von Wolfgang Schwarz
Bereits seit April sind vier Kompanien der US-Streitkräfte in den baltischen Staaten und Polen stationiert. Rumänien wird nach den Beschlüssen des NATO-Gipfels im walisischen Newport hinzukommen. Die Präsenz ist auf Dauer angelegt, auch wenn die Verbände alle sechs Monate rotieren sollen. Deutschland wird sich beteiligen. Damit hat sich der Nordatlantikpakt, ohne die NATO-Russland-Akte von 1997 offiziell zu kündigen, von seiner darin Moskau gegebenen Zusicherung, keine Truppen dauerhaft in ehemaligen Ostblockstaaten zu stationieren, verabschiedet.
Anfang des Monats fand im Schwarzen Meer die Marineübung Sea Breeze 2014 statt – mit ukrainischen Einheiten und solchen der NATO (aus den USA, Kanada, Rumänien, Spanien und der Türkei).
Im Westen der Ukraine ist gerade das Manöver Rapid Trident 14 zu Ende gegangen, an dem 1.300 Soldaten aus 15 Ländern, überwiegend NATO-Staaten, darunter die USA, Großbritannien und Deutschland, beteiligt waren.
Seit Mitte des Monats drehen sechs bewaffnete bundesdeutsche Euro-Fighter – zusätzlich zu den sonst dort patrouillierenden Maschinen anderer NATO-Staaten – ihre Runden über dem Baltikum.
Die ebenfalls in Newport beschlossene neue Schnelle Eingreiftruppe für militärische Auseinandersetzungen mit Russland soll bis zu 7.000 Mann umfassen, hat der für den Aufbau des Verbandes zuständige Militär, der bundesdeutsche General Hans-Lothar Domröse, erklärt. Sie wird, laut Domröse, aufgestellt, „um im Falle einer Verletzung östlicher Grenzen des Bündnisgebietes ganz schnell vor Ort sein zu können […] binnen 48 Stunden […] und dort sofort einsatzbereit“.
Das sind einige der jüngsten militärischen Nadelstiche des westlichen Bündnisses, die Russlands Präsidenten Wladimir Putin davon abhalten sollen, das „Modell Ukraine“ auch gegenüber anderen russischen Nachbarstaaten zu fahren. Man könne ja nicht sicher sein, ist zur Begründung ein ums andere Mal zu hören, ob der das nicht vielleicht vorhabe. Die Frage, inwiefern es für Russland sinnvoll wäre, grüne Männer ohne Hoheitsabzeichen auch in Mitgliedsländer der NATO zu schicken, wird der Öffentlichkeit im Übrigen erspart. Zu schnell könnte dabei wohl, da die Nuklearwaffen der USA, Frankreichs und Großbritanniens auf der einen und die Russlands auf der anderen Seite sich seit Jahrzehnten paralysieren, das konventionelle Kräfteverhältnis zwischen den potenziellen Kontrahenten zur Sprache kommen. Das haben die US-Experten Barry Blechman und Russell Rumbaugh in der aktuellen Ausgabe von Foreing Affairs folgendermaßen resümiert: „Während Russland gegenwärtig etwa eine Million Mann unter Waffen hat, werden die Vereinigten Staaten auch dann noch über 1,2 Millionen Mann im aktiven Dienst verfügen, wenn der gegenwärtige militärische Abbau abgeschlossen sein wird. Washington hat nicht zuletzt ebenso viele Panzerfahrzeuge, doppelt so viele Kampfflugzeuge der Luftwaffe, dreimal so viele Überwasserkampfschiffe und zehnmal mehr große Flugzeugträger als Moskau. Die europäischen NATO-Mitglieder verfügen […] über zwei Millionen Soldaten. Am wichtigsten aber ist, dass die USA und ihre Verbündeten über eine gewaltige qualitative Überlegenheit im Vergleich zu Russland verfügen […].“
Wie Russland angesichts dieser, nach menschlichem Ermessen durch Moskau nicht grundlegend zu verändernden Gegebenheiten „eine Bedrohung für die euroatlantische Sicherheit“ darstellen soll, bleibt das Geheimnis der 28 Botschafter der NATO-Staaten, die solches in Vorbereitung des Newport-Gipfels in ein „Readiness Action Plan“ betiteltes Dokument geschrieben haben.
Mehr noch: Putin müsste irrationales, ja wahnhaftes Verhalten unterstellt werden, um ihm vorsätzliche Aktivitäten zuzutrauen, die einen Krieg mit der NATO auslösen könnten. Wenn man ihn allerdings trotzdem für dazu im Stande hält, dann sollte man nicht gleichzeitig davon ausgehen, dass ihn die oben genannten Nadelstiche davon abhielten. Beides passt einfach nicht zusammen. Da dies die Strategen der NATO jedoch nicht zu stören scheint, trifft wohl eine Sentenz von Lion Feuchtwanger den Punkt: „Ist’s Blödsinn auch, so hat’s doch nicht Methode.“
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Wenn es um Machtfragen geht, in politischen und vor allem auch in militärstrategischen Auseinandersetzungen, ob auf nationaler Ebene oder im internationalen Rahmen, ist die Versuchung allgegenwärtig, Dichotomien mit möglichst scharf abgegrenzten Gegensätzen, ja Antagonismen zu identifizieren oder zu konstruieren und mit ihnen zu operieren. Gut und Böse, Feind und Freund klar zu scheiden, wird gemeinhin als Vorteil betrachtet, um die eigenen Bataillone zu sammeln. Das unklare Signal hingegen – „The Uncertain Trumpet“ – gilt spätestens seit Maxwell D: Taylors (1955 bis 1959 Chief of Staff of the United States Army) gleichnamiger Schrift von 1960, einer Fundamentalkritik an der Militärstrategie der Eisenhower-Administration, als Menetekel.
Holzschnittartige Freund-Feind-Kennungen haben im politischen Leben allerdings zugleich ihre Tücken: „Natürlich gibt es Gut und Böse auch in der Politik, doch das Sortieren anderer danach ist selbst eher böse als gut. Vor allem jedoch ist es unvernünftig, und die daraus fast wie von selbst folgende Vorstellung, man könne nach eigenem Gusto dort neue Nationen bauen, wo einem die vorhandenen nicht passen, überschreitet gleichermaßen die Grenzen politischen Denkens wie politischer Möglichkeiten.“
Der das am 14. September in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung unter dem Titel „Der Westen und Russland. Intermezzo“ publizierte, ist Volker Zastrow, Leiter des Politik-Ressorts der FAS. Er war vom Autor dieser Zeilen in diesem Magazin im vergangenen April unter die russophoben Kalten Krieger eingeordnet worden, die angesichts der Ukraine-Krise Morgenluft wittern und zu Konfrontation und verstärkter Aufrüstung blasen. Dieses Urteil ist, ob der nun deutlich gewordenen oder vom Autor erst jetzt wahrgenommenen Differenziertheit in der Publizistik Zastrows, mindestens durch weitere Facetten zu ergänzen und damit zu relativieren.
Zastrow schreibt, dass es in dem „Vierteljahrhundert nach dem Untergang des Sowjetimperiums“ große Chancen gegeben habe. Die hätten nicht zuletzt „den Aufbau einer Friedensordnung, eines ‚europäischen Hauses‘, einer Partnerschaft und Sicherheitspartnerschaft mit Russland“ betroffen, und sie seien vom Westen verpasst worden – „weniger durch Handeln als durch Unterlassen“. Nun kehre „Russland […] mit dem Selbstbewusstsein und mit den Methoden einer Großmacht zurück“.
Statt einseitigem Verdikt gegen Moskau, verweist Zastrow auf Parallelen: „Es ist nicht einen Hauch polemisch, […] wenn man festhält, dass die Politik des amerikanischen Präsidenten George W. Bush von Merkmalen gekennzeichnet war, die man heute Putin ankreidet: vorsätzlicher Bruch des Völkerrechts, militärische Intervention in anderen Staaten, Desinformation und Lügen.“ Zastrow bescheinigt der Bush-Administration „eine Politik der Selbstermächtigung, die mit erbärmlicher Folgerichtigkeit den Überfall auf andere Staaten ebenso legitimierte wie die bürokratisch begründete Folter von Gefangenen“. Und: „Ob gute Nachbarschaft tatsächlich, nicht nur theoretisch im Interesse Russlands liegt, ist auch ein Ergebnis der Politik des Westens. […] Immer wenn der Westen, vor allem Amerika, in den letzten Jahren das Völkerrecht gebrochen hat, dann hat sich Putin zu Wort gemeldet. Wurde er ernst genommen? Man hat es doch eher als Quengelei abgetan. Was denkt Putin, wenn der Westen ihm heute mit dem Völkerrecht kommt?“
Gleichwohl sieht Zastrow einen Ansatzpunkt, das Verhältnis zwischen dem Westen und Russland wieder zu verbessern: in der Herausforderung durch den aufkommenden „Islamischen Staat“, der sich beide Seiten derzeit gegenübersehen. Doch „schon wieder“ sei westlicherseits „der Versuch erkennbar, sich am Sicherheitsrat, in dem nun einmal Russland und China sitzen, vorbei zu mogeln“. Dazu Zastrow ohne Wenn und Aber: „Es wäre der nächste große Fehler, und es wäre, wieder einmal, das Übersehen einer Chance. […] Der Westen muss für dieses dramatische Problem gemeinsam mit Russland nach einer Lösung suchen und als Voraussetzung dieser Lösung: nach einem Kompromiss. Es gilt, zu Umgangsformen zurückzufinden, die Respekt und danach Vertrauen wieder aufbauen helfen.“
Eine solche Vorgehensweise sieht Zastrow auch als Blaupause zur Lösung der Ukraine-Krise – ein höchst bedenkenswerter Ansatz.
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Dem im Rahmen dieser Beitrags-Reihe wiederholt vorgebrachten Plädoyer für Sicherheitspartnerschaft mit Russland hat Leser Erich Warlitz im Forum des Blättchens entgegengehalten: „Ein wenig unklar“ sei allerdings, wie man „sich eine Sicherheitspartnerschaft mit einem Aggressor vorstellt. Das bleibt zunächst ein Geheimnis von allen ‚Rußland-Verstehern‘.“
Geheimnis? Mitnichten: Die NATO als Organisation und Bündnis führt seit 1949 vor, wie eine solche Sicherheitspartnerschaft funktioniert – eingeschlossen die vielfachen Aggressoren USA (unter anderem Indochina, Grenada, Serbien, Irak), Frankreich (Indochina, Ägypten, Serbien, vielfach in Afrika) und Großbritannien (Ägypten, Falklandinseln, Serbien, Irak), um die Aufzählung nur bei den großen zu belassen. Die führten dadurch zumindest keine Kriege mehr untereinander. Auch nicht mit dem vormaligen Todfeind, den faschistischen Achsenmächten Deutschland und Italien. Die wurden „einfach“ ebenfalls eingebunden.
Ähnliches auch mit der atomaren Supermacht Russland in einem vertraglich kodifizierten und organisatorisch ausgestalteten politisch-militärischen Rahmen hinzubekommen, das wäre ja schon mal ein erstrebenswerter Anfang gewesen – in der Zeit seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Um die Gefahr der großen nuklearen Apokalypse auf eine weniger prekäre Art als im Kalten Krieg zu bannen. Die Chance wurde vertan, und zwar nicht von den Russen.
Dass der Westen diese Chance insgesamt gar nicht erkannt hat und den USA seit der ersten Hälfte der 1990er Jahre an einer weiteren Marginalisierung der anderen nuklearen Supermacht im Endeffekt stets mehr gelegen war als einem grundlegend anderen Sicherheitsarrangement mit dieser, steht auf einem anderen Blatt.
Ein Ergebnis dieser Entwicklung sind die jetzigen Vorgänge um die und in der Ukraine, bis hin zur kriegerischen Auseinandersetzung.
Volker Zastrow resümiert dazu: „[…] was Putin dem Westen in der Ukraine bereits beigebracht hat, ist eine Niederlage“. Manchmal war eine solche auch schon hilfreich: So war es vor über 50 Jahren ein 13. August, eine andere dem Westen durch Moskau zugefügte Niederlage, die zum Anstoß für ein grundlegendes Umdenken („Wandel durch Annäherung“) wurde, dem später – dadurch befördert – ein adäquates im Osten folgte.
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Wolfgang Ischinger, früherer Spitzendiplomat und heutiger Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, gab der FAZ dieser Tage zu Protokoll: „Im Moment ist vielleicht nicht der passende Augenblick für große strategische Initiativen hinsichtlich einer umfassenden euro-atlantischen Sicherheitsgemeinschaft […]. Aber irgendwann – hoffentlich eher früher als später – müssen wir die Diskussion über die Entwicklung einer nachhaltigeren, widerstandsfähigeren, krisenresistenteren und umfassenderen europäischen Sicherheitsarchitektur unter Einbeziehung Russlands wiederaufnehmen. […] Unser Ziel sollte es sein, Regeln und Institutionen zu stärken, insbesondere die OSZE, sowie Projekte wie den Vorschlag eines Vertrags über die Fragen europäischer Sicherheit sorgfältig zu prüfen, den Dmitrij Medwedjew 2008 präsentiert hat.“ Dem wäre lediglich hinzuzufügen, dass „der passende Augenblick“ auch einer sein kann, den ein Akteur durch Ergreifen der Initiative dazu macht. Das könnte sogar die Bundesregierung sein.
„Der Westen und Russland – zum Diskurs“ – bisher in den Ausgaben 15/2014, 16/2014, 18/2014 und 19/2014. Weitere Beiträge des Autors zu diesem Themenkreis in den Ausgaben 7/2014, 9/2014, 11/2014 und 13/2014.
Schlagwörter: Aggressor, der Westen, EU, konventionelles Kräfteverhältnis, NATO, Russland, Schnelle Eingreiftruppe, Ukraine, USA, Wolfgang Schwarz