von Gabriele Muthesius
Aber in diesem Nebel (der permanenten Sensationshascherei
der Medien zum Thema Terrorismus – Einschub G.M.)
bleibt verborgen, dass nicht der IS oder Al-Kaida
das Potenzial haben, die Menschheit auszulöschen,
sondern der ultra-liberale Kapitalismus. […]
Bekämpfen Sie lieber die Nahrungskonzerne, die Banken
und Kapitalmärkte, da sitzen unsere schlimmsten Feinde!
Lewis Trondheim
Zu den jahrzehntelang bemühten Stereotypen kommunistischer Kritik an der SPD, nicht selten mit abfälligem bis hämischem Duktus vorgetragen, gehörte die Metapher vom „Arzt am Krankenbett des Kapitalismus“, zu dem die Sozialdemokratie degeneriert sei, wobei sie ihre revolutionären Wurzeln und die Arbeiterklasse verraten habe: Statt Kampf gegen das System – Kosmetik am System!
Erfunden hatten die Metapher dabei nicht einmal die Kommunisten selbst; das hatte ihnen der damaligen SPD-Parteitheoretiker und spätere DGB-Funktionär Fritz Tarnow auf dem SPD-Parteitag 1931 abgenommen und als ernst gemeinten Anspruch begründet: „Wenn der Patient (der Kapitalismus – Anmerkung G.M.) röchelt, hungern die Massen draußen. Wenn wir das wissen und eine Medizin kennen, selbst wenn wir nicht überzeugt sind, dass sie den Patienten heilt, aber sein Röcheln wenigstens lindert, […] dann geben wir ihm die Medizin und denken im Augenblick nicht so sehr daran, dass wir doch Erben sind und sein baldiges Ende erwarten.“
Ohne die Metapher direkt zu bemühen, aber inhaltlich ganz auf deren Linie, hat jüngst auf dem Bielefelder Parteitag Gregor Gysi der Linken ein entsprechendes Credo ins Stammbuch geschrieben.
Solches hat natürlich eine grundsätzliche Bejahung des Kapitalismus zur Voraussetzung, die aber nicht zwangsläufig unkritisch oder gar nur apologetisch sein muss. Es genügt, wenn in der Saldierung die Vorzüge dieser Produktionsweise deren Nachteile (möglichst deutlich) überwiegen, um sie als auf Dauer erhaltenswert zu betrachten und jeden Ansatz zu ihrer grundlegenden Überwindung aufzugeben.
Zu einer solchen Saldierung ist Gregor Gysi in den 25 Jahren seines Lebens unter entsprechenden Verhältnissen offenkundig gelangt. In seiner Bielefelder Rede klang das unter anderem so: „Der Kapitalismus kann eine höchst effiziente und produktive Wirtschaft hervorbringen, es gibt so gut wie nie einen Mangel an Waren und Dienstleistungen. Allerdings steht der Profit über allem. Ein Medikament für seltene Krankheiten rechnet sich nicht und wird so gut wie nie entwickelt. Die großen Banken und Konzerne haben eine übergroße und demokratiegefährdende Macht. Sie organisieren für sich eine funktionierende Weltwirtschaft, nehmen alle Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Haftung […].“ Und etwas später – deutlich weniger differenziert: „Der Kapitalismus bringt andererseits hervorragende Leistungen auf den Gebieten der Forschung, Wissenschaft, Kunst und Kultur hervor.“
Dabei wird allerdings Grundsätzliches ausgeblendet: Kapitalismus funktioniert nur mit ständigem Wachstum, was angesichts der Endlichkeit der globalen Ressourcen, der Wohlstandsschere zwischen erster und dritter Welt sowie der nicht wirklich beherrschbaren ökologischen Folgen fortgesetzten wirtschaftlichen Wachstums unter kapitalistischen Rahmenbedingungen vielleicht doch besser nicht ausgeblendet werden dürfte. Bejahen lässt sich Kapitalismus auch dann leichter, wenn man davon absieht, dass sich dieses System, schon als es noch ein überwiegend Waren produzierendes war, immer wieder durch Krisen, auch katastrophale, regulieren – oder heißt dass heute zeitgemäßer reseten? – musste, was jeweils mit einer mehr oder weniger umfänglichen Vernichtung von Produktivkräften und entsprechender sozialer Deprivation von Teilen der Bevölkerung einherging. Seit das System überwiegend Finanzkapitalismus ist, sind die Abstände zwischen kollapsartigen Zusammenbrüchen deutlich kürzer geworden. Vom letzten Crash, dem von 2008, halten die Nachbeben immer noch an … Und schließlich lässt sich der Kapitalismus speziell in Deutschland nicht zuletzt dann gut finden, wenn die Frage, welcher Anteil des aktuellen Reichtums in diesem Lande eigentlich auf ausbeuterischen Austauschverhältnissen mit der dritten Welt und in den letzten zehn Jahren auch innerhalb der Euro-Zone beruht, zumindest nicht im gleichen Atemzug gestellt wird, in dem man Vorzüge des Systems dem eigenen Publikum nahe bringen will.
Aus Gysis Bielefelder Rede sprach ein impliziter Glaube, dass diese und andere grundlegende Probleme letztlich innerhalb des Systems lösbar seien, es also quasi nur des richtigen Arztes zur Gesundung des Kranken bedürfe.
Von da bis zu Gysis konkreten Visionen, was eine Regierungsbeteiligung seiner Partei auf Bundesebene unter Umständen an Positivem erwirken könnte, war es nur noch ein Schritt. Der Redner spulte eine ganze Perlenschnur ab, die hier nur auszugsweise wiedergegeben werden kann:
„Selbst wenn wir nicht jeden Bundeswehrsoldaten aus dem Ausland zurückbeordert bekämen, aber es schafften, dass sich Deutschland […] bei allen Kampfeinsätzen auf keinen Fall während unserer Regierungsmitverantwortung beteiligte – welch ein gewaltiger Fortschritt wäre dies?
[…] keine Waffenexporte mehr in Spannungsgebiete und an Diktaturen […] – welch ein gewaltiger Fortschritt wäre dies?
Natürlich schafften wir es nicht, die Europäische Union völlig umzukrempeln, aber wenn statt Sozial- und Demokratieabbau ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit und Demokratie entstünde – welch ein gewaltiger Fortschritt wäre dies? […]
Wenn es uns gelänge, die TTIP-Verhandlungen […] in der Zeit unserer Mitregierungsverantwortung zu stoppen – welch ein gewaltiger Fortschritt wäre dies? […]
Wenn uns im Verhältnis zu Russland Deeskalation gelänge, wenn Russland in Europa wieder integriert werden würde […] – welch ein gewaltiger Fortschritt wäre dies?
Stellt euch vor, wir könnten die Zustimmungsrechte der Betriebsräte und der Personalräte erweitern und die prekäre Beschäftigung deutlich zurückdrängen. […]
Welcher gewaltige Fortschritt wäre es, […] endlich für gleiche Arbeit in gleicher Arbeitszeit in Ost und West den gleichen Lohn zu zahlen? Und wenn wir durchsetzten, dass man in Ost und West für die gleiche Lebensleistung die gleiche Rente bezieht? […]
Durch eine Veränderung des Versicherungssystems könnten wir erreichen, die Zwei-Klassen-Medizin zu überwinden […].
Na, und dass endlich die Homo-Ehe käme, wäre wohl selbstverständlich.“
Um nicht missverstanden zu werden: All diesen Punkten als vernünftigen, notwendigen Zielstellungen soll hier keinesfalls widersprochen, noch sollen sie an dieser Stelle auf die Chancen ihrer Realisierbarkeit hin abgeklopft werden.
Aber – Die Linke als eine Art SPD X.0 im Sinne von Tarnow? Übernähme eine nicht nur knappe Mehrheit der Partei diesen Ansatz, könnte der im Hinblick auf das Mitspielen im System und das Konsolidieren, gar Anwachsen einer beständigen Wählerklientel meines Erachtens sogar funktionieren, da die heutige SPD ja die Statistenrolle als „Arzt am Krankenbett des Kapitalismus“ längst hinter sich gelassen hat und in die Liga der Lordsiegelbewahrer des Systems aufgerückt ist. Vielleicht taugte der Gysische Ansatz sogar zum Organisieren linker Mehrheiten im Lande, wenn man ihn nicht nur mit Überlegungen zur Gewinnung des Mittelstandes kombinierte, wie Gysi sie in Bielefeld ebenfalls dezidiert entwickelt hat, sondern auch mit jenen, die die Gebrüder Brie zusammen mit Frieder Otto und Peter Brandt in der aktuellen Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik unter dem Titel „Von unten sieht man besser: Für einen linken Neubeginn“ zur Diskussion gestellt haben. Deren Quintessenz lautet: „Nur dann, wenn es gelingt, die sozial Benachteiligten für eine andere Politik zu mobilisieren, so schwer dies auch ist, können Mehrheiten […] von Wählerinnen und Wählern für eine linke Politik entstehen. Wer dagegen nur noch um die heute schon politisch aktiven Bürgerinnen und Bürgern konkurriert, hat eine linke Option schon aufgegeben.“
Ob man mit dem Gysischen Ansatz allerdings in eine zukunftsfähige, wirtschaftlich und sozial austarierte, global tragfähige Gesellschaft gelangte, kann oder, je nach gusto, muss bezweifelt werden – angesichts der bisherigen Geschichte des Kapitalismus und der immer wieder gescheiterten Versuche, ihn dauerhaft – oder sagt man mainstreamiger eher nachhaltig? – zu „heilen“.
Wenn Die Linke daher nicht Gefahr laufen will, wie die SPD seit Ende des 19. Jahrhunderts Krebs nur mit gesellschaftspolitischen Schönheitspflästerchen zu behandeln und letztlich das politisches Schicksal der SPD als gewesene Arbeiter- und nun auch schon gewesene Volkspartei zu erleiden, dann wird sie auf Dauer um die Frage nach einem anderen Gesellschaftsmodell eben doch nicht herumkommen.
Schlagwörter: Die Linke, Gabriele Muthesius, Gesellschaftsmodell, Gregor Gysi, Kapitalismus, SPD