17. Jahrgang | Nummer 20 | 29. September 2014

Bemerkungen

Eine Gute-Nacht-Geschichte

Da steht sie, strahlend wie das Weiß ihrer Bluse. Ein guter Kontrast zum schwarzen Haar und der schwarzen Oberbekleidung. Sie freut sich mit fast kindlicher Naivität, die noch und vielleicht auch wieder Ministerpräsidentin, und die alerten jungen Männer links und rechts von ihr applaudieren ihr wohlwollend, auf dass man auch ihrer Karriere wohlwolle. Mein Gott, nun sei doch nicht so gehässig! Ich rufe mich zur Ordnung. Diese Frau freut sich über ihren Wahlsieg. Sie feiert einen großen Triumph. Die CDU ist stärkste Fraktion im thüringischen Landtag geworden. Über 37 Prozent hat sie geholt. Hat sie? Hat sie!
Hat sie eben nicht! Sie hat gerade einmal so um die 17 Prozent geholt, denn rund 48 Prozent der Wahlberechtigten sind gar nicht erst zu Wahl gegangen. Und so sieht das auch bei allen anderen Parteien aus, Alle Ergebnisse müssen fast durch zwei geteilt werden, doch die stärkste Fraktion ist nicht im Landtag vertreten, die müden mündigen Bürger, denen die Wahl am verlängerten Rücken vorbei geht. Dass die CDU sich freut, zumindest die in Thüringen und die Bundesgeschäftsstelle ist verständlich. Unverständlich ist, dass so wenige aufstehen und sagen, die Wahlbeteiligung ist eine Katastrophe für die parlamentarische Demokratie. Und noch unverständlicher ist, dass kaum eine der bedeutenden Zeitungen, kaum ein Kommentator im Fernsehen oder Hörfunk sich des Themas annimmt. Noch schlimmer wird es, wenn man die AfD anschaut, die sich zur Volkspartei hochstilisiert, und was die Presse daraus macht. Zweistellig sei die AfD in die Landtage eingezogen. Aber nimmt man die Zahl der Wahlberechtigten zum Ausgangspunkt, dann sind es in Thüringen, 5,5 Prozent und in Brandenburg 5,7 Prozent. Und die SPD hat so gesehen in Brandenburg 15,3 Prozent und in Thüringen gerade einmal 6,5 Prozent der Wahlberechtigten erreicht. Was muss eigentlich passieren, dass man aufwacht? Wie wäre es, wenn in Thüringen 48 Prozent und in Brandenburg mehr als 52 Prozent der Plätze in den Parlamenten unbesetzt blieben? Das geht natürlich nicht, wie sollen die Verbliebenen denn die Arbeit schaffen, die vor ihnen liegt? Die Parteien verstecken ihre Konzeptionslosigkeit hinter Begriffen wie Pragmatik und Realpolitik. Und die Bürger sind damit beschäftigt zu meckern und ihren Wohlstand, so sie welchen haben zu mehren, und wenn sie ihn nicht haben, dann resignieren sie: „Die tun ja doch nichts für uns.“ Eine Frau sprach es in einer Rundfunksendung nach der Wahl aus: „Warum soll ich wählen? Mich fragt doch sowieso keiner, ob ich will, dass mein Sohn nach Afghanistan oder irgendwohin geschickt wird, um zu töten oder getötet zu werden. Man fragt doch noch nicht einmal das Parlament. Warum soll ich wählen, wenn ich nichts zu sagen habe?“ Wir haben für alles Verordnungen, wo wir noch rauchen dürfen, wie schnell wir fahren dürfen, wo es erlaubt ist zu parken, wie die Äpfel auf dem Markt auszusehen haben. Warum verordnet man dann nicht auch, dass die Bürger zur Wahl zu gehen haben? Auch in anderen Ländern gibt es eine Wahlpflicht. Allerdings erwachsen aus Pflichten in den meisten Fällen auch Rechte. Dann ist es wohl doch besser, man feiert Wahlsiege, die keine sind, weil die Hälfte oder sogar über die Hälfte der Wähler nicht wählen gegangen sind. Dann bleibt man lieber unter sich, dann haben beide Seiten ihre Bequemlichkeiten. Und wenn die Welt um uns herum auch brennt, das macht doch nichts, wir haben es dabei ja warm. Schlaft gut!

Fritz Gericke

Ortung der Ortlosen

Was hatte Big Brother im von George Orwell vorausgedachten Jahr 1984 doch für ein geruhsames Leben. Gewiss, er konnte – weil er dies technisch vermochte – jedermanns Verhalten in jedermanns Wohnung kontrollieren, und das war schon eine recht ordentliche Überwachungsleistung. 30 Jahre nach der von Orwell angenommenen Zeit kann man über solcherart Simplizität nur noch müde lächeln. Ok – elektronische Fußfesseln werden bislang ja nur freigängig Straffälligen an die Ferse geheftet. Die Ortung des aktuellen wie vorherigen Aufenthaltes von erheblich mehr Menschen über deren Handys und die Auswertung ihrer elektronischen Kommunikation darf mittlerweile schon als ziemlich raumgreifend bezeichnet werden. Und jene Profile, die aus Mails und dem elektronischen Einkaufen erstellt und an Interessenten verhökert werden, die sich daraus Vorteile versprechen – sie dürften mittlerweile für alle existieren, die ab etwa sechs Jahren über Taschen- und andere Gelder verfügen. Die Behörden von Odense, der dänischen Inselhauptstadt Fuenens, haben besagtem Fortschritt nun einen neuen Impuls gegeben. Per Peilsender wollen sie künftig die Bewegungsprofile von Obdachlosen erstellen – natürlich ausschließlich zum guten Zweck einer besseren Betreuung der auf der Straße Lebenden. Und selbstverständlich anonym, was denn sonst.
Die Fairness gebietet, den dänischen Behörden insgesamt einen erfolgreichen Weg bei der Bekämpfung der Obdachlosigkeit oder wenigstens der Milderung ihrer Folgen zu attestieren. In besagtem Odense haben sich die Obdachlosenzahlen in Odense von 2009 bis 2013 immerhin halbiert. Und mag der Peilsender, der grade eine erste Testphase absolviert hat, auch gedacht sein, weitere Fortschritte zu erzielen – welch eine entwürdigende Stigmatisierung von Menschen als Objekte elektronischer Kontrolle und Verwaltung sich hinter einer solchen Praxis letztlich verbirgt, ist den Behörden offenbar nicht in den Sinn gekommen. Das aber ist das eigentlich Verhängnisvolle: je umfänglicher die Ausspähung von uns allen wird, umso selbstverständlicher wird sie nach und nach empfunden; die ewige Debatte um die Zulässigkeit von Videoüberwachungen öffentlicher Plätze und Einrichtungen und ihr heutiges Ausmaß, bezeugen das hinlänglich . Den in den Odenser Test einbezogenen Obdachlosen vielleicht schon – aber drei feste Mahlzeiten am Tag als Gegenleistung war ihnen das Mitmachen wert.

Hella Jülich

Aemulatio

Martin Walser verdanken wir wunderbare Bücher. Aber auch höchst streitbare Publizistik; seine 1998er Rede von der „Moralkeule Auschwitz“, ist bis heute nicht vergessen und hat seitdem viele Gemüter heiß bewegt. Jetzt nun verdanken wir dem 87-jährigen Literaten ein weiteres, diesmal etwas, das bei politischen Denkenden und Sichäußernden so ziemlich aller Lager in diesem Land mehr als unüblich, ja nahezu singulär ist: Martin Walser hat sich – wiederum öffentlich – dazu bekannt, in der Vergangenheit einiges falsch gemacht, ja, sich geirrt zu haben. Was „Moralkeule Auschwitz“ betrifft weiß und sagt er heute: „Wir, die Deutschen, bleiben die Schuldner der Juden. Bedingungslos. Also absolut. Ohne das Hin und Her von Meinungen jeder Art. Wir können nichts mehr gutmachen. Nur versuchen, weniger falsch zu machen.“
Die inhaltliche Revision der zwischenzeitlichen Auffassung Martin Walsers sei hier nur beiläufig erwähnt. Denn mindestens ebenso belangvoll ist die Tatsache, dass ein politisch denkender Mensch überhaupt bereit ist, sich zu Irrtümern zu bekennen. Dass „irren menschlich“ ist, wird per Sprichwort zwar allenthalben anerkannt – bleibt in der Praxis zumindest politischer Lautsprecher aber weitgehend ungeübt. Die Standardeinführung parteipolitischer Statements beginnt viel lieber mit dem Halbsatz „ Wir haben immer gesagt, dass …“ Irrtum? – nein danke.
Roger Willemsen hat in einem Interview zu seinem Bundestags-Tagebuch „Das Hohe Haus“ kürzlich eine Vision formuliert, die – wiewohl als Hoffnung gedacht – als Realität leider nicht absehbar ist: „Ich fände es zum Beispiel reizvoll, in einem Fernsehgespräch zu sitzen und gegenüber einem Streitpartner zu bekennen: Sie überzeugen mich gerade – ich kann nunmehr also nicht mehr für das stehen, wofür ich eingeladen wurde. Man stelle sich solche Hochkultur der Öffnungsbereitschaft im Parlament vor.“
Wenn auch außerhalb des deutschen Parlamentarismus: Martin Walser hat belegt, dass Ehrlichkeit gegenüber sich selbst und gegenüber anderen möglich ist, und damit auch Revidierbarkeit. Dazu noch einmal Roger Willemsen: „Wahre Weltveränderung beginnt jedenfalls im kritischen Blick auf das eigene Selbst. Wer das verinnerlicht und also die Schwierigkeit begreift, selbst ein Beispiel zu sein – der tut sich schwerer mit den tönenden Forderungen an andere. In der griechischen Ästhetik gibt es die Aemulatio, die permanente Überbietung des Selbst, die Selbststeigerung als Eigenschaft des phantasiebegabten Bewusstseins. Zugleich ist es ein Produktionsprinzip: aus Bestehendem etwas Neues zu schaffen. Im Verhältnis zum eigenen Leben heißt das immer auch: sich selbst zu überschreiten in dem, was man gerade ist oder denkt. Man muss sich zurücklassen können, sich als revidierbare Masse erkennen, sich in Frage stellen lassen.“

Helge Jürgs

Aus anderen Quellen

„Die früher in zwei bewaffnete Lager geteilte Welt kennt jetzt nur noch eine einzige überragende Supermacht: die Vereinigten Staaten von Amerika“, hatte US-Präsident George Bush senior 1992 verkündet. Daran erinnert Serge Halimi, der Chefredakteur von Le Monde diplomatique, und fährt fort: „Diese Epoche ist nun wiederum vorbei. Ihr Totenglöcklein läutete an dem Tag, an dem Russland vom Verlieren die Nase voll hatte und bemerkte, dass seine planmäßige Erniedrigung niemals ein Ende haben würde. Alle seine Nachbarn ließen sich einer nach dem anderen zu einem wirtschaftlichen und militärischen Bündnis gegen Russland verleiten oder bestechen.“ Putin wertete dies vor dem russischen Parlament als „infame Einkreisungspolitik“.
Serge Halimi: Der neue Kalte Krieg, Le Monde diplomatique, 12.09.2014. Zum Volltext hier klicken.

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Der Westen dürfe auch in der Ukraine-Krise, so Joseph S. Nye, früherer US-Staatssekretär der Verteidigung und Vorsitzender des US National Intelligence Council, heute Professor an der Harvard University, „Russland nicht völlig isolieren; ein Land, mit dem der Westen sich überschneidende Interessen in Bezug auf nukleare Sicherheit, Nichtverbreitung, Terrorismusbekämpfung, die Arktis und regionale Angelegenheiten wie Iran und Afghanistan teilt“. Putin stünden durch „Russlands Atomwaffen, seine Öl- und Gasvorkommen, Kompetenzen im Bereich IT-Technologien und seine Nähe zu Europa Mittel zur Verfügung, dem Westen und dem internationalen System Probleme zu bereiten“.
Joseph S. Nye: Ukraine – „Wut ist keine Strategie!“, IPG. Internationale Politik und Wirtschaft, September 2014. Zum Volltext hier klicken.

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In Sachen Aufklärung des vermutlichen Abschusses des malaysischen Fluges MH-15 über der Ostukraine ist auch nach dem erfolgreichen Auslesen der Flugschreiberdaten, das ein Sprecher des damit befassten niederländischen Sicherheitsrates bereits Anfang August bestätigt hatte, offiziell bisher nichts definitiv Erhellendes zu hören gewesen.
Im Internet kursieren Fotos von Trümmern der Maschine und dazu unter anderem folgende Interpretation: „Das Cockpit zeigt Spuren von Beschuss. Man kann Ein- und Austrittslöcher sehen. Der Rand eines Teils der Löcher ist nach ! innen ! gebogen. Das sind die kleineren Löcher, rund und sauber, etwa Kaliber 30 Millimeter. Der Rand der anderen, der größeren und etwas ausgefransten Austrittslöcher ist nach ! außen ! gebogen. Zudem ist erkennbar, dass an diesen Austrittslöchern teilweise die äußere Schicht des doppelten Aluminiums weggefetzt oder verbogen ist – nach außen! […] Was kann also passiert sein? Russland hat Radaraufzeichnungen veröffentlicht, die mindestens eine ukrainische SU 25 in der nächsten Nähe der MH 017 zeigen. Das korrespondiert mit der Aussage des verschollenen spanischen Controllers, der zwei ukrainische Kampfflugzeuge in der direkten Nähe der MH 017 gesehen hat. Betrachten wir dazu die Bewaffnung der SU 25: Sie ist ausgerüstet mit einer zweiläufigen 30-mm-Kanone, Typ GSch-302 /AO-17A, Kampfsatz: 250 Schuss Panzerbrand- bzw. Splitter-Spreng-Geschosse […] Das Cockpit der MH 017 ist von zwei Seiten beschossen worden: Ein- und Austrittslöcher auf derselben Seite.“
Peter Haisenko: Schockierende Analyse zum Abschuss der Malaysian MH 017,
AnderweltOnline.com, 26.07.2014. Zum Volltext hier klicken.
Im Übrigen muss man sich bei Zwischenfällen mit hochbrisanten politischen Implikationen wie im Falle von MH-17, was die Aufklärung anbetrifft, in Geduld fassen, ohne gegebenenfalls am Ende durch die Beantwortung offener Fragen „belohnt“ zu werden – wenn die maßgeblichen beteiligten Seiten nämlich nur ausdauernd und widersprüchlich genug mauern. Der Fall der 1980 bei der Ustica über dem Mittelmeer abgeschossenen Passagiermaschine, einer DC-9 der italienischen Fluggesellschaft Itavia, legt davon Zeugnis ab. Dazu fasst Andrea Purgatori in einem gerade publizierten Beitrag zusammen: „Die beteiligten Staaten hüllen sich bis heute in Schweigen: Italien, weil es die Verletzung seines Luftraums zugelassen hat; die USA als interessierter Zeuge, wenn nicht sogar Komplize; Libyen als Auslöser des Zwischenfalls und Frankreich, weil es den Tod von 81 unschuldigen Insassen eines Linienflugs auf dem Gewissen hat. Mit der Militäroperation, die 2011 zu Gaddafis Tod führte, hat Frankreichs damaliger Präsident Nicolas Sarkozy schließlich die Rechnung mit dem Oberst beglichen.“
Andrea Purgatori: Ein mysteriöser Flugzeugabsturz vor 34 Jahren, Le Monde diplomatique, 12.09.2014. Zum Volltext hier klicken.

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„Die Terrorgruppe Islamischer Staat“, schreibt Peter Harling, „kontrolliert heute ein Drittel Syriens und ein Drittel des Irak. Der Erfolg der Dschihadisten hat den Westen wie die Mächte in der Region zu spät aufgeschreckt. Dass sie jetzt nur noch mit Waffengewalt reagieren können, ist eine Folge ihres eigenen Versagens.“ Der Autor gelangt zu dem Fazit: „Der IS hat an sich wenig zu bieten, aber er nährt sich von einem Systemeffekt. Und das in sehr unterschiedlichen Funktionen: als eine Art Standardroute zur Erlösung, als gelegentlicher Bündnispartner, als Vehikel des sozialen Aufstiegs oder als probates Identitätsangebot für sunnitische Kreise, die eine tiefe Krise durchleben. Von seinen zynischsten Gegnern wiederum wird der IS als Schreckgespenst oder auch zur Ablenkung benutzt. Und als ein Popanz, auf den sämtliche Akteure, die ihr eigenes Scheitern eingestehen müssten, ihre Ängste projizieren können.“
Peter Harling: Die Stärken des Islamischen Staats, Le Monde diplomatique, 12.09.2014. Zum Volltext hier klicken.

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„Die gut entwickelte Landschaft an Think Tanks ist der Stolz Washingtons“, beginnt Clemens Wergin seinen Beitrag über eine ganz spezielle Form der Landschaftspflege in der US-Hauptstadt und ergänzt: „Sie machen Politik-Vorschläge, informieren Abgeordnete und Regierungsmitglieder. Ihre Experten mischen sich in die öffentliche Debatte ein. Und vor allem dienen sie als Ersatzbank für die Regierung, wenn die politische Farbe des US-Präsidenten im Weißen Haus wechselt. Kurz: sie sind eine wichtige Ressource für die amerikanische Politik.“ Und zwar eine Ressource, in die mittels finanzieller Spritzen von ausländischen Regierungen (als konkrete Beispiele werden Norwegen und Katar aufgeführt) kräftig hineingewirkt wird, wie jetzt bekannt wurde. „Für die Think Tanks ist das ein Gau.“ Und weiter: „Es ist durchaus möglich, dass diese Praxis auch gegen US-Gesetze verstößt. Der ‚Foreign Agents Registration Act‘ stammt aus dem Jahr 1933 […]. Das Gesetz verpflichtet Gruppen, sich beim Justizministerium als ‚ausländische Agenten‘ registrieren zu lassen, wenn sie von fremden Regierungen bezahlt werden mit dem Ziel, die Politik in den USA zu beeinflussen.“ Woran Wergin nicht erinnert: Als Moskau Ende 2012 ein vergleichbares Gesetz in Kraft setzte, wurde im Westen lautstark Empörung geäußert, besonders unüberhörbar in Washington …
Clemens Wergin: Wie ausländische Regierungen auf Washingtons Politik Einfluss nehmen, Die Welt, 09.09.2014. Zum Volltext hier klicken.

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„Mali ist aus den Schlagzeilen verschwunden […] Als Frankreich im Januar 2013 in Nordmali militärisch intervenierte,“ so Charlotte Wiedemann, „war die Rede von einem Einsatz, der nur wenige Wochen dauern würde. Tatsächlich währte diese Mission anderthalb Jahre, und sie wurde zur Plattform für eine drastisch ausgebaute und dauerhafte französische Militärpräsenz in der Region.“ Und die Folgen ähneln denen in anderen Interventionsgebieten der Welt: „Allerdings sind bis heute im Norden Malis weder Frieden noch Sicherheit eingekehrt. Die dort entstandene Niederlassung al-Qaida-naher Kräfte wurde geschwächt, doch nicht beseitigt. Vertriebene Dschihadisten tauchten in Niger und Libyen auf, Rückkehrer operieren wieder in Nordmali, in kleineren Einheiten. Nach dem offenen Krieg nun ein Schattenkrieg.“
Charlotte Wiedemann: Mission Mali. Ein Desaster hinter der Fassade des Erfolgs, Le Monde diplomatique, 12.09.2014. Zum Volltext hier klicken.

Film ab

Um Filmen, die vornehmlich für Kinder gedacht sind, besprechend gerecht zu werden, ist die Beobachtung ihrer Wirkung auf die Zielgruppe unbedingt vonnöten. Wenn Probanden derselben allerdings gehäuft und dann auch noch zahlreich Popcorn mampfend zusammentreffen, kann das zur Folge haben, dass vom Film selbst nicht allzu viel mitzubekommen ist. Diesem Dilemma versucht der Rezensent regelmäßig dadurch zu entkommen, dass er die frühestmögliche Nachmittagsvorstellung im Spektrum von Montag bis Freitag wählt. Das hat auch dieses Mal geklappt: Der Riesenkinosaal war von genau vier Personen bevölkert – zwei Großeltern und zwei Enkeln.
Der meine, Felipe (fast sechs), sagte während des gesamten Films keinen Mucks und saß wie angegossen in seinem Kinosessel, was für eine anhaltend interessante Geschichte und die Absence langweiliger Hänger spricht. Regelmäßig wanderten die Händchen zum Mund (= spannend) und wieder zurück in den Schoß, wenn der nächste Lacher von ihm Besitz ergriff. So gesehen haben die Macher von „Die Biene Maja – Der Kinofilm“ nichts falsch gemacht.
Mit nur wenig Verspätung nach dem 100-jährigen Geburtstag des alters- und generationenübergreifend beliebten Staaten bildenden Hautflüglers (Apis mellifera) – der Kinderbuchklassiker „Die Biene Maja und ihre Abenteuer“ von Waldemar Bonsels war 1912 erstveröffentlicht worden – haben sie ihren Streifen jetzt in die Lichtspielhäuser gebracht und dabei auch der Versuchung entsagt, „Regietheater“ abzuliefern, also Handlung und Figuren so zu entstellen, dass man sich im Wortsinne im falschen Film meint, oder durch artifizielle Effekte der eigenen kreativen „Genialität“ ein Denkmal zu setzen. Die Handlung ist dem Original entlehnt, und die bekannten Gestalten haben ihre Auftritte – neben Maja und ihrem Freund Willy also auch der Grashüpfer Flip, der Mistkäfer Kurt, die einfühlsame Lehrerin Kassandra und die gütige, weise Bienenkönigin. Das Böse ist nicht gar so schröcklich und wird ja sowieso besiegt, weil Werte wie Freundschaft, Vertrauen und Zusammenhalt im Märchen nun einmal stets die stärkeren Bataillone schmieden.
Darüber hinaus dürfte dem Streifen ein Sonderlob der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gewiss sein, denn Maja sorgt am Ende dafür, dass auch Mistkäfer Kurt – mit sich abzeichnender Depression, weil er als einziger ob seines „Duft-Problems“ nie zu Partys eingeladen wird – beim großen Abschlussempfang im Bienenstock dabei sein darf.
Den zusätzlichen Eintritt für die 3D-Fassung allerdings kann man sich getrost sparen, denn diese Effekte sind so dürftig, dass sie nur als hingepfuscht bezeichnet werden können.
Und: Widersprochen werden muss einer allzu pauschalisierenden Verharmlosung des Films, wie sie im KulturSPIEGEL vorgenommen wurde – „niedlicher Animationsfilm […] moralisch korrekte Geschichte“. Die intrigante und auch sonst überaus fiese Ratgeberin Gunila entzieht der Bienenkönigin nämlich, um sich an deren Stelle zu setzen, das überlebensnotwendige Gelée Royale und verurteilt diese damit zu einem schleichenden Tod. Das Komplott scheitert natürlich, erfüllt aber juristisch nichtsdestotrotz die Tatbestände des jeweils versuchten Staatsstreiches und Mordes. Die Strafe für die Missetäterin besteht gleichwohl lediglich in einer Degradierung zu niederer Dienstbotenarbeit. Dies unter „moralisch korrekt“ zu subsummieren, könnte, setzte sich ein solcher Standpunkt durch, fatale Folgen für Gesellschaft und Gemeinwesen haben!

Clemens Fischer

„Die Biene Maja – Der Kinofilm“, Regie: Alex Stadermann; derzeit in den Kinos.

Ein neuer Wenderoman?

„Nachbarn“ ist das literarische Debüt der gebürtigen Karl-Marx-Städterin Madeleine Prahs, die heute in Leipzig lebt und arbeitet. In ihrem Roman schildert sie die Lebenswege von sechs Protagonisten, deren Schicksal von der deutschen Geschichte vor und nach dem Mauerfall von 1989 geprägt wird.
Da ist die Dreiecksgeschichte, die im geteilten Deutschland beginnt und dann ihre Fortsetzung im wiedervereinigten Land hat. Hans (später Kunsthistoriker) und Matthias (später Architekt) sind Studienfreunde in der DDR … beide lieben sie die Bibliothekarin Hanna. Hans hat jedoch bei ihr mit seinem Charme die größeren Chancen. Doch das genügt dem Charmeur nicht, die DDR engt ihn in seiner beruflichen und persönlichen Entfaltung ein und so nutzt er einen Rom-Besuch, um sich in die BRD abzusetzen. Nun leben Hanna und Matthias für ihn unerreichbar hinter der Mauer. Jetzt sieht Matthias seine Chancen gestiegen, doch dann fällt im November 1989 die Mauer und würfelt die Beziehungen und die Rivalität wieder neu durcheinander, wobei auch Stasi-Akten auftauchen.
Der andere Handlungsstrang erzählt von Anne, die sich schon als Kind nach dem Westen sehnt. Kurz vor dem Mauerfall gelingt ihr auch die Flucht, sie will zu ihrem Vater nach Westberlin. Doch es wird eine Enttäuschung. Inzwischen ist Anne erwachsen, hat selbst eine Tochter, die kleine Marie, und schlägt sich als Altenpflegerin und alleinerziehende Mutter durch das Leben. Dabei lernt sie den Rentner Karl kennen, den sie betreut. Nach dem Tod seiner Frau ist er immer halsstarriger geworden und versteht die Welt nicht mehr. Ausgerechnet bei diesem Dickschädel muss die überforderte Anne notgedrungen ihre kleine Marie für einige Nachmittage lassen. Diese Stunden ändern nicht nur den alten Querkopf sondern auch das Mädchen.
Die Autorin verknüpft die einzelnen Lebensepisoden ihrer Figuren, ihre Erlebnisse, Träume und Enttäuschungen, zu einem bemerkenswerten Panorama deutscher Alltagsgeschichte. „Sie alle hatten ihre Geschichte gehabt, Siege und Niederlagen.“ Die zahlreichen kurzen Kapitel tragen mitunter kuriose Titel wie „Das sind doch alles kleine Schlampen“, „Blitzkrieg“ oder „Winterschlussverkauf I und II“. Dabei sind die Jahre 1989, 1994, 2001 und 2006 die historischen Eckpfeiler ihres Romans. Über das zukünftige Schicksal der Protagonisten kann man am Ende nur spekulieren. Ob es ein weiterer Wende-Roman ist, muss jeder Leser selbst entscheiden … auf jeden Fall ein beachtenswertes Gegenwartsbuch und eine empfehlenswerte Lektüre.
Bereits während der Arbeit an „Nachbarn“ erhielt Madeleine Prahs mehrere Auszeichnungen und Förderungen, so Stipendien des Literarischen Colloquiums Berlin und der Jürgen-Ponto-Stiftung. Momentan ist sie für zwei Literaturpreise nominiert: Klaus-Michael Kühne-Preis (Hamburg) und Hallertauer Debütpreis.

Manfred Orlick

Madeleine Prahs: Nachbarn, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2014, 352 Seiten, 19,90 Euro.

Medien-Mosaik

„Nur zum Vergnügen“ heißt der längst fällige Bildband von Günter Gueffroy, einem der bekanntesten Pressefotografen der DDR. Das bezieht sich auf seine Einstellung zum Beruf, macht aber auch dem Betrachter Vergnügen. Es ist kein Geheimnis, dass Gueffroy eine besondere Affinität zu weiblichen Modellen hat, gleich ob im Porträt oder im Akt. Davon zeugen seine Fotos für neues leben, Das Magazin und nicht zuletzt seine Plattenhüllen. Da sind Nina Hagen, Angelika Unterlauf und Carmen Nebel noch blutjung, Jutta Deutschland auf Spitze und Inka Bause auf Knien, Gruppen wie Rockhaus, City, Karat und Stern Meißen in Promo-Fotos. Es gibt Charakterporträts von Heiner Müller und Therese Giehse und eines von Wolfgang Lippert in NVA-Uniform. Aber auch der ehemalige tagesaktuelle Fotograf vom ND kommt in diesem Band vor – mit atmosphärischen Schnappschüssen von den Weltfestspielen 1973 und Impressionen vom Mauerfall 1989. Zu vielen Fotos erzählt Günter Gueffroy kleine Geschichten, wobei die von seiner Arbeit für den Playboy gegen Devisen besonders aufschlussreich ist.
(Günter Gueffroy, Nur zum Vergnügen, Verlag Bild und Heimat, 144 S., 19,95 EUR)

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Echte Spione sitzen typischerweise in Bars, der gemeine Spitzel eher in Wohnküchen. Darum spielt auch die Küche des einstigen Künstler-Ehepaars Wilfriede und Ekkehard Maaß aus dem Prenzlauer Berg eine Hauptrolle in Annekatrin Hendels neuem Dokumentar-Essay „Anderson“. Denn Sascha Anderson hatte einst diese Küche und die Werkstatt von Wilfriede Maaß zu seinem Berliner Hauptquartier erkoren, von dem aus er die Unangepassten der Ostberliner Szene aushorchte und – ohne dass es die Betroffenen merkten – anleitete. Heute weiß niemand so genau, wann Sascha es mit ihnen ehrlich meinte und wann er von der Stasi gesteuert handelte. Anderson hatte eine Aura, durch die ihm viele vertrauten, und einige der Bespitzelten sprechen darüber in dem Film. Fast möchte man sagen, es ehre Anderson, dass er selbst vor Hendels Kamera Rede und Antwort steht. Aber was er zu sagen hat, ist schwer zu greifen, Ausflüchte, nicht zu Ende gedachte Überlegungen, und ob er wirklich Einsichten hat, scheint zweifelhaft. Ob er ein wirklicher Dichter ist, ebenso. Im ersten Film der „Verrats-Trilogie“ über Paul Gratzik zitiert Hendel aus dessen Texten. Bei Anderson nicht. So bleibt der Rückblick auf ein schillerndes, aber unbefriedigendes Leben, auch wenn sich der Spitzel als Schwiegersohn eines prominenten Autors heute nichts auszustehen hat.
(Anderson, Film von Annekatrin Hendel, Edition Salzgeber, ab 2. Oktober in ausgewählten Kinos)

bebe

Fürsorge mit Zukunft

Die chinesische Millionenstadt Chongqing macht den globalen Pionier in einer Angelegenheit, die auch jetzt schon fast überfällig ist. Sie hat einen ersten Gehweg eingerichtet, der ausschließlich für Handynutzer bestimmt ist; jene rasant wachsende Spezies von autistischen Hominiden, die ihre Blicke nicht mehr auf ihre Um- und Mitwelt richten sondern ausschließlich auf das Display ihrer Handys und Tablets, das virtuelle Welten auf die Retina projiziert. Um die bei solcherart roboterhafter Bewegungen nahezu unvermeidlichen Zusammenstöße mit Mensch, Tier, Baum oder Laterne zu vermeiden, geben zudem Pfeile auf dem Boden Hinweise auf die Laufrichtung; der Verlust von unwiederbringlicher Lebens- bzw. Userzeit durch das Aufschauen kann nun effizient vermieden werden. Das wiederum potenziert den Effekt jener Bildung, derentwegen die fast immer jungen Menschen ja die televisionären Kommunikation betreiben – was denn sonst. Es geht zwar die Kunde, dass dies ein Marketinggag sei, doch sei an London, erinnert, wo die Organisation Living Street 2008 für eine Werbefirma Laternenpfähle aus gleichen Gründen mit Polstern ausgerüstet hatte.

HWK

Berliner Original auf dem Kulturkahn Helene

Wenn man nach Berlin kommt sucht man oft vergeblich nach Berliner Originalen. Der Berliner Dichter KAPAULKE ist so ein Original. Ab Herbst stellt er ein neues Liederprogramm vor, verspricht urkomische Lieder & Geschichten. KAPAULKE behauptet, er könnte die MET füllen, doch erst füllt er seine neue CD. Danach seinen SALON. So heißt sein neuester satirischer Streich: „KAPAULKE‘s SALON“. In dem kleinen, aber geschichtsträchtigen musikalischen Kabarett im Kulturkahn Helene spielten schon alle Berliner Größen der Kleinkunstgilde. Lassen Sie sich von Kapaulke überraschen.

Vorstellungen: Samstags, 20 Uhr, Historischer Hafen, Märkisches Ufer 1z, 10179 Berlin, Infos & Kartenvorbestellung unter info@kulturkahn-helene.com

as

Wirsing

Wenn die Polizei ihre Arbeit gewissenhaft ausübt, dann ist es Funk und Fernsehen schon Spitzenmeldungen in den Nachrichten wert. Der „Blitzermarathon“ animierte Reporter zu Höchstleistungen. Einer von ihnen berichtete für den Berliner Rundfunk: „Hier am Sachsendamm stehen viele Autos, die in Gesprächen mit Polizeikollegen sind.“ Autos sind also die Kollegen von Polizisten, mit denen sie in regem Meinungsaustausch stehen. Ganz klar. Auch Briefe und Karten sind Kollegen von Postboten, mit denen sich manches Gespräch entspinnt!

Fabian Ärmel