21. Jahrgang | Nummer 17 | 13. August 2018

Bemerkungen

Kennziffer des Größenwahns

Im schnellsten Durchlaufverfahren der letzten 20 Jahre und in vorbildlicher Einmütigkeit von Republikanern und Demokraten – Senat: mit 87 zu 10 Stimmen, Repräsentantenhaus mit 359 zu 54 Stimmen – hat der Kongress der USA den Militärhaushalt für 2019 bewilligt: nach 611 Milliarden Dollar für 2017 und knapp 660 Milliarden für 2018 nunmehr 717 Milliarden. Das ist mehr als die acht nächstgrößeren Rüster (Saudi-Arabien, Russland, Indien, Frankreich, Großbritannien, Japan und Deutschland) zusammen verpulvern.
Da darf man natürlich erwarten, dass die Welt zu einem noch sehr viel sichereren Ort werden wird:

  • durch noch mehr Rettung von Freiheit und Demokratie – wie in Afghanistan, Irak und Libyen;
  • durch noch mehr militärische US-Präsenz und -Kriegsspiele an der NATO-Ostflanke und in Russland umgebenden internationalen Gewässern;
  • durch Stationierung neuer Kernwaffen vom Typ B61-12 mit strategischen Fähigkeiten in Deutschland und vier weiteren europäischen NATO-Staaten;
  • durch miniaturisierte Nukleargefechtsköpfe für U-Boot-gestützte Trident II-Interkontinentalraketen;
  • durch die von Trump gewollte militärische Weltraumtruppe;
  • durch – na und so weiter und so fort …

Wer „La cage aux folles“ (Ein Käfig voller Narren) bisher nur für eine leidlich amüsante Filmkomödie gehalten haben sollte, dem dürfte bei der Betrachtung des USA-Kongresses das Lachen im Halse stecken bleiben.

Sarcasticus

Kurze Notiz zu Halle

In Halle prügelten sich vor kurzem etwa zwanzig Personen. Erschreckender als die blutigen Details ist der Zeitpunkt dieses martialischen Miteinanders: die Nacht zum Montag. Die Vermutung liegt nah, dass die Beteiligten allesamt den Luxus genießen, die Woche nicht mit einem Arbeitstag beginnen zu müssen. Wer würde es schon riskieren, vollkommen übermüdet und frisch verbläut im Büro aufzutauchen?
Diese kleine Impression wirft die Frage auf, wie es um Halle, die größte Stadt Sachsen-Anhalts, eigentlich steht. Für das Land insgesamt lassen sich schnell ein paar beeindruckende Angaben ermitteln: Sachsen-Anhalt umfasst knapp sechs Prozent des deutschen Staatsgebiets, steuert bei 2,6 Prozent der Bundesbevölkerung aber nur knapp zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts bei. Das Land hat die höchste Arbeitslosenquote und die höchste Pro-Kopf-Verschuldung, erlebte seit der Wiedervereinigung das niedrigste Wirtschaftswachstum und den größten Bevölkerungsrückgang unter den fünf ostdeutschen Flächenländern. Das Durchschnittsalter – im Bund das höchste – liegt bei 47,4 Jahren und damit drei Jahre über dem Bundesdurchschnitt. Kurz: Mit Blick auf sämtliche Transferleistungen, die sich der Sozialstaat ausgedacht hat, ist Sachsen-Anhalt der Albtraum von Bund und Bayern.
Und Halle? Wirtschaftskraft sieht anders aus: Unter 381 deutschen Gemeinden belegt die Saalestadt Platz 330, weit abgeschlagen nicht nur von ihrem Speckgürtel, dem Saalekreis (Platz 264), sondern auch von der Landeshauptstadt Magdeburg (Platz 265). Irgendwie kommt Halle nicht so richtig auf den grünen Zweig, obwohl doch die Verkehrsanbindung günstig, obwohl die Stadt doch ein Zentrum von Forschung und Wissenschaft ist.
In Halle selbst geht es kleinteiliger zu: Dauerbrenner und -aufreger sind die wirtschaftliche Belebung des Boulevards, der vom Markt zum Bahnhof führt, und die Errichtung eines Hochwasserschutzes entlang der Saale. In intellektuellen Kreisen grassiert eine Identitätskrise: Ist man nun Saalestadt, Händelstadt, Salzstadt oder etwas ganz anderes? Nachdem die hiesigen Franckeschen Stiftungen nicht zum UNESCO-Welterbe erhoben worden sind, ist die Selbstfindung wieder vollkommen offen, nur eins gilt: Es muss besser sein als alles, was Magdeburg auffahren könnte.
In der Bevölkerungsbasis entwickelt sich Halle derweil immer mehr auseinander: Kaum eine Stadt im Osten ist sozial so sehr getrennt wie die Saalestadt: Man wohnt unter seinesgleichen und schottet sich gegen den Rest ab. Die Stadt wird darüber zu einem immer abstrakteren Gedanken und zerfällt in Viertel, die eigene Bräuche entwickeln. Noch wächst Halle, weil die Dörfer jenseits des Speckgürtels sterben. Aber es wächst nicht zusammen. Und eine Perspektive erwächst aus all dem auch nicht.

Thomas Zimmermann

Sommer

Im heißen Sommer ist ein Rentnerdasein zu genießen. Im Schatten unter einem Baum in den Himmel gucken, Sudokus lösen, lesen… So kann man die Hitze ertragen. Ok, es muss auch gegossen werden. Die himmlische Ruhe wird nur ab und an durch Rasenmäher unterbrochen. Vogelstimmen, auch recht laute, zähle ich zum Idyll. Am Himmel tummeln sich die Schwalben. Neulich haben sie gemeinsam einen Falken vertrieben. Ein spannendes Schauspiel über die Kraft der Schwachen.
Vier Kraniche begutachten den Garten im Tiefflug. Sie sind in den Wiesen vorm Dorf zu Hause, begrüßen jeden Tag mit ihren Schreien. Ich interpretiere immer einen Gruß an mich hinein und wünsche per Gedanken einen guten Morgen. Ein Storch inspiziert seit Tagen die Gegend, ist aber noch nicht ansässig. Auf Nachbars Dach spreizt sich ein Wiedehopf mit seiner Schönheit. Aber er ist nicht zuverlässig, macht sich rar. Vielleicht mag auch er die Hitze nicht.
Abends füllt sich mein Hotel Spatz. Eine mit Russischem Wein bewachsene hohe Gartenmauer, die Rückseite von Nachbars Scheune, fängt an zu leben. Es gibt Streit um die Zimmer, immer wieder wird ein Spatz herauskomplimentiert und beschwert sich bitter. Er sucht ein neues Zimmer und es gibt laute Zwitscherdiskussionen. Vielleicht wird in einigen Zimmern ja auch ordentlich gefeiert. Ich stelle mir die gestresste Rezeption des Spatzenhotels vor, die zahlreichen Beschwerden, wenn das Zimmer nicht zum Spatzen passt. Gegen acht Uhr zieht schließlich Ruhe ein. Leises Zwitschern sind wohl die Gute-Nacht-Lieder für Spatzenkinder. Gegen neun sind dann auch die Schwalben nicht mehr am Himmel zu sehen. Sie haben Platz gemacht für die Nachtschicht, Fledermäuse. Zeit für mich, ins Haus zu gehen.
Das Sommeridyll endet jeweils mit den Nachrichten.

Margit van Ham

Medien-Mosaik

Es kann einem schon kalt über den Rücken laufen – so nah ist Wolfgang Fischers Film „Styx“ (nach dem mythischen todbringenden Fluss) an unserer Realität. Die großartige Susanne Wolff spielt eine Ärztin, die in ihrem Urlaub von Gibraltar aus mit einem Motorsegler allein in See sticht und unterwegs mit einem überladenen Flüchtlingsboot in Seenot konfrontiert wird. Allein kann sie nicht helfen, aber die Küstenwache weist sie ab. Man kann oder will den Tod von hundert Schiffbrüchigen nicht verhindern. Andere, größere Schiffe fahren vorüber, haben jedoch strikte Anweisung, den Sterbenden nicht zu helfen. Als die Heldin wenigstens einen 14-jährigen Flüchtling an Bord nimmt, kehrt sich ihre Hilfsbereitschaft gegen sie. Hier wird der Film, der auf der Berlinale mit dem Heiner-Carow-Preis ausgezeichnet wurde, problematisch. Schließlich versinkt die Gerettete in Schwermut – kein konstruktiver Schluss! Bemerkenswert sind sowohl die Kameraarbeit von Benedict Neuenfels, der dem auf weite Strecken einzigen Handlungsort, dem Motorsegler, immer neue Sichten abgewinnt, als auch die Tongestaltung von Uwe Dresch, der statt Musik eine stimmige Geräuschkulisse zaubert.
Styx, D/Ö 2017. Regie Wolfgang Fischer, Zorro Filmverleih, seit 9.8. in ausgewählten Kinos.

*

Wer Siegfried Kühns Meisterwerke liebt wie „Das zweite Leben des Friedrich Wilhelm Georg Platow“ (1973), „Kindheit“ (1987) oder „Die Lügnerin“ (1992), die er bei der DEFA drehte, weiß, dass der Regisseur und Autor ein Mann der skurrilen Überhöhung ist. Als der erweist er sich auch in seinem zweiten Buch, der autobiografischen Satire „Die Erdorgel oder Wunderbare abgründige Welt“, die im Frühjahr erschien. Autobiografie und Satire gehen tatschlich bis zu einem gewissen Grade zusammen. Die meisten der Personen verfremdet Kühn, sich selbst sieht er als Friedrich in dieser „wahrheitsliebenden Lügengeschichte“. Doch wer zwischen den Zeilen zu lesen versteht, sieht, dass der Autor immer eng an der Wahrheit bleibt, besonders was Friedrich-Siegfrieds Jugendjahre betrifft. Tatsächlich war er bei der Oma-Mutter auf dem Dorf aufgewachsen und arbeitete als junger Mann im Bergbau. Aus dieser Sphäre stammt auch der Titel des Buches. Wer mehr über die Entstehung der meisten Kühn-Filme lesen möchte, wird allerdings enttäuscht. (Dem „Platow“-Film hatte Kühn sein erstes Buch gewidmet.) Manches kann man sich zusammenreimen, und viele Namen sind auch ironisch verfremdet. Da wird Einiges zur bösen Abrechnung. Vorgesetzte wie der DDR-Filmminister Horst Pehnert („Zweigesicht“), die Kritikerin Renate Holland-Moritz (hier „Müller-Turgau“ genannt) oder Regie-Kollege Lothar Warneke („Manne“) bekommen da schon einen großen Tiegel Fett weg, wobei aufgrund selbstverliebter Flunkereien nie so genau klar wird, was Wahrheit, was Fiktion ist. Das bezweckte Kühn auch, dem man die Freude beim Schreiben anmerkt.
Siegfried Kühn: Die Erdorgel oder Wunderbare abgründige Welt. Verlag Neues Leben, Berlin 2018, 224 Seiten, 19,99 Euro.

bebe

Bella ciao

„O bella ciao, bella ciao, bella ciao ciao ciao“ – der italienische Dauer-Ohrwurm tönt derzeit allenthalben aus den Radios und sprengt bei YouTube die Rekorde. Der Bundesverband der Musikindustrie kürte den „Bella Ciao“-Remix des französischen DJs Hugel zum Sommerhit 2018. Neue Berühmtheit erlangte der Song auch durch die Netflix-Serie „Haus des Geldes“, in der er zur inoffiziellen Kanzone der Einbrecher wird.
Dass der Song einen ernsten Ursprung hat, weiß jeder DDR-Bürger, der zu Wendezeiten mindestens Jugendlicher war, denn als Lied italienischer Partisanen war der Song unter der DDR-Jugend sehr beliebt.
An sich ist „Bella ciao“ schon über 100 Jahre alt und war ursprünglich ein Arbeiter- und Protestlied, gesungen von Reispflückerinnen, die damit die harten Arbeitsbedingungen beklagten. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Lied von italienischen Partisanen umgetextet, die es als Kampflied verwendeten und zur Hymne der Widerstandsbewegung gegen den Faschismus machten. Seither entwickelte sich „Bella Ciao“ auch zur beliebten Melodie auf linken Demonstrationen.
Von den Geschehnissen im Partisanenkrieg handelt Diether Dehms 2015 erschienener Roman „Bella ciao“. Der erzählt die Ereignisse als Geschichte des unbekannten Dichters eines weltbekannten Liedes. Sie handelt von der Freundschaft zweier Jungen, die auseinanderbricht, als beide, von der Suche nach Gerechtigkeit getrieben, entgegengesetzte Wege einschlagen: der eine, Attila, geht zu den Schwarzhemden und lässt sich bedenkenlos auf die faschistischen Ideen ein; der andere, Renzo, schlägt sich auf die Seite der Partisanen im Ossola-Tal, vereint zwar mit ihnen im Kampf gegen die Faschisten, aber misstrauisch beäugt wegen seiner Auffassungen darüber, wie es weitergehen soll in Italien nach dem Sieg. Im tödlichen Kampf um Italiens Befreiung treffen Renzo und Attila aufeinander. Von den Opfern, die der Kampf forderte, spricht nicht zuletzt Renzos Lied „Bella ciao“.
Den Roman gibt es auch als Hörbuch – von Peter Sodann auf beeindruckende Weise eingelesen.

hh

Dieter Dehm: Bella ciao, Das Neue Berlin, Berlin 2015, 400 Seiten, 16,99 Euro.
Peter Sodann liest „Bella ciao“. Partisanen am Lago Maggiore, Das Neue Berlin, Berlin 2017, 2 CDs (mp3), 29,99 Euro.

Zufall oder Fügung?

Man kann sich sicher etwas Angenehmeres vorstellen, als bei gefühlten 40 Grad oder mehr auf dem Dachboden herumzustöbern. Doch wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe, können mich auch Hitze und Schwüle nicht abhalten. Ich war auf der Suche nach einem alten Schmöker. Hier oben fristen meine Bücherschätze aus der Jugendzeit seit einem gefühlten halben Jahrhundert ihr staubiges Dasein – vom Reclam-Heft bis zum Lehrbuch.
Die schweißtreibende Suche war jedoch vergeblich … Stattdessen fiel mir ein ziemlich lädiertes Taschenbuch in die Hände. Scheinbar hatte ich es mehrmals gelesen. Ein Krimi aus der DDR-Buchreihe DIE (Delikte – Indizien – Ermittlungen): „An einem Tag wie jeder andere“ des US-amerikanischen Schriftstellers Joseph Hayes (1918–2006) – englischer Originaltitel „The Desperate Hours“ (1954).
Eigentlich war ich nie ein besonderer Krimi-Fan. Aber das Buch ist ja auch kein Krimi. Kein Mord, kein Raubüberfall, nicht einmal ein Diebstahl. Nur ein Gefängnisausbruch. Drei entflohene Sträflinge dringen mit ihrem Anführer Glenn Griffin in eine Vorortvilla ein und nehmen die gutbürgerliche Familie Hilliard gewissermaßen in Geiselhaft. Die bewaffneten Gangster warten auf Geld, das für die weitere Flucht notwendig ist und das Griffins Freundin besorgen soll. In den folgenden zwei Tagen entwickelt sich in dem Haus eine Hochspannung aus Gewalt und Angst zwischen den Geiselnehmern und den Hilliards, die ihren familiären Normalalltag aufrechterhalten sollen. Äußerlich soll es weitergehen wie an jedem anderen Tag. Die Spannung des Romans lebt vor allem vom Aufeinanderprallen der beiden Kontrahenten, des patriarchalisch geprägten Familienvaters Dan Hilliard und des aufs Ganze gehenden Glenn Griffin. Ein Psychokrieg in vier Hauswänden.
Die Dachbodenschwüle war vergessen, ich vertiefte mich in einige Romanpassagen. Dabei fiel mir auch die Verfilmung des Krimis (1955) ein, die ich irgendwann einmal im Fernsehen gesehen hatte. Mit Humphrey Bogart als Glenn Griffin und Frederic March als Dan Hilliard. Bogart spielte darin meisterhaft den Schurken Griffin, der nichts zu verlieren hat. Aber trotz seines abgrundtiefen Hasses gegen alles Bürgerliche hat er sich doch etwas Menschliches bewahrt. Es sollte übrigens Bogarts letzter Film sein, denn er starb am 14. Januar 1957 im Alter von 57 Jahren.
Sein Gegenspieler wurde von Frederic March (1897–1975) verkörpert, der mit zwei Oscar-Verleihungen und drei Nominierungen in den 1930er bis 1950er Jahren zu den angesehensten und meistbeschäftigten Schauspielern der USA gehörte. Im Laufe der Handlung wird er vom normalen Familienvater zum ebenbürtigen Partner seines skrupellosen Kontrahenten. Obwohl dieser Zweikampf im Zentrum des Dramas steht, zeichnet der Roman auch ein kritisches Porträt der damaligen amerikanischen Gesellschaft.
Zurück zum Autor. Im etwas kühleren Arbeitszimmer forschte ich im Internet. Joseph Hayes war in den 1950er Jahren mit seinen Romanen, Theaterstücken und Drehbüchern ein überaus erfolgreicher Schriftsteller (mitunter gemeinsam mit seiner Frau Marrijane), vielfach mit dem Prädikat „Bestsellerspezialist“ versehen. Für „The Desperate Hours“ schrieb er neben einer Bühnenfassung auch das Filmdrehbuch. Doch dann traute ich meinen Augen nicht: Am 2. August war doch tatsächlich der 100. Geburtstag von Hayes. War mein überraschender Bücherfund nun purer Zufall oder hellseherische Fügung? Egal! Wichtiger war die Information, dass im Vorjahr im S. Fischer Verlag immerhin neun Hayes-Titel erschienen sind. Eine vorfristige Hommage? Für die bevorstehenden langen Herbst- und Winterabende jedenfalls ein genügend großer Lektürevorrat.

Manfred Orlick

Ein gewichtiges Jena-Buch

Nach sechsjähriger Arbeit wurde im Sommer 2018 in der Saalestadt, die vor allem durch Carl Zeiss und den Physiker Ernst Abbe zu Weltruhm gelangte, ein beachtliches Stadtlexikon vorgelegt. Auf 888 Seiten wird die Geschichte Jenas von der Altsteinzeit über die Ersterwähnung in den späten 890er Jahren bis ins Jahr 2010 dargestellt. Die 1271 quellenkritisch durchgesehenen „Einträge“ wurden von 260 Autoren erarbeitet, in der Mehrzahl ausgewiesene Wissenschaftler. Es galt, die politische, geistes- und technikgeschichtliche Entwicklung Jenas ausgewogen darzubieten. Ausgewogen hieß auch, das Verhältnis zwischen Sach- und Personeneinträgen sinnvoll zu gewichten. Die Herausgeber um den Stadthistoriker Rüdiger Stutz entschieden sich, nur Personen aufzunehmen, die für längere Zeit ihren Lebensmittelpunkt in der Universitätsstadt hatten. Der Leser findet nur Einträge zu verstorbenen Persönlichkeiten. So erklärt sich (kurzer Exkurs in die Geschichte der Sportstadt), dass man den Fußballer Roland Ducke findet, den bekannteren jüngeren Bruder Peter aber nicht.
Hervorzuheben ist die Bildregie des in jeder Hinsicht gewichtigen Nachschlagewerks, das 3,5 Kilogramm auf die Waage bringt. Unter der Leitung von Birgit Hellmann vom Stadtmuseum werden Dokumente präsentiert, die meist einen tatsächlichen Stadtbezug haben. Etliche der 1100 (!) Abbildungen werden erstmals gezeigt.
1975, lesen wir, wurde Ina Kutzschbach als die 100.000. Einwohnerin Jenas geboren. Sie erhielt viele Geschenke, von der Stadt einen Scheck für die Ausstattung eines Kinderzimmers. Das einst anheimelnde Jena war fortan eine Großstadt. Die zentrale Rolle des Zeiss-Kombinats zog Spezialisten aus der gesamten DDR an. Für sie musste schnell Wohnraum geschaffen werben. So entstanden in den 60er und 70er Jahren die Wohngebiete Neulobeda West und das schöner angelegte Neulobeda Ost. Ortsfremde sehen diese Neubaugebiete von der Autobahn aus und halten sie schlechthin für Jena.
Acht Jahre später, am 23. November 1983, kam Erich Honecker nach Jena und teilte dem Oberbürgermeister mit, dass er den Wunsch des Erlanger Amtskollegen nach einer Städtepartnerschaft unterstütze. (Diese Partnerschaft hat sich auch bei der Erarbeitung des Lexikons günstig ausgewirkt.) Im Gespräch mit Zeiss-Generaldirektor Wolfgang Biermann betonte Honecker 1983 die immense politische Bedeutung der Mikrochips für die DDR-Wirtschaft. Trotz mancher Fortschritte in Jena war indes spätestens 1989 klar, dass die DDR auch auf diesem Felde den führenden westlichen Staaten unterlegen war.

Rüdiger Stutz und Matias Mieth (Hrsg.): Jena – Lexikon zu Stadtgeschichte. Tümmel-Verlag, Nürnberg 2018, 888 Seiten, 50,00 Euro.

Ulrich Kaufmann

Ideenquellen für das Gedankenkino

Musik hören, könnte man in leichter Abwandlung eines Bonmots von Walther Rathenau schreiben, heißt vergleichen. Der musikalische Nullpunkt ist für einen Musikrezensenten älteren Semesters längst passé.
Doch eine musikalische Einordnung ist per se weder eine Unterordnung noch eine Abqualifizierung. Welche musikalischen Assoziationsquellen erschließen sich bei der Band A Prouder Grief? Musikgruppen wie Camel, Iron Butterfly oder die frühen Scorpions scheinen artverwandt. Aber A Prouder Grief ist keine eklektizistische Band, die sich mit der Anlehnung an solche Bands begnügt. Sie setzten eigene akustische Duftmarken auf der großen Spielwiese des „Prog-Rocks“.
Progressive Rock ist eine Musikart, die sich nicht auf simple 3-Minuten-Melodien fokussiert. Einflüsse von Jazz und Klassik erweitern das Melodienspektrum. Keith Emerson von der Progrock-Legende Emerson, Lake und Palmer hatte einst dieses Genre wie folgt definiert: „Es ist Musik, die fortschreitet. Sie nimmt eine Idee und entwickelt sie, statt sie einfach zu wiederholen.“
Und so verschmelzen auch bei A Prouder Grief Elemente aus verschiedenen Rock-Stilen (Krautrock, Psychedelic Rock …) mit jazzigen und klassischen Anleihen.
Das Quartett spielt auf zwei Gitarren, Wurlitzer, Bass und Schlagzeug. Hin und wieder taucht eine Violine als musikalisches i-Tüpfelchen auf.
Musik als namenloses Kollektiv? Namen sind Schall und Rauch in der kurzen Presseinformation des CD-Labels. Und auf einem bei Youtube eingestellten Film, ein Konzertmitschnitt vom letztjährigen Bardentreffen in Nürnberg, zeigen sich die Musiker nicht erkennbar, weil sie Masken und Kapuzen tragen. Eine postpubertäre Spinnerei? Der dezente Hinweis, sich auf das musikalische Wirken der Band zu konzentrieren?
Ihre instrumentalen Lieder beweisen einen facettenreichen Groove, der von 7/8 bis 13/8 reicht. Sie könnten auch als Filmmusik zum Einsatz kommen … oder als musikalische Umrahmung und Ideenquelle für das eigene Gedankenkino.
Ich wage die Prognose, dass sie ihr kreatives Potential noch nicht ausgeschöpft haben.

A Prouder Grief: „A Golden Boat”. Label: Bekassine Records, April 2018, circa 16 Euro.

Thomas Rüger

WeltTrends aktuell

Die „Abschreckung“ ist durchaus keine Erfindung unserer Zeit, bereits die Römer sprachen von „si vis pacem, para bellum“. Mit der besonderen Gefährlichkeit dieser Konzeption unter den Bedingungen des Nuklearzeitalters setzt sich das August-Heft des außenpolitischen Journals auseinander. Nicht „nukleare Abschreckung“ kann den Frieden gewährleisten, sondern gemeinsame Sicherheit ist das „oberste Gesetz des Atomzeitalters“, betont der Dresdner Friedensforscher Wolfgang Scheler. In weiteren Texten analysieren Wolfgang Schwarz und Lutz Kleinwächter – beide „Studiengruppe Entmilitarisierung der Sicherheit“ (SES) – Entwicklung und Gegenwart der nuklearen Abschreckung. Über gegenseitige Bedrohungen und Abschreckung aus deutscher und russischer Sicht diskutieren Siegfried Fischer (SES Berlin) und Dmitri Trenin (Moskau).
Eng verbunden mit diesem Thema sind auch die Kritik des Konzepts der „Schutzverantwortung“ in der Analyse, der Kommentar zur Krisenprävention und die Historie von Hubert Thielicke (SES) zum Kernwaffensperrvertrag, der am 1. Juli vor 50 Jahren unterzeichnet wurde.
Die WeltBlicke sind dem Singapur-Gipfel von Trump und Kim sowie dem Regierungswechsel in Spanien gewidmet. Im Gastkommentar fordert Jürgen Trittin, Präsident Trump ernst zu nehmen. Er wendet sich gegen die „deutsche Über-Kompromissbereitschaft“ und spricht sich für stärkeren europäischen Zusammenhalt aus. In einem weiteren Kommentar plädiert Hans J. Gießmann (SES) für Krisenprävention zur Friedenserhaltung.

am

WeltTrends – Das außenpolitische Journal, Heft 142 (August) 2018 (Schwerpunktthema: „Abschreckung“), Potsdam / Poznan, 4,80 Euro plus Porto. Weitere Informationen im Internet.

Aus anderen Quellen

„Man kann sich die Zahl gar nicht oft genug auf der Zunge zergehen lassen“, schreibt Ingo Arend und fährt fort: „In Deutschland sind rund 7,5 Millionen Erwachsene zwischen 18 und 64 Jahren nicht mehr in der Lage, Texte richtig zu verstehen und richtig zu schreiben. Sie haben es nämlich verlernt. Der Anteil dieser sogenannten ‚funktionalen‘ oder ‚sekundären‘ Analphabeten entspricht 14,5 Prozent der Deutsch sprechenden Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter. Allein in Berlin leben 350.000 davon, fast viermal mehr Menschen, als 2016 als Flüchtlinge nach Bayern kamen. Entwicklungsland Deutschland: Zu dieser Zahl kommen schätzungsweise noch die rund zwei Millionen totalen oder ‚primären‘ Analphabeten – Menschen, die weder schreiben noch lesen können und beides auch nie gelernt haben.
Ingo Arend: Kulturelle Kernschmelze. Wer bekämpft den Analphabetismus?, berliner-zeitung.de, 31.7.2018. Zum Volltext hierklicken.

*

„Aufgrund ihres in Auflösung befindlichen Selbstbildes wischen Medienmacher reflexhaft jede Kritik beiseite mit dem Hinweis, niemand diktiere ihnen, was sie zu publizieren haben“, zitiert Christian Baron indirekt eine fast schon stereotype Verhaltensweise von Vertretern der Massenmedien. „Sie können demnach schreiben, was sie wollen, und nie setze eine Verlegerin oder ein Politiker sie unter Druck. Das ist völlig richtig. Was aber, wenn es der sachlichen Medienkritik um etwas ganz anderes geht, nämlich dass die Journalisten ihre berufliche Position nicht innehätten, wenn sie nicht vorher schon unter Beweis gestellt hätten, dass niemand ihnen sagen muss, was sie schreiben sollen? Erstmals formuliert haben diese Frage die US-amerikanischen Wissenschaftler Edward S. Herman und Noam Chomsky im Jahr 1988 in ihrer empirischen Studie ‚Manufacturing Consent: The Political Economy of the Mass Media‘. Das darin entwickelte Propagandamodell besagt, dass Medien in kapitalistischen Demokratien einen gesellschaftlichen Konsens im Sinne der wirtschaftlichen und politischen Eliten herstellen.“
Christian Baron: Sie können schreiben, was sie wollen. Lügt die Presse? Wie das Propagandamodell von Herman und Chomsky hilft, eine sachliche Medienkritik zu formulieren, neues-deutschland.de, 3.8.2018. Zum Volltext hier klicken.

*

Unter dem Titel „Wir brauchen eine linke Ökumene“ plädiert Peter Brandt für eine Sammlungsbewegung links der Mitte. Nach einer Analyse der Situation im Mitte-links- und linken Spektrum hierzulande folgert er: „In krassem Gegensatz zur Tendenz der Wahlergebnisse belegen etliche Meinungsumfragen, dass die politische Grundeinstellung der Gesamtbevölkerung – in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten sogar verstärkt – in den „harten“ Themen der Politik deutlich links von den neoliberalen Eliten verortet ist. Wir brauchen deshalb einen alternativen Politikentwurf, der zunächst die Rückkehr zur Entspannungspolitik nach außen ins Auge zu fassen hätte, den Stopp der Waffenexporte in Spannungsgebiete, eine solidarische Unterstützung der armen Länder sowie die Demokratisierung und einen Kurswechsel der Europäischen Union, einen erneuerten Sozialstaat zwecks Sicherung des Lebensstandards im Alter und bei Erwerbslosigkeit sowie einer guten Pflege und Gesundheitsversorgung, die Neuregelung des Wohnungsmarkts zwecks Garantie für alle bezahlbarer Mieten, stärkere Steuergerechtigkeit bei Vereinfachung des Systems und Entlastung kleiner und mittlerer Einkommen, die Re-Regulierung der Wirtschaft, insbesondere des Finanzsektors, in Kombination mit einem innovativen ökologischen Umbauprogramm, die Stärkung des Binnenmarkts, die staatliche Steuerung des begonnenen Digitalisierungsprozesses zwecks Umverteilung von Arbeit, ferner den Wiederaufbau der kaputt gesparten Infrastruktur- und Versorgungseinrichtungen, die wieder in die öffentliche Hand gehören, sowie den großzügigen Ausbau der Bildungseinrichtungen bei Förderung aller Begabungen unabhängig von der sozialen und ethnischen Herkunft.“
Peter Brandt: Wir brauchen eine linke Ökumene. Plädoyer für eine Sammlungsbewegung links der Mitte. IPG-Journal (Internationale Politik und Gesellschaft). 8.8.2018. Zum Volltext hier klicken.