13. Jahrgang | Nummer 3 | 15. Februar 2010

Nukleare Nagelprobe (II)

von Wolfgang Schwarz

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat in einer Regierungserklärung am 26. März 2009 – am Vorabend des NATO-Gipfels zum 60. Jahrestag des Bündnisses – das Festhalten an der Nuklearen Teilhabe damit begründet, daß dies Berlin „Einfluß im Bündnis, auch in diesem höchst sensiblen Bereich, sichert“. Die Frage, ob Angela Merkel bei dieser Aussage lediglich einem vorbereiteten Redemanuskript folgte oder tatsächlich glaubt, was sie erklärte, kann nur sie allein beantworten. Das Argument selbst – „Stationierung amerikanischer Kernwaffen gleich Einfluß auf die USA in Nuklearwaffenfragen“ – klingt zwar vordergründig eingängig und ist damit geeignet zur fortgesetzten Sedierung einer überwiegend uninformierten und wenig interessierten Öffentlichkeit, es ist gleichwohl unzutreffend.

Die Faktenlage stellt sich schon formal anders dar. Das Gremium, in dem die USA mit ihren NATO-Verbündeten über Kernwaffen sprechen, ist die Nukleare Planungsgruppe (NPG). Während über viele Jahre dort nur Länder zugelassen waren, die ihr Territorium zur Stationierung amerikanischer Kernwaffen zur Verfügung stellten, umfaßt die NGP heute alle Mitgliedsstaaten des Bündnisses mit Ausnahme Frankreichs. Kanada, Griechenland und die Türkei, die schon vor Jahren Verzicht auf die nukleare Teilhabe geübt haben, sind dort ebenso gleichberechtigte Mitglieder wie Großbritannien, wo es seit 2008 keine US-Kernwaffen mehr gibt.

Sicherheitspolitisch viel gravierender ist aber der Sachverhalt, daß die Vereinigten Staaten im Falle des Falles, der bisher nicht eingetreten ist und hoffentlich nie eintreten wird, ihren Verbündeten kein nukleares Mitspracherecht einräumen werden, weil sie damit ihre eigene Existenz gefährdeten. Oder anders ausgedrückt: Amerikanische Sprengköpfe mit bundesdeutschen Tornados auf russische Ziele würden nicht nur die Bundesrepublik sondern auch die USA selbst zum Objekt nuklearer Gegenschläge machen. Egon Bahr brachte die Konsequenz aus dieser Arithmetik unter Verweis auf ein Diktum General de Gaulles auf den Punkt: „Kein Staat teilt die Entscheidung über den Einsatz seiner Atomwaffen mit irgendeinem anderen, und sei es der beste Freund.“ Bahr nennt die Nukleare Teilhabe daher für diejenigen, die daran glauben, Selbstbetrug – ein Verdikt, das die NPG mit einschließt.

Die von Angela Merkel behauptete Begründung ist aber hierzulande nicht die einzige, die für eine Beibehaltung der Nuklearen Teilhabe vorgebracht wird.

Noch 2009 – damals als Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages – meinte Ruprecht Polenz (CDU), man dürfe den Amerikanern in Sachen Kernwaffen keine Vorschriften machen, denn die weitere Präsenz von US-Truppen in Europa läge in deutschem Interesse. Laut Polenz folgt daraus: „Die Amerikaner müssen selbst entscheiden, wie sie ihre Truppen schützen wollen.“ Daß die dafür taktische Kernwaffen inzwischen für überflüssig halten, haben sie allerdings durch den einseitigen Abzug von 95 Prozent ihrer früheren Bestände aus Europa mehr als nachhaltig unterstrichen – darunter auch von allen US-Stützpunkten in Deutschland.

Michael Paul von der Stiftung Wissenschaft und Politik, der Denkfabrik der  Bundesregierung, befürchtet durch einen Rückzug des Rest-Arsenals aus Büchel in der Eifel „Abrüstung zur Unzeit“, weil damit „ein Verhandlungsunterpfand (gegenüber Rußland – W.S.) ohne Not vorzeitig aus der Hand“ gegeben würde. Um kein Mißverständnis aufkommen zulassen – eine drastische Reduzierung der nach Tausenden zählenden taktischen Kernwaffen Rußlands ist ein zwingendes Erfordernis, wenn die internationalen Bemühungen, die Weiterverbreitung von Kernwaffen einzudämmen, noch eine Chance haben sollen. Daran müßte auch Rußland ein elementares Interesse haben, und wenig könnte die von Experten gegen Null taxierten Chancen der im Mai in New York anstehenden nächsten Überprüfungskonferenz des Nichtweiterverbreitungsvertrages (NPT) mehr erhöhen, als ein diesbezüglicher demonstrativer Schritt Moskaus. Aber dies in einen Zusammenhang zu den vielleicht 20 letzen US-Sprengköpfen in Deutschland zu stellen, nachdem die USA praktisch 20 Jahre keinerlei Interesse an einem Abbau dieses sie nicht gefährdenden russischen Potenzials gezeigt haben, ist entweder naiv oder schlimmer.

Der CSU-Politiker Eduard Lintner orakelte noch kurz vor seinem Ausscheiden aus dem Bundestag im Herbst 2009 für den Fall der Beendigung der nuklearen US-Präsenz von „einem Verlust an Sicherheit für Deutschland“. Nach der Logik der nuklearen Abschreckung, der Rußland ebenso wie die USA seit Jahrzehnten folgt, würde Büchel in der Eifel in einem solchen Fall aus den nuklearen Ziellisten der russischen Streitkräfte gestrichen. Ein „Verlust an Sicherheit“ für Deutschland?

Apropos Abschreckung: Ebenfalls bemüht wird nach wie vor das Mantra von der so genannten erweiterten Abschreckung, dem zufolge hier stationierte US-Kernwaffen demonstrierten, daß Deutschland unter dem nuklearen Schutzschirm der USA stehe. Daß diese Art von Schutz allerdings ohne weiteres auch durch Langstreckenwaffen etwa auf US-Atom-U-Booten gewährleistet ist, hatte bereits vor längerem der heutige Sicherheitsberater von Barack Obama, James Jones, erklärt – seinerzeit noch als NATO-Oberbefehlshaber Europa. Im Falle Japans funktionierte die erweiterte Abschreckung übrigens schon immer so, da die USA dort aus naheliegenden Gründen auf die Stationierung taktischer Atomwaffen verzichtet hatten.

Fazit: Die Argumente der Gegner eines Abzugs der letzten US-Kernwaffen aus Deutschland entbehren – mindestens auf den zweiten Blick – überzeugender sicherheitspolitischer Substanz und Rationalität. Das läßt befürchten, daß bestimmte konservative politische Kreise und Zirkel hierzulande unter einem nuklearen genetischen Defekt leiden, der auf Konrad Adenauer und Franz Josef Strauß zurückgeht. Der eine hielt Kernwaffen lediglich für eine Art verlängerte Artillerie, der andere wollte die Bundeswehr atomar bewaffnen, inklusive Verfügungsgewalt. Heute kommt dieser Defekt allerdings nur selten so offen in pathogener Form zum Ausdruck wie bei Michael Rühle, dem stellvertretenden Leiter der politischen Planung beim NATO-Generalsekretär. Der philosophierte in einer im vergangenen Jahr veröffentlichten Schrift über „gute und schlechte Atombomben“ und tat Obamas Erneuerung der Vision von einer atomwaffenfreien Welt als „nette Idee“ ab. Legt man Rühles Koordinatensystem zugrunde, dann muß man die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki wohl als „gute“ einstufen …

Wenn Außenminister Guido Westerwelle tatsächlich zu seiner wiederholten Forderung nach Abzug der letzten US-Kernwaffen aus Deutschland steht, dann wäre es jetzt allerhöchste Zeit, initiativ zu werden, und dies auch gegenüber der internationalen Öffentlichkeit zweifelsfrei deutlich zu machen. Das würde den Verpflichtungen der Bundesrepublik aus dem Nichtweiterverbreitungsvertrag endlich die Glaubwürdigkeit verleihen, mit der sie auf der NPT-Überprüfungskonferenz im Mai beanspruchen könnte, mit dem fundamentalen deutschen Interesse an einer Stärkung des NPT-Regimes ernst genommen zu werden. Noch gilt nämlich für die Bundesrepublik entsprechend, was der brasilianische Präsident Inácio Lula da Silva kürzlich seinem US-Kollegen Obama entgegenhielt, als der sich veranlaßt sah, Lula vor einem Besuch des iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad in Brasilien in einem Brief die Risiken des iranischen Atomprogramms ins Gedächtnis zu rufen. Da sprach Lula von „Heuchelei“ und sagte an die Adresse aller Nuklearwaffenstaaten: „Um die moralische Autorität zu haben, andere zum Verzicht aufzufordern, müßten diese Länder erst einmal selbst verzichten.“

Ob die NPT-Überprüfungskonferenz im Mai im übrigen, wie nicht wenige Beobachter befürchten, die letzte Chance ist, die Idee der Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen vor dem definitiven Scheitern zu retten, wird man natürlich erst später wissen. Darauf ankommen lassen sollte man es nicht.