22. Jahrgang | Nummer 22 | 28. Oktober 2019

Bemerkungen

Der Mann, der in die Kälte ging

Richard Sorge, deutscher Kommunist, war in den Jahren vor und zu Beginn des Zweiten Weltkrieges Moskaus Top-Aufklärer in Ostasien. Durch seine exzellente Verbindung zur Botschaft Nazi-Deutschlands in Tokio konnte er vorab das exakte Datum des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion angeben: den 22. Juni 1941. Doch Stalin glaubte Hitler, mit dem er einen Nichtangriffspakt geschlossen hatte, mehr als den eigenen Genossen.
Die Tragik war eine doppelte. Der sowjetische Blutzoll durch den unerwarteten Überraschungsangriff war ein ungeheurer. Er hätte aber sowieso gezahlt werden müssen, denn Stalin hatte durch seine paranoiden „Säuberungen“ in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre die Rote Armee fast ihres gesamten Korps an erfahrenen Offizieren beraubt.
Schlimmeres verhinderte wiederum Sorge – durch die Information, dass Japan seine weiteren Kriegsanstrengungen auf den pazifischen Raum konzentrieren würde. So konnten jene sowjetischen Divisionen aus dem Fernen Osten abgezogen werden, mit denen Marschall Shukow die deutsche Kriegswalze vor Moskau zum Stehen brachte.
Ein Geheimbericht der USA, verfertigt nach der amerikanischen Besetzung Japans, apostrophierte den von Sorge geleiteten Aufklärungsring als den „vermutlich kühnsten und erfolgreichsten der Geschichte“.
Am 18. Oktober 1941 wurde Sorge in Tokio durch die japanische Geheimpolizei verhaftet. Auf kaum verhüllte Angebote, ihn auszutauschen, reagierten seine Moskauer Auftraggeber auf Weisung Stalins nicht: Man denunzierte ihn vielmehr als deutschen Spion, mit dem die Sowjetunion nichts zu tun habe.
Vor 75 Jahren, am 7. November 1944, wurde Richard Sorge in Tokio hingerichtet. (Die Sowjetunion ehrte ihn postum erst 20 Jahre später, am 5. November 1964, mit dem Titel „Held der Sowjetunion“.)
Wir neigen unser Haupt in Ehrerbietung und Trauer.

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Gorki in Saarow

Ich mag den Kisch ja sehr. Und man muss Egon Erwin Kisch schon sehr mögen, um ihm ein denunziatorisches Elaborat wie den Artikel „Bekanntschaft mit Maxim Gorki“ durchgehen zu lassen. Er veröffentlichte ihn am 22. März 1928 in der Roten Fahne. Pünktlich zum Auftakt des Schachty-Prozesses: Von 53 angeklagten „bürgerlichen Spezialisten“ aus dem Donezbecken wurden elf zum Tode verurteilt, fünf davon wurden hingerichtet. Kisch berichtet im erwähnten Text von seinem Besuch bei Maxim Gorki in Saarow im Januar 1923. Gorki hielt sich von September 1922 bis Juni 1923 im märkischen Kurort auf. In der DDR wurde gerne darauf verwiesen, dass er am Scharmützelsee vor allem auf den heilenden Effekt der Kuranlagen gegen seine Tuberkuloseerkrankung hoffte. Christa Ebert korrigiert diese Legende in ihrem „Frankfurter Buntbuch“ über Maxim Gorkis Saarower Aufenthalt. Lenin habe Gorki zwar geraten sich auszukurieren und auf die Abreise gedrängt – aber um den „unbequemen Schriftsteller aus dem Kreis der Macht zu entfernen“, schreibt die Autorin. Gorki war strikter Gegner des bolschewistischen Terrors und verglich das Vorgehen auch Lenins und Trotzkis in der Zeit des „Roten Terrors“ mit dem menschenverachtenden Tun des Anarcho-Nihilisten Sergej Netschajew. Der spielt in literarisierter Form eine wesentliche Rolle in Dostojewskis Roman „Die Dämonen“. Und – zurück zu Kisch – im Juli 1922 lief in Moskau der Schauprozess gegen 34 Sozialrevolutionäre, die wegen des Attentats auf Lenin angeklagt waren. Auch in diesem Prozess fielen bereits elf Todesurteile. Die Vollstreckung wurde jedoch von Nikolai Bucharin und Karl Radek ausgesetzt. Der Druck zahlreicher mit Sowjetrussland sympathisierender westlicher Intellektueller, aber auch aus Kreisen der III. Internationale, war einfach zu stark. Lenin schäumte: „Wir haben zu teuer bezahlt.“ Gorki wiederum hatte an Alexej Rykow geschrieben: „Falls der Prozess gegen die Sozialrevolutionäre mit Hinrichtungen endet, so ist das der Beweis dafür, […] dass das Ganze ein schändlicher Mord war.“ Rykow, damals stellvertretender Vorsitzender des Rates der Volkskommissare, fiel den „Säuberungen“ 1938 selbst zum Opfer.
Kischs Besuch war ein Kontrollbesuch, sein Artikel in der KPD-Presse zum Beginn des zweiten Schauprozesses einige Jahre vor der „Großen Säuberung“ kein Zufall. Er wollte 1923 herausfinden, so schreibt er jedenfalls, ob Gorki sich wirklich mit „Emigranten-Geschmeiß“ umgeben habe und zum Gegner der Diktatur des Proletariats geworden sei. Majakowskis „Linken Marsch“ parodierend, lässt er den Dichter am Ende seines Berichts erklären: „Nein, nein, ich schreite nicht rechts aus …“ Was wirklich in Saarow ablief, wie Maxim Gorki zur sehr heterogenen russischen Emigration jener Zeit stand – das beschreibt Christa Ebert sachkundig und eindrucksvoll. Der Ort selbst hinterließ in dessen Werk keine Spuren. Aber „der Besuch des berühmten Russen hat das beschauliche Saarow für kurze Zeit mit einer Welt verbunden, von der es bis dahin wenig wusste“, schreibt die Autorin.

Wolfgang Brauer

Christa Ebert: Maxim Gorki in Saarow 1922/23 (Frankfurter Buntbücher 33), Kleist-Museum / Verlag für Berlin-Brandenburg, Frankfurt (Oder)/Berlin 2019, 32 Seiten, 8,00 Euro.

Jeder Tag ist zum Feiern da

Internationaler Frauentag … Tag der Mitarbeiter des Handels … Tag des Lehrers … Tag des Gesundheitswesens … Jeder ehemalige DDR-Bürger kennt wohl die Ehrentage, an denen Orden für ausgezeichnete Leistungen, Urkunden für Dienstjubiläen oder wenigstens Blumensträuße oder Buchprämien unter die Werktätigen gestreut wurden. Waren die zahlreichen Anlässe für Festakte und Feierlichkeiten noch halbwegs überschaubar, so sind heute alle Tage des Jahres irgendeinem Anlass gewidmet, und das meist mehrfach. Sie erinnern an denkwürdige historische Ereignisse oder an ein politisches Anliegen, doch meist sind es belanglose, ja groteske Anlässe – vom Krümel-auf-der-Tastatur-Tag bis zum Tag der fliegenden Milchkuh oder Welt-Seifenblasen-Tag.
Julia Otterbach und Alexandros Stefanidis haben sich die unendliche Mühe gemacht, die weit über tausend Anlässe in einem Welttagebuch zusammenzutragen. Da lernen wir gleich zu Beginn, dass am 1. Januar nicht nur das neue Jahr beginnt, sondern auch Verschenk-einen-Apfel-Tag und Tag des Buchstabens Z (wie einleuchtend) ist. Und wer bisher glaubte, der 1. Mai sei Tag der Arbeit, der hat nur zum Teil Recht, denn der erste Maitag ist unter anderem auch Tag der Besitzer eines neuen Eigenheims.
Zu verschiedenen Welttagen erzählen die Autoren auch Geschichten und Anekdoten. So wollten 1998 zwei britische Hausfrauen aus Manchester ein Zeichen gegen das Verschwinden von Socken setzen und riefen den Lost Socks Memorial Day (Gedenktag der verlorenen Socke) ins Leben. Fortan wird jedes Jahr am 9. Mai der vielen voneinander getrennten Sockenpaare gedacht. Oder können Sie sich noch an Bruno erinnern? Der Problembär, der als erster Braunbär 2006 die Reisefreiheit des Schengen-Raums nutzte und von Italien nach Deutschland wanderte, wo er schließlich abgeschossen wurde. Ausgestopft steht er heute in einem Münchner Museum. Am Bärengedenktag (26. Juni) wird an ihn erinnert.
Einen weniger tragischen Hintergrund haben andere Bärentage wie der Nimm-Deinen-Teddybär-mit-zur-Arbeit-oder-Schule-Tag (jeweils am zweiten Mittwoch im Oktober). Wer mit Bären überhaupt nichts am Hut hat, der kann am 26. Juni auch den US-amerikanischen Tag des Schokoladenpuddings feiern.
Der 21. März ist der Tag mit den meisten Welttagen – vom Welt-Tattoo-Tag bis zum Tag der gesunden Dicken. Da muss man sich den Tag gut einteilen, um jeden Anlass (immerhin 16) zu würdigen. Ganz verrückt wird es am 4. Juli, der gleichzeitig Spareribs-Tag und Iss-kein-Fleisch-Tag ist – also eine gegenseitige Kriegserklärung. Im Dezember wird fast an jedem Tag an das bevorstehende Fest der Geschenke erinnert: Tag der Weihnachtskarte (9.12.), Lebkuchenhaus-Tag (12.12.) oder Hole-deinen-Christbaum-Tag (19.12.). Schließlich kann man Silvester mit dem Tag des Champagners richtig die Sau rauslassen mit knallenden Korken und Feuerwerk.
Noch ein paar interessante Beispiele, die man sich unbedingt merken sollte: Internationaler Dankeschön-Tag (11. Januar), Plane-deine-Grabschrift-Tag (6. April) Umarme-deinen Chef-Tag (im September) oder (aufgepasst liebe Kinder) Keine-Hausaufgaben-Tag (6. Mai). Wann gibt es endlich einen Blättchen-Tag?

Manfred Orlick

Alexandros Stefanidis und Julia Otterbach: Das Welttagebuch. Benevento Verlag, Salzburg-München 2019, 248 Seiten, 18,00 Euro.

WeltTrends aktuell

Die westliche Nachbarschaft ist für Polen nicht einfach, aber jene mit den östlichen Partnern ist deutlich schwieriger. Besonders groß scheint der Widerspruch mit Russland. Und da kommt Deutschland in den Blick, das strategische Interessen gegenüber Russland hat, die mit denen Polens nur schwer vereinbar sind, konstatieren die polnischen Autorinnen und Autoren im Thema, das von Krzysztof Malinowski vom West-Institut Poznań als Gastherausgeber gestaltet wurde.
Ein Streitpunkt zwischen Deutschland und Polen ist Nord Stream 2. Im Gastkommentar setzt sich Klaus Ernst, Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Wirtschaft und Energie, mit dem Gerangel um die neue Pipeline auseinander.
Der diesjährige Friedensnobelpreis geht an den Ministerpräsidenten Äthiopiens, Abiy Ahmed. Dort vollzieht sich eine Revolution von oben. Die Schwierigkeiten bei der Überwindung patriarchalischer Strukturen sind Gegenstand der Reportage von Stephanie von Aretin über emanzipierte Frauen in Äthiopien.
Der Drohnenangriff auf saudische Erdölanlagen verschärft die Lage im Persischen Golf nicht nur, schreibt Hans-Jochen Luhmann im WeltBlick, er könnte auch Konsequenzen für künftige Kriege haben, sowohl technische als auch rechtliche.

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WeltTrends – Das außenpolitische Journal, Heft 157 (November) 2019 (Schwerpunktthema: „Polen und sein Osten“), Potsdam / Poznań, 4,80 Euro plus Porto. Weitere Informationen im Internet.

Aus anderen Quellen

Wo Wachstum zum zentralen Ziel aller Politik werde, diese Auffassung vertrat Erhard Eppler – einer der bedeutendsten Vordenker der SPD – sei die Rutschbahn zum Marktradikalismus gebaut. Wachstum als generelles Ziel führe zum Primat der Ökonomie über eine Politik, deren Pflicht dann darin bestünde, die wirtschaftlich Mächtigen bei Laune zu halten.
Nun ist Erhard Eppler tot. Udo E. Simonis hat ihm einen sehr lesenswerten Nachruf gewidmet.
Udo E. Simonis: „Gedankenvoll, sprachgewandt, friedliebend“, ipg-journal.de, 21.10.2019. Zum Volltext hier klicken.

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Katrin Bischoff schreibt: Renate „Künast hatte vor Gericht erreichen wollen, dass Facebook und Twitter die Urheber von insgesamt 22 Hasskommentaren offenlegen. Um dann gegen sie klagen zu können. Per Beschluss urteilten die drei Richter, solch haarsträubende Äußerungen wie etwa ‚Drecks Fotze‘ seien keine Beleidigungen.“ Und Heribert Prantl vermerkte zur gleichen Causa: „Es ist dies ein Richterspruch, der die liberale Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Meinungsfreiheit in den falschen Hals gekriegt hat; es ist dies ein Richterspruch, der vor lauter unverdauter Formeln des höchsten Gerichts, die fleißig zitiert werden, das Grundgefühl für die Ehre und die Achtung eines Menschen verliert.“
Katrin Bischoff: Haben Berliner Richter mit zweierlei Maß geurteilt?, berliner-zeitung.de, 27.09.19. Zum Volltext hier klicken.
Heribert Prantl: Prantls Blick – die politische Wochenschau,
sueddeutsche.de, 29.09.2019. Zum Volltext hier klicken.

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Einen Artikel aus der ZEIT, in dem erklärt wird, „dass der russische Rüstungsetat zwar sogar kleiner ist als der französische, aber trotzdem ganz doll gefährlich“, hat Thomas Röper aufgespießt und im Detail seziert, „wie das geht“.
Thomas Röper: „Die Russen kommen!“, rubikon.news, 03.09.2019. Zum Volltext hier klicken.

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New York, 5. Juni 1962: „Nicht der Regierende Bürgermeister Willy Brandt, sondern Willy Kressmann, der Bezirksbürgermeister von Kreuzberg“, daran erinnerten jüngst Jan Draeger und Michael Link, „betritt […] die Bühne der Welt […]. In West-Berlin leiden sie alle unter dem Mauerbau von 1961. Willy Brandt im Rathaus Schöneberg […] genauso wie Willy Kressmann im Bezirksamt Kreuzberg. Willy Brandt ist noch ganz Kalter Krieger, nur im stillen Kämmerlein denken Brandt und sein Berater Egon Bahr über so etwas wie eine neue Ostpolitik nach. Der andere Willy, Kressmann, ist da schon viel weiter. […] zehn Monate nach dem Mauerbau in Berlin spricht er in New York vor geladenen Gästen über seine Heimatstadt: über die Mauer, über die erstarrten Blöcke im Kalten Krieg, über das Verhältnis zur DDR und eine Wiedervereinigung.“
Jan Draeger / Michael Link: Bezirksbürgermeister Kressmanns neue Ostpolitik, deutschlandfunkkultur.de, 27.09.2019. Zum Volltext hier klicken.

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Als sich im Bundestag ein parteiübergreifender (Linke, SPD, Grüne) „Parlamentskreis Atomwaffenverbot“ gründete, wurde dies in den Medien praktisch komplett totgeschwiegen. „Die Nachrichtensperre ist so dicht,“ hielt Peter Feininger fest, „dass auch linke Medien nichts davon mitbekommen haben.“ Das müsse zu denken geben, denn: „Immerhin treten diese Bundestagsabgeordneten gegen die Kriegsvorbereitungen gegen Russland an und gegen die Kriegsdrohungen gegen den Iran, bei denen auch die nukleare Abschreckung eine immer bedrohlichere Rolle spielt. Stattdessen vertreten die Abgeordneten das Ziel eines generellen Atomwaffenverbots und verlangen, dass Deutschland den UN-Vertrag für ein Atomwaffenverbot unterzeichnet. Damit wäre auch die sogenannte nukleare Teilhabe Deutschlands hinfällig – also die Lagerung von Atomsprengköpfen in Büchel, ihre Modernisierung und ihr Einsatz mit deutschen Piloten und Bombern.“
Peter Feininger: Frieden im Bundestag, rubikon.news, 24.09.2019. Zum Volltext hier klicken.

Letzte Frage

„Um den Fortgang der Dinge dort beeinflussen zu können, brauchen wir kritischen Dialog, keine Ausgrenzung.  […] Ein Dialog ist schwierig, aber die einzige Chance.“
Wer sagte dies jüngst?
Bundeskanzlerin Angela Merkel im Hinblick auf das Verhältnis des Westens zu Russland?
Oder Dirk Hoke, Chef der Airbus-Rüstungssparte, im Hinblick auf die von ihm abgelehnte Aussetzung der deutschen Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien?

Alfons Markuske