zweitens sei der Atomsperrvertrag zwar diskriminierend, die Ungleichbehandlung aber immer noch besser als die Gleichberechtigung aller, da dies dazu führen könnte, dass theoretisch alle Staaten über diese Waffe verfügen dürften.“ Beiden Argumenten gehen die Autoren nach und stellen unter anderem klar, „dass die gegenseitige nukleare Abschreckung die Zerstörung der Menschheit dem Zufall überlässt“; daher „ist der sicherheitspolitische Nutzen von Nuklearwaffen in der Wissenschaft denn auch umstritten“.
Michael Ambühl / Daniela Scherer: Atomwaffen: Weshalb wir uns mit dem Status quo in der nuklearen Frage nicht zufriedengeben können, Neue Zürcher Zeitung, 17.08.2015. Zum Volltext hier klicken.

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Wie es um die von Ursula von der Leyen gleich nach Ihrem Amtsantritt als Verteidigungsministerin verkündete größere Transparenz gegenüber dem Bundestag und ihr „Anliegen, die Abgeordneten […] früher und umfangreicher zu informieren als in der Vergangenheit“ in der Praxis bestellt ist, macht Thorsten Jungholt am aktuellen Beispiel einer Kleinen Anfrage der Bundestagsfraktion der Grünen deutlich. Was vom BMVg übermittelt wurde, grenzte an Auskunftsverweigerung – Jungholt: „Genau genommen hat das Ministerium sechs Wochen daran gearbeitet, mit vielen Worten nichts zu sagen.“ – und war unter anderem mit diesem Allgemeinplatz des BMVg-Staatssekretärs Ralf Brauksiepe garniert: „Sicherheitspolitische, gesellschaftliche, ökonomische und technologische Rahmenbedingungen unterliegen heute mehr denn je dynamischen und sich stets beschleunigenden Veränderungsprozessen. Diese kontinuierlich zu analysieren, ist Aufgabe einer vorausschauenden Sicherheitspolitik.“ In einem zeitgleichen Beitrag in der Print-Ausgabe der Welt kommentierte Jungholt: „Tja, wer hätte das gedacht?“
Thorsten Jungholt: Die Komiker vom Bendlerblock, Die Welt online, 03.09.2015. Zum Volltext hier klicken.

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Als Erfinder der modernen Sportkorruption, so Stefan Kühl, gelten nicht die unlängst verhafteten Fifa-Vizepräsidenten aus Drittweltstaaten, sondern ein Deutscher – Horst Dassler, der Sohn des Adidas-Gründers Adolf Dassler. Und auffällig sei, „wie lange Korruption, Bestechung und Unterschlagung im System der Fifa von Sponsoren geduldet, teilweise sogar unterstützt wurden. Fifa-Sponsoren wie Coca-Cola, McDonald‘s, Budweiser, Gazprom, Hyundai und Visa haben offenbar durch die Korruptionsfälle, die in immer kürzeren Abständen bekannt wurden, keine größeren Imageschäden erlitten. Der Sportartikelhersteller Adidas, der seit Jahrzehnten eng mit der Fifa verbunden ist, will selbst angesichts der neuen juristischen Ermittlungen offenbar an seinem Sponsoringpartner festhalten. Und ein weiterer Hauptsponsor, das Kreditunternehmen Visa, äußert sich über die aktuellen Probleme der Fifa lediglich ‚besorgt‘.“
Stefan Kühl: Das System Fifa. Die Korruption ist rund, Le Monde diplomatique, 13.08.2015. Zum Volltext hier klicken.

Kultursoziologie aktuell

Inwiefern ist die Soziologie von eurozentristischen Annahmen, impliziten wie expliziten, geprägt? Welche Rollen spielen eurozentristische Vorstellungen im Anschluss an den cultural turn? Wo lassen sich in der soziologischen Forschung politische Implikationen und latente ideologische Grundlagen eurozentristischen Zuschnitts identifizieren? Wie ist es zu erklären, dass die Kritik am Eurozentrismus in der Geschichte der Disziplin eher wenig Resonanz ausgelöst hat? Oder wird die Kritik am Eurozentrismus womöglich überschätzt?
Diese Fragen wurden in einem Call for Papers der Zeitschrift Kultursoziologie im Sommer 2014 gestellt. Insbesondere Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler waren aufgerufen, sich profund und kritisch mit den Fragen auseinanderzusetzen und Beiträge einzureichen. Die anregendsten (und allesamt streitbaren) Manuskripte wurden ausgesucht und finden sich im Themenschwerpunkt der aktuellen Ausgabe.

Christoph S. Widdau

Kultursoziologie Nr. 2/15 (Thema: Eurozentrismus der Soziologie?), Verlag WeltTrends, Potsdam, 108 Seiten, 9,90 Euro. Bestellung via Internet.