17. Jahrgang | Nummer 4 | 17. Februar 2014

Bemerkungen

Annelies Laschitza 80

Ihren Namen hörte ich das erste Mal, als ich 18 war. Damals, 1974, herrschte unter meinen älteren Freunden aus dem ISKRA-Klub Berlin helle Aufregung. Denn Annelies Laschitza und der – früh verstorbene – Günter Radczun hatten soeben den 4. Band der „Gesammelten Werke“ von Rosa Luxemburg vorgelegt, in ihm: „Die russische Revolution“, das Fragment aus dem Jahre 1918.
Diese Schrift war im „sozialistischen Lager“ – bis zu seinem Ende – ansonsten verboten. (Die polnische Ausgabe – der einzige Versuch der Veröffentlichung von „Die russische Revolution“ zuvor – hatte Wladyslaw Gomulka 1957 auf Druck Moskaus einstampfen lassen müssen.)
Wir lasen mit hochroten Ohren den Text, fanden uns dabei rrrrevolutionär und verstanden – nichts. Nicht einmal, dass es sich um eine Selbstverteidigungsschrift handelte, in der Rosa Luxemburg sagen wollte, was sie im Falle einer deutschen Revolution alles anders machen würde als die Bolschewiki: keinen Terror, keine Unterdrückung der politischen Freiheiten, keine Minderheitendiktatur. (Selbst wenn diese Schrift erschienen wäre, hätte sie Rosa Luxemburg nichts geholfen. Auch dann wäre sie als „Bolschewistin“ gejagt und ermordet worden; Deutschland halt …)
Von da an verfolgte ich aufmerksam Annelies Laschitzas Publikationen, freute mich über das zwischen den Zeilen und 1986 über den Rosa Luxemburg-Film von Margarethe von Trotta; wissenschaftliche Beratung: Annelies Laschitza. Meine Freude währte nur kurz. Ein Politbüromitglied entschied: So etwas wollen unsere Menschen nicht sehen; gemeint war: Dem Volk muss die Religion erhalten bleiben. Der Film wurde zurückgezogen.
Da hatte Annelies Laschitza mit ihren Kollegen längst den nächsten Meilenstein gesetzt: mit der sechsbändigen Ausgabe der Briefe von Rosa Luxemburg, sie erschien ab 1980.
1990 kam es zwischen dem Dietz Verlag Berlin und Annelies Laschitza zur Verstimmung. Jetzt wurde nicht mehr Rosa Luxemburg, sondern Ruth Fischer gedruckt („Stalin und der deutsche Kommunismus“, zwei Bände, 1991). Ruth Fischer hatte übrigens einst die Ansichten Rosa Luxemburgs als die „Syphilis in der Arbeiterbewegung“ bezeichnet und Rosa Luxemburgs Grab geschändet …
Annelies Laschitza gab nicht auf und ging zum Aufbau Verlag: Ihre Rosa Luxemburg-Biographie „Im Lebensrausch, trotz alledem“ (1996) wurde ein gewaltiger Erfolg.
Unterdessen ist Annelies Laschitza wieder bei dietz berlin und hat sich zu ihrem Jubiläum zusammen mit Eckhard Müller und mit Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung das größte Geschenk selbst gemacht: mit dem fast tausendseitigen Band sechs der „Gesammelten Werke“ von Rosa Luxemburg (Ergänzungsband 1893 bis 1906), der soeben erschienen ist. Weitere Bücher sind in Planung.

Jörn Schütrumpf
dietz berlin

Mucha im Bröhan-Museum

Das Berliner Bröhan-Museum trägt den Namen seines Gründers Karl H. Bröhan (1921-2000), der anlässlich seines 60. Geburtstages seine Privatsammlung dem Land Berlin schenkte. Damit war der Grundstock gelegt für ein Spezialmuseum für Jugendstil, Art Deco und Funktionalismus (1889-1939), dessen ständige Exposition immer einen Besuch wert ist und das mit Sonderausstellungen stets aufs Neue „noch eins drauf setzt“. Wie derzeit mit der Exposition „Mucha Manga Mystery. Alphonse Muchas wegweisende Grafik“.
Muchas (1860-1939) Arbeiten gelten nachgerade als Inbegriff des Jugendstils und der Belle Époque in Paris um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Sinnliche, auch aufreizende und meist entrückt blickende Frauengestalten mit üppigen Mähnen und in wallenden Gewändern – eingerahmt von arabesken Ornamenten oder Ranken stilisierter Blumen und das Ganze gemalt in rauschhaften Farben – das war sein Markenzeichen, das dem Lebensgefühl der Boheme und zur Dekadenz neigender betuchter Kreise Ausdruck verlieh. Dabei war Mucha auch ganz profanem Gelderwerb nicht abhold. Er lieferte in seinem Stil nicht zuletzt Werbeplakate für Rauchwaren, Champagner und Kleinkinderkost ab – einige davon, wie zum Beispiel eine Arbeit für „Moët & Chandon“ zählen zu seinen schönsten.
Das gilt auch für jene Werke, die er im Auftrag von und für Sarah Bernard (1844-1923) schuf – die berühmteste Aktrice um die Jahrhundertwende, ebenso exzentrisch wie skandalumwittert. Für Mucha wurde sie der Durchbruch zum Weltruhm – aus Zufall. Kurz vor Weihnachten 1894 benötigte die Bernard einen Künstler, der ein Veranstaltungsplakat für das Theaterstück „Gismonda“ entwerfen sollte. Ihre üblichen Auftragnehmer standen nicht zur Verfügung. Mucha erfuhr dies en passant in einer Druckerei. Er bot sich an, erhielt den Auftrag und wenig später zierte die Bernard von Mucha die Litfaßsäulen von Paris. Die Plakate waren so begehrt, dass Kunstfreunde die meisten wieder entfernten. Mucha wurde quasi über Nacht zu einer Berühmtheit. Die Zusammenarbeit mit der Bernard währte mehrere Jahre.
Eine Renaissance erlebte der Künstler in den 1960er und 1970er Jahren – seine Werke passten zum Lebensgefühl der Flower-power-Generation. Reproduktionen seiner Plakate fanden ein Massenpublikum. In San Francisco gab die Family Dog Productions Konzertplakate in einem zeitgemäßen Mucha-Stile in Auftrag. Und selbst zeitgenössische Mangas, japanische Comics, widerspiegeln den Rückgriff ihrer Schöpfer auf das stilistische Instrumentarium Alphonse Muchas. Auch diesen Aspekten widmet die Ausstellung im Bröhan-Museum eingehend Raum.

Hans-Peter Götz

Noch bis 30. März: „Mucha Manga Mystery. Alphonse Muchas wegweisende Grafik“, Bröhan-Museum, Schlossstraße 1a, 14059 Berlin; Di-So 10-18 Uhr.

Verkehrte Welt?

Monokausalität gilt dem, der die Welt unvoreingenommen betrachtet, schon lange nicht mehr als akzeptables Instrument zu nachhaltigem Erkenntnisgewinn. Auch dann und vielleicht gerade dann nicht, wenn Monokausalität sich zum Gesetz erhebt und dies mit dem Verkleidungskostüm der Dialektik umhüllt. „Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen“, so einfach machen es sich auch unter Linken längst nur noch die Rechtgläubigen.
Wie bunt und vielfältig das Leben sein kann, zeigt eine ganzseitige Zeitungsanzeige in dem isralischen Blatt Yedioth Ahronoth, in der die wichtigsten Geschäftsleute Israels ihre Regierung auffordern, mit den Palästinensern endlich ein Friedensabkommen zu unterzeichnen. Es ist also das Kapital, das zur Rationalität mahnt, nicht die Politik. Dass man da keine Wandlung vom Saulus zum Paulus erfolgt, vielmehr zuallererst die eigenen Interessen der Industrie- und Finanzmagnaten maßgeblich sind, ist in diesem Falle ebenso offensichtlich wie förderlich für einen Konflikt, der dringendst einer Lösung bedarf. Sollte das israelische Kapital dazu beitragen, es wäre ihm dafür zu danken.
Das erinnert an eine alles in allem analoge gesellschaftliche Entwicklung im Südafrika der 1980er Jahre. Während die Rassistenregierung Pieter Willem Bothas an den menschenverachtenden Prinzipien der Apartheid unnachgiebig festhielt und so die Situation im Lande ebenso verschärfte wie Südafrika international immer mehr isolierte, war es das Großkaptial – um den damalen De Beers-Chef Oppenheimer –, das Druck auf Pretoria machte und eine Reihe von weißen Politikern dazu brachte, mit dem illegalen ANC Gespräche über ein Südafrika ohne Apartheid aufzunehmen. Die südafrikanischen Unternehmer hatten schlicht erkannt, dass die Unterdrückung der Farbigen die eigenen Geschäfte immer mehr hemmte, im Lande selbst wie auf dem Weltmarkt. Reaktionär verhielt sich seinerzeit die weiße Arbeiterklasse, befürchtete diese doch zu Recht, ihrer Privilegien verlustig zu gehen, wenn ihre farbigen „Kollegen“ gleiche Chancen bekämen wie sie.
Die weitere Entwicklung ist bekannt. Dass Botha, dergestalt zum Jagen getragen, später gemeinsam mit Nelson Mandela den Friedensnobelpreis erhielt, ist freilich ein Treppenwitz der Geschichte, schmückte sich in seiner Person doch die Politik mit jener Feder, die in diesem Falle dem Kapital zugekommen wäre.
Inwieweit dessen israelischer Ableger mit seinem Druck auf die Regierung Netanjahu Erfolg haben wird, bleibt abzuwarten. Wenn aber eine Kraft in Israel die Aussicht hat, Veränderung zu bewirken, dann diese gewiss nicht zuletzt.

Hajo Jasper

Blätter aktuell

Offensichtlich ist die US-Regierung nicht bereit, auf ein Abhören deutscher Bürger und Politiker zu verzichten. Das belegt der gescheiterte Versuch eines No-Spy-Abkommens. Doch nicht weniger wichtig, so der Politologe Thorsten Wetzling vom Brandenburgischen Institut für Gesellschaft und Sicherheit (BIGS), ist die nationale Ebene, insbesondere die parlamentarische Kontrolle der deutschen Geheimdienste. Dieser Kontrollinstanz fehle es an dreierlei: an Befugnis, Fähigkeit und Willen.
Nach dem Abkommen von Bali im Dezember 2013 sprach die Welthandelsorganisation (WTO) von einem globalen Durchbruch beim Abbau von Handelsschranken. Doch wem nützt dies? Die Journalistin Sarah Lempp analysiert, wie der globale Norden durch seine neoliberale Handelspolitik transnationale Abhängigkeiten verfestigt und lokale Märkte im globalen Süden zerstört — und zwar auch mit Hilfe vermeintlich „neutraler“ Akteure wie NGOs und Stiftungen.
Nach außen hat die Bundesrepublik das rassistische Apartheidregime durchaus kritisiert. Gleichzeitig bestanden aber engste Wirtschaftsbeziehungen deutscher Unternehmen mit Südafrika. Der Politologe und Journalist Guido Speckmann zeigt, dass die deutsche Politik ihre Exportinteressen in Südafrika regelmäßig über die Menschenrechte stellte — und dass viele Deutsche die rassistische Gesellschaftsordnung insgeheim befürworteten.
Dazu weitere Beiträge – unter anderem: „‚Armutsimport‘: Wer betrügt hier wen?“, „Sterben dürfen“, „Italien: Nicht arm, aber arm dran“ und „Kataloniens Unabhängigkeit, Spaniens Ende?“

am

Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, Februar 2014, Einzelpreis: 9,50 Euro, Jahresabonnement: 79,80 Euro (Schüler & Studenten: 62,40 Euro). Weitere Informationen im Internet: www.blaetter.de

Dreimal Kuh

Ich könnte mir denken, daß die Geschichtsschreibung alle gewesenen Epochen der Menschheit, von der Urzeit bis zur Gegenwart, dereinst als das Zeitalter des Infantilismus zusammenfaßt.

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Was ist ein Kollektiv? Eine Häufung von Nullen, die auf den Individualismus verzichtet haben, aber auf Namensnennung Wert legen.

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Das sogenannte „Kosmische“ der Deutschen ist eine Fortsetzung ihres Subordinationsbedürfnisses ins Jenseits.

Anton Kuh
österreichischer
Literat (1891-1941)

Kulturgut Sprache

Die Deutsche Presseakademie will eine hochseriöse Einrichtung sein. Davon darf man gewiss ausgehen, auch wenn das Gros des deutschen Blätterwaldes nur bedingt akademische Wurzeln ahnen lässt. Die Einladung zu einer in Kürze stattfindenden Tagung dieser Institution ist für eine Deutsche Bildungseinrichtung deutscher Journalisten allerdings dahingehend aufschlussreich, wo es hierzulande sprachlich künftig immer mehr langgeht. Die besagte Tagung befasst sich mit „Brand Journalism“. Was das ist, wird in einem kleinen Beitext des Einladungsflyers so erklärt: „Was macht ein guter (Brand) Journalist? Er schreibt Geschichten.“ – Aha, möchte man sagen, liest dann aber vertiefend weiter: „Die Magie des ‚Geschichten Erzählens‘, neudeutsch Storytelling, wird überall beschworen: In den Presseabteilungen, im Marketing und bei den Personalverantwortlichen des Employer Branding. Denn eine Geschichte prägt sich ein, bleibt hängen, wird weitererzählt. […] Eine gute – oder auch schlechte – Geschichte verbreitet sich wie ein Lauffeuer in den sozialen Netzwerken und macht seinen Autor berühmt.“ – Ach was!
Sehen wir mal von dem Lapsus ab, dass eine Geschichte nicht seinen, sondern bestenfalls ihren Autor berühmt machen kann, und ignorieren wir die beiden Anglizismen dieses Auszugs, wird es dann aber im Tagungsprogramm sprachlich wirklich aufregend. Etwa ein Viertel der dort auf den Ablauf zweiter Tage verteilten Vokabeln ist anderswo zuhause, im Land der Deutschen Presseakademie jedenfalls nicht. Die Rede ist von „Gettings started“, „Viraler Content“, „Employer Branding“, „Storytelling“ (neudeutsch, wie wir dank oben wissen) und „Social Media Guidelines“. Nach einem „Lunch“ geht’s „crossmedial“ weiter. Nach dieser „Session“ gibt’s seltsamerweise keinen coffee breake, sondern eine „Kaffeepause“. Nach diesem bloß lingualen Ausrutscher wird die “Corporate Website“ verhandelt, bis schließlich der Abend mit „Dinnerspeech“ ausklingt.
Dito am zweiten Tag: Auf „need to know“ folgen„Digital Native“, „Multichannel-Strategie“ und „Corporate Blogs“. Und wenn das alles durchgestanden ist, setzt endlich ein „Sum-Up“ den krönenden Schlusspunkt vor die Verabschiedung ins deutschsprachige Pressewesen.
Ein Jammer, das Das Blättchen nicht die lumpigen 1.090 Euro an Tagungsgebühren aufzubringen gewillt ist, um wenigsten einem seiner zahlreichen Redakteure ein ordentliches Deutsch zu lernen.

Heinz. W. Konrad

Kurze Notiz zu Holleben

Hier hat sich seit langen Jahrzehnten nichts mehr getan. Die Häuser lehnen schwerfällig aneinander, die alten Gehöfte bröckeln weg, und die Kreuze auf dem Friedhof rosten friedlich vor sich hin. Meine Damen und Herren, wir befinden uns in Holleben: Der Konsum ist längst dicht gemacht worden, die Dorfstraßen sind zwar frisch gepflastert (EU-Dorferneuerungsprogramm), aber die DDR lebt hier noch immer fort – in den Straßennamen.
Marx und Bebel, die Luxemburg und Liebknecht, Ernst Thälmann und der Teich – sie alle wurden im Hollebener Straßennetz verewigt. Und sie alle waren auch hier und haben den Ort nachhaltig geprägt, versichert Bürgermeisterin Isolde Mertin, der Teich sei sogar noch immer da.
Holleben, das ist ein kleines Dorf am Rande von Halle, zwischen Lutherplatz und Thomas-Müntzer-Straße passen keine 2.000 Menschen. Hier hat der Bürgerverein die Mehrheit im Gemeinderat, und CDU und SPD bilden eine gemeinsame Fraktion. Hier ist die Welt noch in Ordnung.
Das Dorf ist bekannt für seine guten Pferde (nicht für seine guten Menschen) und Agrarprodukte. Ein Denkmal erinnert an den Kartoffelkrieg, die Burg wurde zum Reiterhof. Die Natur holt sich alles zurück.
Hier geht es sehr ruhig zu und wer in Halle wohnt und leidet, sollte ab und an nach Holleben raus. Dort lässt es sich herrlich unter Streuobstwiesen – was auch immer – und den Kühen dabei beim Blöken zusehen. Am Horizont leuchtet die Silhouette der Buna-Werke, darunter grün, darüber blau: Holleben, die zeitlose Idylle.
… nur als die Frauen vom Ort letztlich das Kreispokalfinale verkackten, gab es plötzlich so etwas wie eine Stimmung im Dorf, auch noch eine negative. Aber auch nur ganz kurz.

Thomas Zimmermann

Kron(e)juwelen

Bettendienst

Eine Ministerin und ein Minister der großen Koalition „haben sich eine kleine Kemenate direkt hinter dem Ministerzimmer als privates Nachtschlaf-Refugium angemietet“, berichtet die Presse. Mögen sie oft davon Gebrauch machen und in weiteren Kabinettsmitgliedern Nachahmer finden. Bei manchen ist es besser, sie schlafen, als dass sie regieren.

Boulevard real

Niemand sage, dass Boulevard-Zeitschriften ausnahmslos der Verblödung dienen. In einer dieser Gazetten fand sich jüngst neben dem üblichen Gesabbel über Mode, Adel und Prominente geringerer Abstammung ein Artikel über Prinz Harry von England. Darin war zu lesen, dass „in der Silvesternacht die Prinzen-Gang Champagner aus der Beinprothese (!) von Kriegsveteran Duncan Slater, 35, schlürfte“. Eingebettet in diesen Bericht ist unter der dicken Balkenüberschrift „Hämorrhoiden“ eine Werbung für ein entsprechendes pflanzliches Heilmittel. Wenn man bedenkt, wo Hämorrhoiden in natura wuchern, hat diese Zusammenstellung einen echten und aufklärenden Bezug zur Wirklichkeit.

Günter Krone

WeltTrends aktuell

Nach den vollmundigen Münchner Erklärungen holt die neuen Weltmachtstrategen nun die Wirklichkeit ein. Bei seinem jüngsten Afghanistan-Besuch musste Außenminister Steinmeier mehr oder weniger offen die Probleme der NATO/ISAF-Mission eingestehen.
Wie ist die bisherige Bilanz in Afghanistan? Welche Perspektiven gibt es für das Land und die Region? Diesen Fragen gehen Experten aus Deutschland und Asien nach. Thomas Ruttig nimmt eine schonungslose Analyse vor: Das Land ist weiter instabil und arm, ein dauerhafter Frieden nicht in Sicht. Die Ziele und das Engagement Indiens gegenüber Afghanistan verfolgt Shanthie Mariet D‘Souza. Während Diethelm Weidemann den Afghanistan-Konflikt in seiner historischen und breiteren regionalen Dimension betrachtet, analysiert Said Reza Kazemi die Auswirkungen auf die zentralasiatischen Staaten.
Der Weltblick widmet sich den Problemen des Südsudan und der Migrationspolitik Norwegens. Erörtert werden neue Erkenntnisse zum Tod des damaligen UN-Generalsekretärs Dag Hammarskjöld 1961. Thema der Historie ist in diesem Jahr der Erste Weltkrieg. Im ersten Teil beschäftigt sich Jürgen Angelow mit der Kriegsschuldfrage.

WeltTrends. Zeitschrift für internationale Politik, Nr. 94 – Januar / Februar 2014 (Schwerpunktthema: Abgrund Afghanistan), Potsdam / Poznan, 9,50 Euro (für Bezieher des Newsletters: 6,- Euro) plus Porto. Weitere Informationen im Internet: www.welttrends.de.

Roter Rebensaft und andere Farbtupfer

Die Bluesmusik hat in deutschen Landen nicht denselben Stellenwert wie in England oder den USA. Da mag es nicht verwunderlich erscheinen, wenn der in Paderborn lebende Bluesmusiker Pete Alderton britisch-amerikanische Wurzeln aufweist.
In seinem Album „Roadside Preaching“ lotet er die Spannungszustände im Leben aus – von Liebe und Leid, von Glück und Unglück. Dabei richtet er den Blick nicht nur auf individuelle Befindlichkeiten. In „Who’s To Blame“ fragt er hartnäckig nach den Verantwortlichen für Umweltverschmutzung, Elend und Hunger auf der Welt. Und „Red, Red Wine“ ist kein Loblied auf den Rebensaft; vielmehr eine illusionslose Darstellung des Lebens auf der Straße, welches nur durch die Einnahme von Stimmungsaufhellern durchgestanden werden kann. Nicht nur in diesem Lied scheinen eigene Lebenserfahrungen Eingang gefunden zu haben. Dem Alkohol hat Pete Alderton übrigens zwischenzeitlich völlig abgeschworen.
Mit „Lament For The War“ appelliert er eindrucksvoll an die Konsequenzen des Krieges.
Die sparsame Instrumentierung der Lieder sorgt für eine intensivere Wahrnehmung seiner musikalischen Botschaften.
Ein absoluter Höhepunkt des Albums ist das von Leonard Cohen geschriebene Stück „Dance Me To The End Of Love“, das mit Ella Ravens als Gesangspartnerin und dem Akkordeonspiel von Thommy Heinecke absolut stimmige Farbtupfer erhält.
Eine puristische Darbietung des Bluesklassikers „Stormy Monday“ von T-Bone Walker bildet den gelungenen Abschluss der CD.

Thomas Rüger

Pete Alderton: Roadside Preaching, CD 2013, Ozella Music, etwa 16,00 Euro.

Aus anderen Quellen

André Schmitz, der Berliner Kulturstaatssekretär ist zurückgetreten und klebte zuvor nicht erst lange an seinem Posten. „Ein kurzes heftiges Fremdwackeln nach der Aufdeckung einer Steuerhinterziehung, und schon lässt er den Stuhl los. Dabei gefiel der ihm außerordentlich. Und er hat ihn vor acht Jahren auch nicht erobert, um dort seinen Lebensunterhalt zu verdienen, sondern um sich darauf Ansehen, Respekt, Zuspruch und Macht zu verschaffen. Das hat funktioniert“, vermerkt Birgit Walter und fährt fort: „Es macht das Delikt von André Schmitz noch seltsamer als das von anderen Steuersündern.“ Und dann geht sie in medias res.
Birgit Walter: Von Armut versteht er nichts, nachtkritik.de, 02.02. 2014. Zum Volltext hier klicken.

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Der chinesische Philosoph und Kulturwissenschaftler Byung-Chul Han macht in einer Betrachtung des NSA-Skandals auf den gravierenden Unterschied zu Orwells „1984“ und auf die fatalen Folgen dieses Unterschiedes aufmerksam: „Orwells Überwachungsstaat mit Teleschirmen und Folterkammern ist etwas ganz anderes als das digitale Panoptikum mit Internet, Smartphone und Google Glass, das vom Schein grenzenloser Freiheit und Kommunikation beherrscht ist. Hier wird nicht gefoltert, sondern gepostet und getwittert. Die Überwachung, die mit der Freiheit zusammenfällt, ist wesentlich effizienter als jene Überwachung, die gegen die Freiheit gerichtet ist. Die Machttechnik des neoliberalen Regimes ist nicht prohibitiv oder repressiv, sondern seduktiv. Eingesetzt wird eine smarte Macht. Sie verführt, statt zu verbieten. […] Aber gerade diese gefühlte Freiheit, die Orwells Überwachungsstaat ganz fehlt, ist ein Problem. Sie verhindert den Widerstand.“ Dies sei der „Beginn einer neuartigen Kontrollgesellschaft, die in ihrer Effizienz den Überwachungsstaat von Orwell um ein Vielfaches übertrifft“.
Byung-Chul Han: Im digitalen Panoptikum, Der Spiegel, Nr. 02/2014. Zum Volltext hier klicken.

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„Welche Ziele verfolgt die Regierung mit ihren Einsätzen? Wie begründet sie die Militärinterventionen? Sie begründet sie nicht. Und fast alle sind zufrieden“, schreibt Bettina Gaus und wirft einen Blick zurück: „Dabei müssten die Erfahrungen, die seit mehr als zwei Jahrzehnten mit Militärinterventionen gesammelt wurden, abschreckend wirken. Somalia, Afghanistan, Irak, Libyen: alles Fehlschläge. Und nicht einmal die Lage im Kosovo ist konsolidiert. Dabei wird der Einsatz dort gemeinhin als Erfolg bezeichnet und der damit verbundene Bruch des Völkerrechts achselzuckend als Kollateralschaden hingenommen.“
Bettina Gaus: Wir ziehen in den Krieg, taz, 09.02.2014. Zum Volltext hier klicken.

Das Nashorn, eine Bildbetrachtung*

von Renate Hoffmann

Herr Pietro Longhi
malt ein Tier.
Es lebte hier
vor läng‘rer Zeit,
berühmt im Süden weit und breit.
Aber nicht nur dorten,
auch an anderen Orten!
Sogar in Leipzig auf der Messen
blieb „Jungfer Clara“ unvergessen.

Herr Longhi sah sie in Venedig,
leider ihres Hornes ledig,
das vor kurzem abgefallen.
Der Besitzer zeigt es allen,
die das Nashorntier umstehen
und die Sensation besehen.

„Jungfer Clara“ frisst ihr Heu
und setzt gänzlich ohne Scheu
große Haufen in den Saal.
Das Publikum war ihr egal.

Tier und Maler gibt’s nicht mehr,
denn es ist schon lange her.
Doch der treuen Künstlergilde
bleibt das Nashorn nun im Bilde.

* – Pietro Longhi (italienischer Maler, 1702-1785): Das Nashorn, Öl auf Leinwand, 62 mal 50 Zentimeter.