Heinrich Mann: Freie Rede für Faschisten?
Gelegentlich beklagen Rechtsextreme heutzutage, dass Lügenpresse und Mediendiktatur ihren Auffassungen keinen Raum gäben. Elf Jahre, nachdem Heinrich Mann gesehen und am eigenen Leib erfahren hatte, wohin grenzenlose Toleranz führen kann, beteiligte er sich im Januar 1944 an einer Umfrage der in New York erscheinenden, wesentlich von Kommunisten getragenen Zeitschrift New Masses: „Sind Sie der Meinung, dass Personen oder Organisationen, die faschistische Propaganda verbreiten und den Hass auf Schwarze, Juden und andere Minderheiten schüren, die Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit gewährt sein sollte?“ Seine im deutschen Original verlorene, hier von Bernhard Veitenheimer aus dem Englischen zurückgeholte Antwort ist jetzt nachzulesen in dem im Aisthesis Verlag Bielefeld erschienenen neunten Band seiner Essays und Publizistik, der die im USA-Exil von 1940 bis 1950 entstandenen Texte versammelt und kommentiert.
Wolfgang Klein
„Vor Hitlers Antritt sagte ich der deutschen Öffentlichkeit in Vorträgen und Artikeln, daß die Freiheit der Rede allen Bürgern gewährt sein sollte, die sie anderen gewähren würden, und daß Freiheit das Recht der Freunde der Freiheit ist, nicht das ihrer Feinde.
Das ganze Treiben Hitlers während der Republik war unverschämt und seine Duldung durch die Behörden skandalös. Es gab eine ständige Drohung mit Strafe bei jedem Widerstand gegen ihn und seine Partei. Einmal an der Macht, rächte er sich wirklich an denen, die ihm widersprachen: es war seine erste Sorge. Sie mußten fliehen oder wurden unterdrückt.
Stärkere Demokratien als das Deutschland jener Zeit können die Rache von Typen wie Hitler verhindern und rechtzeitig ihre Anmaßung bestrafen. Die Unfähigkeit solcher Typen macht sie noch gefährlicher als ihre Bösartigkeit. Sie können die Macht nicht halten, die sie auf rohe Art erlangten. Es scheint, daß Hitlers Herrschaft schneller enden wird als die vierzehn Jahre der schwachen Republik, die ihm vorausgingen. Das weltweite Unheil, das er hinterlassen wird, würde Leute seiner Sorte bestimmt nicht davon abhalten, seine Laufbahn zu wiederholen. Darum ist es gut daran zu erinnern, daß er mit 10 000 irrsinnigen Reden begann, deren Äußerung ihm gestattet war.“
Dresscodes
In seinen tagebuchartigen Aufzeichnungen für die Zeit vom 9. November 1989 (Mauerfall) bis zum 3. Oktober 1990 (Vollzug der deutschen Vereinigung) konzentrierte sich Horst Teltschik, seinerzeit außen- und sicherheitspolitischer Chefberater von Bundeskanzler Helmut Kohl, zwar auf das politische Zeitgeschehen rund um den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nach dessen damaligem Artikel 23 (Blättchen 1/2025), aber hin und wieder notierte er auch anderes:
16. April 1990: „Als wir das Zimmer des MP [Ministerpräsident de Maizière – ws] verlassen, kommt AM [Außenminister – ws] Meckel zum Gespräch. Er trägt Pullover und Cordhose, als ob er einer Freizeitbeschäftigung nachginge.“
25. Mai 1990: „Meckel begrüßt mich sehr freundlich. Er trägt einen beigen Anzug mit Schlips. Dazu grüne Socken und Sandalen.“
8. Juli 1990 (im Stadion des Endspiels der Fußball-WM in Rom): „Auch Ministerpräsident [des Saarlandes – ws] und Kanzlerkandidat Lafontaine ist mit seiner Freundin anwesend. Seine Narbe am Hals [vom wenige Monate zuvor erfolgten Messerattentat – ws] ist gut verheilt. Seine sportliche Kleidung unterstreicht in unvorteilhafter Weise seine korpulente Figur.“
15. Juli 1990 (im Gästehaus des sowjetischen Außenministeriums in Moskau): „Gorbatschow trägt einen grauen Anzug mit einem leicht bläulichen Hemd und einer abgestimmten rot-grauen Krawatte. Auch die grauen Socken passen dazu. Nur die braunen Schuhe stören etwas.“
ws
Gebrauchsanweisung für Nachbarn
Angesichts vielfältiger Zwistigkeiten im engeren (ich sage nur: „Knallerbsenstrauch“) und weiteren Umfeld (Kriege in der Ukraine und in Nahost) ist das Thema eines der wichtigsten unserer Zeit. Die Autoren der vorliegenden Gebrauchsanweisung sind ein ehemaliger deutscher Eishockeyspieler aus Südkorea und der Kolumnist und Autor von „Russendisco“. Gegensätzlicher geht es kaum, gehört doch Eishockey zu den rabiatesten Sportarten, und doch schreiben sie zusammen ein Buch über ihre Erfahrungen mit Nachbarn – im Haus, im Garten, in diversen Ländern, im Bücherregal und im Weltall. Der oder die Eine wird lustvoll aufstöhnen und sich an ähnliche Erlebnisse erinnern – seien es die „Bekanntschaften“ mit dem Bundeskleingartengesetz und Nachbarn, die auf dessen wörtliche Auslegung bestehen, seien es Menschen, die die Einhaltung der Corona-Maßnahmen in der Nachbarschaft kritisch beäugt haben, oder „Vertrautheiten“ mit der Einhaltung von Sperrzeiten in Gaststätten – oder in Gemeinschaftsküchen. Letzteres natürlich im Besonderen in einer russischen „Kommunalka“, einer Gemeinschaftswohnung mit nur einer Küche für alle. Ehemalige Wohnheim- oder WG-Bewohner können hier sicher sehr gut mitreden, insbesondere wenn verschiedene Kulturen aufeinandertrafen.
Natürlich geht es auch um das Dauerthema, wie man sich neuen Nachbarn vorstellt – einfach mal klingeln oder zur house-warm-party einladen?
Miterleben durften wir alle den Streit um die Sitzordnung im deutschen Bundestag – wer muss neben der AfD sitzen? Viele werden dieses Problem auch noch aus ihrer Schulzeit oder anderen Gremien kennen.
Selbst auf Friedhöfen gibt es Rangeleien, wer neben wem liegen darf, kann und soll – zum Glück hat Deutschland mit seiner Friedhofsordnung vorgesorgt …
„Die Hölle, das sind die anderen“, schrieb Jean-Paul Sartre. Die beiden Autoren zeigen uns dies sehr anschaulich.
Viola Schubert-Lehnhardt
Martin Hyun, Wladimir Kaminer: Gebrauchsanweisung für Nachbarn. Piper Verlag, München 2024, 216 Seiten, 16 Euro.
Film ab
Leider hatte ich Elmar Krekelers Obduktionsbefund über Simon Verhoevens „Alter weißer Mann“ in der Welt nicht gelesen: „Eine Produktenttäuschung muss niemand befürchten. Es sei denn, er erwartet eine Komödie.“ Dass der Kinogang um eine montägliche Mittagsstunde trotzdem nicht komplett im Suppenkoma landete, war daher Zufall. Denn meine Mitgängerin war nach der ersten drögen Viertelstunde schon mal sanft entschlummert, und auch ich rang bereits mit anschwellender Langeweile. Da schweifen die Gedanken schon mal. Und das war gut so, denn so konnte der Blitz der Erkenntnis einschlagen: Was da über die Leinwand mäanderte, war kein Lustspiel, das war eine Parabel. (Lessings Nathan ließ grüßen!) Und noch dazu eine nachgerade dokumentarische. Darüber nämlich, in welche Nonsens-Welt Menschen (und, wenn die Infektion zur Pandemie wird, ganze Gesellschaften) geraten können, wenn sie sich von ebenso fanatisierten wie im Anspruch totalitären Minderheiten in das Korsett (besser vielleicht Prokrustes-Bett?) eines moralisierenden, sprachlichen und damit geistigen Koordinatensystems entweder – je nach individueller Veranlagung – irreleiten oder einsperren lassen, das von Wokeness, Gendern, Political Correctness, LGBTQ/Diversity, der Verteufelung von „kultureller Aneignung“ und ähnlichen Zeitgeist-Metastasen dominiert wird. (Ob die damit einhergehende Nichtwahrnehmung von etwas existenzielleren Problemen wie der Krieg-Frieden-Frage zum Geschäftsmodell gehört oder nur ein Kollateralschaden ist, muss in dieser knappen Besprechung leider offenbleiben.)
Von diesem Erkenntnismoment an jedenfalls war der Film zwar immer noch kaum zum Lachen, aber zumindest nicht mehr nur noch zum Einschlafen, weil durchaus mit erhellenden und damit im besten Falle therapeutischen Szenen aufwartend. Bevor Verhoeven seinen Streifen durch ein aufgezuckertes Happy Ending à la Hollywood vollends ruiniert. Das wuppte die durchaus beachtliche Besetzung mit Jan Josef Liefers, Nadja Uhl, Friedrich von Thun und anderen dann auch nicht mehr raus.
Clemens Fischer
„Alter weißer Mann“, Drehbuch und Regie: Simon Verhoeven; immer noch in manchen Kinos, aber auch schon auf DVD.
Erschöpfende Regieanweisung
„Liebe Weltbühne! Die Leute schreiben die dicksten Bücher über Regie, von Lessing bis Reinhardt. Das schönste und erschöpfendste Wort eines Regisseurs ist aber nicht am Theater gesprochen worden, sondern beim Film. Herr R. [Richard – d. Red.] Eichberg sagte einmal auf einer Probe zu Conrad Veidt, heiser, wie er sich immer hat: ,Also Du kommst hier rein, newa; hier – von links kommste rein, un denn machste ’n bisken Pi-Pa-Po, na, Mensch, Du bist doch Schohspieler, un denn jehste wieda raus!‘“
Cläre Meyer-Lugau, Die Weltbühne 43/1920
Sächsische Limericks
Sächsische Landesregierung
Bekanntlich sind ja vielen Sachsen
Wahre Superhirne gewachsen.
Man ist so gescheit.
Dass ‘ne Minderheit
Verzichtet auf jegliche Faxen.
Parteigründung
Dort im Saarland wurde der Sahra
Der Weg zum Erfolg immer klahra:
Mit sehr viel Geschrei
Wird der Fanclub Partei,
Und es gibt ‘nen Wagen mit Fahra.
Skat
Es war mal ein Skatfreund in Dresden,
der spielte so mies wie die meesden.
Sogar Grands mit Vieren,
die tat er verlieren,
und war dann nicht wirklich zu treesten.
Aus anderen Quellen
Im Hinblick auf mögliche Verhandlungen zur diplomatischen Beendigung des Ukraine-Krieges schreibt Anatol Lieven, Direktor des Eurasienprogramms am Quincy Institute for Responsible Statecraft in Washington: „Der erste aus westlicher Sicht nicht verhandelbare Punkt betrifft die rechtliche Anerkennung der von Russland vollzogenen Annexionen. Das gilt auch dann, wenn die Ukraine diese Gebiete auf dem Schlachtfeld nicht zurückerobern kann und bis auf weiteres mit der Realität des russischen Besitzes leben muss. Russische Experten haben mir gegenüber angedeutet, dass Moskau in den Gesprächen nicht auf einer rechtlichen Anerkennung bestehen wird – wohl auch deshalb, weil China, Indien und andere russische Partner eine solche Anerkennung ablehnen. Moskau hofft wohl auf eine Situation wie in Zypern. Dort hat kein Land außer der Türkei die Türkische Republik Nordzypern je anerkannt; die Gespräche dazu verlaufen seit 50 Jahren ergebnislos.“
Anatol Lieven: Start by Keeping Ukraine Out of Ceasefire Talks, foreignpolicy.com, 16.12.2024. Zum Volltext hier klicken; zur deutschen Übersetzung hier.
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Ralph Bossard kommt in seiner Analyse zu dem Fazit, dass laufende nuklearstrategische Rüstungsprojekte Russlands wie etwa „Poseidon“ – „eine Unterwasserdrohne globaler Reichweite mit einem atomaren Sprengkopf“, um „Marinestützpunkte aus großer Distanz angreifen und ganze Schiffsverbände mit Kernwaffen vernichten“ zu können – darauf angelegt seien, Moskaus Vergeltung für den Fall eines Atomangriffs, die sogenannte Zweitschlagsfähigkeit, sicherzustellen. Für „einen überraschenden Erstschlag“ hingegen seien Systeme wie „Poseidon“ nicht geeignet.
Ralph Bosshard: Speziell die Europäer sollten sich „warm anziehen“ …, globalbridge.ch, 15.01.2025. Zum Volltext hier klicken.
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„Die Junta in Myanmar, so Stephen Campbell in einem aktuellen Überblick, „die sich vor vier Jahren zurück an die Macht geputscht hat, gerät von allen Seiten immer mehr in Bedrängnis. Es begann damit, dass die Three Brotherhood Alliance (TBA), ein Bündnis aus drei Untergrundmilizen, Ende Oktober 2023 eine koordinierte Offensive startete. Diese sogenannte Operation 1027 hat dem bewaffneten Widerstand eine neue Dynamik verliehen: Im Laufe des vergangenen Jahres haben die Rebellengruppen große Gebiete unter ihre Kontrolle gebracht […], darunter etwa 50 Städte und hunderte Garnisonen, wobei tausende Soldaten getötet wurden.“
Stephen Campbell: Bürgerkrieg und Arbeitskampf, monde-diplomatique.de, 09.01.2025. Zum Volltext hier klicken.
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Christian Stappenbeck befasst sich mit allerhand Sprachdummheiten: Ein Fall von solchen sei „das beliebte Wort nachvollziehbar anstelle von verständlich und einleuchtend. Nachvollziehen kann man richtigerweise den Lösungsweg einer Matheaufgabe. Vielleicht auch eine Urlaubsreise mit dem Finger auf der Landkarte. Aber was heißt deine Entschuldigung ist nicht nachvollziehbar! – Falsch, also sprachwidrig ist es, wenn Journalisten massenhaft schreiben: NN stellte eine Strafanzeige. Da purzeln stellen und erstatten munter durcheinander. Denn die Anzeige wird nicht ‚gestellt‘ oder erstellt oder aufgestellt, sie wird erstattet. Gestellt wird allenfalls ein Strafantrag, was bei Juristen etwas anderes ist.“
Christian Stappenbeck: Allerhand Sprachdummheiten, Ossietzky, 25/2024. Zum Volltext hier klicken.
Zusammengetragen von Wolfgang Schwarz.
Schlagwörter: Alter weißer Mann, Cläre Meyer-Lugau, Clemens Fischer, Heinrich Mann, Horst Teltschik, Kernwaffen, Limericks, Martin Hyun, Myanmar, Rainer Rönsch, Regieanweisung, Russland, Sprachdummheiten, Ukraine-Krieg, Viola Schubert-Lehnhardt, Wladimir Kaminer, Wolfgang Klein