17. Jahrgang | Nummer 22 | 27. Oktober 2014

Der Westen & Russland – zum Diskurs

von Wolfgang Schwarz

Am vergangenen Wochenende sollte in Sotschi eine turnusmäßige Tagung des Petersburger Dialogs stattfinden. Die fiel ebenso aus wie die normalerweise parallel laufenden deutsch-russischen Regierungskonsultationen, inklusive Treffen zwischen Angela Merkel und Wladimir Putin. Dafür haben einige deutsche Organisationen und Vertreter gesorgt, die ihre Teilnahme am Dialog mit Hinweis auf die Ukraine-Krise, Repressalien gegen Nichtregierungsorganisationen in Russland und den aus ihrer Sicht unbefriedigenden Gesamtcharakter des Petersburger Dialogs absagten, aber auch das Kanzleramt. „Gegenwärtig sei ein Treffen angesichts des Verhaltens Moskaus nicht sinnvoll“, zitierte der Spiegel – mit demonstrativer Schuldzuweisung – ungenannte Quellen, die sicher nicht im Umfeld von Außenminister Steinmeier zu verorten sind. Der hatte das Treffen in Sotschi befürwortet. Überreste von politischen Tischtüchern – und derzeit von mehr als solchen im deutsch-russischen Verhältnis zu sprechen, wäre arg übertrieben – sind auch schon mit weniger Aplomb zerschnitten worden. Und unmittelbar vor ihrem Zusammentreffen mit Putin beim Asem-Gipfel in Mailand hatte Merkel im Bundestag nachgelegt: „Den entscheidenden Beitrag zur Deeskalation muss Russland leisten.“
Dazu passen die fortgesetzt schrillen Stimmen in diversen Medien und von Experten unterschiedlicher Couleur: Von „Russlands Neoimperialismus“ ist die Rede (Clemens Wergin*, Die Welt) und davon, dass „Putins Regime […] weiter […] die Feindschaft sakralisieren“ werde (Andreas Heinemann-Grüder, Blätter für deutsche und internationale Politik). „Putins Agieren“ wird gar in die Nähe „der IS-Milizen“ gerückt (Herfried Münkler, IPG).
Wer in der Krise allerdings die Gegenseite verteufelt, wer mit einseitigen Schuldzuweisungen operiert und den Dialog verweigert, leistet – und sei es nolen volens – der Verhärtung gegensätzlicher Positionen und unterm Strich der Konfrontation Vorschub. Das ist Wasser auf die Mühlen derjenigen EU-Staaten, die, wie Polen und Estland, offen dafür plädieren, gegenüber Russland alle Rücksichten fallen zu lassen. In erster Linie aber wird damit den USA in die Hände gespielt, denen es primär nicht um Kompromisse mit Moskau zur Lösung der Krise geht, sondern darum, die Ukraine im Westen zu verankern, einschließlich NATO-Anschluss, um die Gewichte im geostrategischen Spiel gegen Russland weiter zu den eigenen Gunsten zu verschieben.
Die EU insgesamt hat sich mit ihren Russland-Sanktion im Übrigen in eine Selbstblocklade manövriert: Die Beschlüsse könnten nur einstimmig wieder aufgehoben werden. Also müssten auch die EU-Länder mit besonders scharfer antirussischer Attitüde dafür stimmen. Damit ist bis auf weiteres nicht zu rechnen, zumal ihnen Washington in ihrer Haltung zu Moskau den Rücken stärkt.
Insofern hat auch der Sachverhalt, dass das inzwischen ratifizierte Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine erst Ende 2015 in Kraft gesetzt werden soll, kein wirkliches window of opportunity hinsichtlich einer Lösung der Krise geöffnet, und es fehlen für Vorschläge, wie sie zum Beispiel Politologen von der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) unterbreitet haben, vorderhand selbst westlicherseits die Voraussetzungen: „In Bezug auf die Krisenlösung um die Ukraine wird in der Literatur eine Reihe von unbrauchbaren Lösungsmodellen diskutiert. Dazu gehört die Vision der Ukraine als Grenzland und damit eindeutig der westlichen oder russischen Sphäre zugeordnet oder als Grauzone mit unklarer Bestimmung und damit voraussehbar Quelle ständig neuer Konflikte. Dagegen halten wir […] ein drittes Modell – die Ukraine als Brücke – sowohl normativ und sicherheitspolitisch für vertretbar als auch für realisierbar. Dieses Modell folgt dem Vorbild Österreichs oder Finnlands im Kalten Krieg und würde sicherstellen, dass die Ukraine in der Gestaltung ihrer inneren Strukturen frei bleibt, aber nicht Teil der NATO wird.“

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Im gegenwärtigen Konflikt mit Russland ist die Gefahr evident, dass die Gräben erneut, ähnlich wie im Kalten Krieg, so tief aufgerissen werden, dass sich die Frage stellt: „Könnte es sein, dass es in unserem gegen gewalttätige Konflikte vermeintlich immunen Europa doch wieder zu einem heißen Krieg kommt, in dem Panzer rollen und Soldaten sterben?“ So Bertram Eisenhauer kürzlich in der FAZ. Derartige Befürchtungen werden nicht zuletzt auch dann befeuert, wenn der russische Präsident in vertraulichen Telefonaten mit wem auch immer launige Bemerkungen über die kurzen räumlichen Distanzen von Russland bis zu den Hauptstädten westlicher Nachbarstaaten macht.
Im europäischen, und das schließt Russland ein, Interesse können militärische Zuspitzungen nicht sein, denn für einen direkten Zusammenstoß zwischen Moskau und der NATO gilt noch immer das grundlegende Paradigma des Kalten Krieges –das des Risikos einer Eskalation auf die nukleare Ebene, auf der es militärisch dann nichts mehr zu verteidigen gäbe, aber unter Umständen alles vernichtet werden könnte. Der militärische Faktor als Mittel der Sicherheitspolitik im Verhältnis zu Russland bleibt mit dem Stigma der genseitigen atomaren Vernichtungsfähigkeit behaftet – dazu ausführlicher weiter unten.
Ob beispielsweise der neue NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg mit dieser Arithmetik hinreichend vertraut ist, muss sich erst noch erweisen. Sein Entree zumindest blieb den Aufschluss in dieser Hinsicht schuldig: Die drei entscheidenden Herausforderungen für den Westen seien „die Stärkung der Allianz, die Stärkung ihrer östlichen und südlichen Nachbarn sowie ein ‚felsenfestes‘ Band zwischen Nordamerika und den europäischen Verbündeten“. Einem vergleichbaren Mantra ist die NATO seit ihrer Gründung 1949 gefolgt. Dass man damit gegebenenfalls 40 Jahre Kalten Krieg führen kann, ist völlig unstrittig. Für einen ambitionierteren Ansatz jedoch, der darauf zielte, Krisen wie die gegenwärtige um die Ukraine und schon gar Schlimmeres im beiderseitigen Verhältnis künftig zu vermeiden, ja auszuschließen – zum Beispiel durch Sicherheitspartnerschaft mit Russland –, wäre einiges mehr an strategischer Substanz vonnöten.
Dass anderen die nukleare Arithmetik jedoch völlig abgeht, muss befürchtet werden. Initiativen jedenfalls wie die für „aggressive“ Manöverprogramme der NATO im Grenzbereich zu Russland von US-Admiral James Stavridis (bis 2013 NATO-Oberbefehlshaber Europa) oder auch die von Jochen Bittner in der Zeit konstatierten „lauter“ werdenden Stimmen „im Westen […], die an den Wert jener taktischen Atomwaffen erinnern, die noch in Europa lagern“, gleichen praktisch der Empfehlung, ins Pulverfass getrost mit offener Flamme hineinzuleuchten. Und wäre die hierzulande derzeit skandierte Forderung „mehr Panzer für die Bundeswehr“ etwas anderes als Lobby für die „darbende“ Rüstungsindustrie, dann gehörte sie ebenfalls in diese Aufreihung.
Vielleicht aber ist der Zug ja längst abgefahren, und Jakob Augstein hat Recht: „Ab jetzt regiert wieder die irre Logik der Militärs.“ Wie irre die sein kann, wird von anderen Vertretern seiner Zunft nicht unbedingt verstanden. Torsten Riecke etwa ließ sich im Handelsblatt ex cathedra vernehmen: „Entscheidend […] bleibt die Erkenntnis, dass die westlichen Ideale von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten zur Not auch mit militärischen Mitteln verteidigt werden müssen.“ Ob der Mann weiß, wovon er da schwadroniert, also wie Verteidigung im Falle des Falles ganz praktisch aussähe? Wohl eher nicht. Vielleicht könnte ein gelegentlicher Blick in historische Szenarien hilfreich sein. Zum Beispiel in Sir John Hacketts „Der Dritte Weltkrieg“ von 1978**. Diese Lektüre ist jüngeren politischen und militärischen Verantwortungsträgern, insbesondere beiderseits möglicher militärischer Frontlinien, ebenfalls dringend zu empfehlen. Und wer lieber schaut als liest, der sollte sich „The Day After“ von 1983 oder dessen sowjetisches Gegenstück „Briefe eines toten Mannes“ von 1986 zu Gemüte führen.

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Ein Konzept kehrt „nach Europa zurück, das nach der Zeitenwende von 1989 vergessen war: die Abschreckung“, konstatierte Nikolas Busse in der FAZ. Russland abschrecken ist wieder ein gängiges Stereotyp in NATO-Kreisen. Eines, von dem augenscheinlich erwartet wird, dass es die sicherheitspolitische Sinnentleerung des Nordatlantikpaktes nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion endlich nachhaltig beende.
„Deterrence“ war bekanntlich jahrzehntelang das vorherrschende militärstrategische Konzept des Westens im Kalten Krieg. „Der […] Kerngedanke der Abschreckungsphilosophie […] besteht darin, einen potentiellen Gegner dadurch vom Angriff abzuhalten, daß ihm für diesen Fall ein unakzeptabler Schaden in Form militärischer Vergeltung – im äußersten Fall mit Kernwaffen – angedroht wird, wofür die entsprechenden Streitkräfte und Kampfmittel bereitgehalten werden müssen“, hatte der Autor des vorliegenden Essays in einem „Friedenssicherung durch ‚Abschreckung‘?“ betitelten Beitrag für die Zeitschrift IPW-Berichte bereits 1986 zusammengefasst. Die damaligen Ausführungen setzten sich im Übrigen vor allem damit kritisch auseinander, dass dieses Konzept der Transmissionsriemen für immer neue Hochrüstungsrunden war und zwischen den Militärblöcken NATO und Warschauer Vertrag, speziell zwischen deren Führungsmächten, zu einem – durchaus im klinischen Sinne des Wortes – verrückten Zustand geführt hatte: zur Fähigkeit gegenseitig gesicherter Vernichtung: Mutual Assured Destruction, kurz MAD. MAD bedeutete, dass selbst nach einem wie auch immer gearteten Kernwaffenangriff die andere Seite noch nuklear, und zwar auslöschend, zurückschlagen konnte.
Der bei weitem gefährlichste Aspekt des Konzeptes besteht darin, dass „Abschreckung […] nur dann funktionsfähig [ist], wenn der Besitz von Kernwaffen mit der Fähigkeit und dem Willen verbunden ist, sie im Notfall auch zu benutzen, also mit der Kriegführungsfähigkeit.“ So Karl Kaiser, der langjährige Direktor des Forschungsinstitutes der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), 1985 im Europa-Archiv.
Nicht zuletzt wegen dieser Konsequenzen war das Konzept in der Endphase des Kalten Krieges auch im Westen grundsätzlicher Kritik ausgesetzt. Robert S. McNamara, Paul Warnke und Georg F. Kennan brachten es 1986 in The Atlantic auf den Punkt: „Es ist an der Zeit, dass die Verantwortung für die Verhinderung eines Krieges dorthin zurückkehrt, wo sie hingehört – in die Hände der Politiker. Krieg verhindert man, indem man gegensätzliche Interessen ausgleicht und sicherstellt, dass es zur militärischen Aktion Alternativen gibt. Es gibt kein technologisches Patentrezept, das den komplexen Prozess des Umgangs mit politischen Beziehungen ersetzen könnte.“
Trotz aller zwischenzeitlichen Reduzierungen der atomaren Arsenale der USA und Russland: Die MAD-Parität zwischen ihnen besteht fort. Daher sollte man sich vielleicht gleich zu Beginn einer möglichen weiteren Runde der schon seinerzeit schier endlosen Debatten über Sinn und Unsinn von nuklearer Abschreckung daran erinnern, was der amerikanische Publizist Leon Wieseltier, Literary Editor von The New Republic seit 1983, schon in den frühen 1980er Jahren festgestellt hatte: „[…] Abschreckung ist wahrscheinlich das einzige politische Konzept, das total versagt, wenn es nur zu 99,9 Prozent erfolgreich ist.“
Zurück in ein solches Beziehungsgefüge im Verhältnis zur nuklearen Supermacht Russland, inklusive „Wiederkehr der Hochrüstungsideologie“ (Harry Nutt, Berliner Zeitung)? Die ersten Schritte in eine solche Richtung werden gerade getan …

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„Es wird lange brauchen, um zu einer strategischen Partnerschaft mit Russland zurückzukehren“, sagte der finnische Ministerpräsident Alexander Stubb Ende September der FAZ. Damit könnte er mehr als nur Recht behalten, denn er sagte auch: „Zwischen 1990 und 2013 war die sanfte Sprache der Integration Russlands in den Westen vorherrschend. […] Eine Illusion. Wir haben vergessen, dass die Russen keine Neigung haben, Regeln anzunehmen, sie wollen Regeln setzen.“ Wie „die sanfte Sprache der Integration“ tatsächlich gesprochen wurde, ist bereits im ersten Beitrag dieser Reihe ausführlich rekapituliert worden. Da nun aber offenkundig Klartext im Tonus unsanft bis markig angesagt ist, wird es in Sachen strategische Partnerschaft mit Russland demnächst gewiss endlich richtig vorangehen. Doch im Ernst: Eigentlich kann man nur beten, dass wenigstens die Russen einen kühlen Kopf bewahren und im Hinblick auf internationale Fragen wie den westlichen Truppenabzug aus Afghanistan, den Atomkonflikt mit dem Iran und den Nahen Osten nicht auf Obstruktion umschalten und im Hinblick auf die Energieversorgung EU-Europas nicht das tun, was ihnen im Westen immer mal wieder gern unterstellt wird, wozu sie jedoch selbst in den heißesten Phasen des Kalten Krieges keine Neigung gezeigt haben: Energielieferungen als strategische Wirtschaftswaffe zu missbrauchen. Die nüchterne Kalkulation der nationalen ökonomischen und politischen Interessen hat Moskau bisher stets davon abgehalten …

* – Wergin endete übrigens mit einer Eloge, die offenkundig auf die historische Dummheit seiner Leserschaft ebenso vertraut, wie sie mit ihrem ideologisch motivierten Astigmatismus früheren real-sozialistischen Ergebenheitsadressen an die östliche Supermacht nicht nachsteht: „Vor allem aber ist [Amerika] trotz aller Fehler die ‚gutartigste‘ Großmacht, die es in der Geschichte je gab. Weil sie es nicht auf Ausdehnung ihres Staatsgebietes und Unterwerfung abgesehen hat, sondern eine normative Weltordnung anstrebt. Eine bessere Supermacht werden wir Nichtamerikaner kaum bekommen.“
Und das in einem Blatt, das vor Jahren mit dem kecken Slogan für sich warb: „Die moderne
Süddeutsche Zeitung ist die Welt“ – welchselbem das andere Blatt allerdings per gerichtlicher Abmahnung einen Riegel vorschob.

** – Kurzfassung in den Spiegel-Ausgaben 44, 45 und 46/1978.

„Der Westen und Russland – zum Diskurs“ – bisher in den Ausgaben 15, 16, 18, 19 und 20/2014. Weitere Beiträge des Autors zu diesem Themenkreis in den Ausgaben 7, 9, 11 und 13/2014.