Nicht nur Helmut Kohl war die deutsche Einheit zu verdanken, sondern v. a. seinem relevantesten außen- und deutschlandpolitischen Berater […]. Hartnäckig, geschickt und kompetent wurde er [Kohl – W.S.] von seinem Chefberater nicht nur begleitet und beraten, sondern auch angespornt, motiviert und stimuliert, mitunter auch bedrängt, Entscheidungen zu treffen. […] Auf der Vier Mächte-Berater-Ebene der Staats- und Regierungschefs war Teltschik so mitentscheidend, dass es ohne ihn wohl keinen Kanzler der deutschen Einheit noch im Jahre 1990 gegeben hätte.
Montag, 5. März 1990
10.00 Uhr Sitzung des CDU-Parteipräsidiums. […] Präsidium beschließt, Einigung nach Art. 23 GG herbeizuführen.
Erst am 18. März 1990 fanden in der DDR (die ersten freien und zugleich die letzten) Wahlen zur Volkskammer statt, der es formaljuristisch oblag, die Einigung nach Art. 23 GG zu beschließen. Das geschah am 18. Juni 1990.
Bis Ende 1990 war Horst Teltschik Leiter der Abteilung II „Auswärtige und innerdeutsche Beziehungen; Entwicklungspolitik; äußere Sicherheit“ im Bundeskanzleramt und als solcher auf diesen zentralen Politikfeldern sowie während des gesamten internationalen Prozesses, der vom Mauerfall am 9. November 1989 bis zum 3. Oktober 1990 (329 Tage) zur deutschen Einheit führte, der engste Mitarbeiter des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl. Kohl-Biograph Hans-Peter Schwarz apostrophierte Teltschik als „Intimus von Helmut Kohl“. Dieser hatte als damaliger Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz dem Youngster – mit bereits einschlägigen politischen Erfahrungen, nicht zuletzt im Parteiapparat der CDU –, der sich 1972 in der Staatskanzlei in Mainz als künftiger Mitarbeiter vorstellte, beschieden: „Sie werden für mich arbeiten, weil ich eines Tages Parteivorsitzender der CDU und Kanzler sein werde. Wenn ich das bin, werden Sie an meiner Seite sein.“
So kam es bekanntlich. Doch schon 1985, nur wenige Jahre nach Kohls Einzug ins Kanzleramt, adelte Der Spiegel Teltschik zum „Kissinger Kohls“, während der britische Historiker Timothy Garton Ash in seinem Rückblick 1993 mit der Formulierung vom „Bahr von Kohl“ die Brötchen zumindest eine Nuance bescheidener hielt. Bereits im Juli 1988 hatte ihm die Süddeutsche Zeitung überdies attestiert, unter den engen Vertrauten des Kanzlers der einzige zu sein, der es „sich erlauben [kann], Helmut Kohl zu kritisieren“. Dem solcher Art immer mal wieder Laudatierten selbst gebrach es im Übrigen auch nicht an fiducia sui: „Meine Abteilung war mit die durchsetzungsfähigste im Kanzleramt.“ Und den diversen Nationalen Sicherheitsberatern im Weißen Haus, mit denen er zusammenarbeitete, „galt ich“, so Teltschik über Teltschik, „von Anfang an durch meine unmittelbare Nähe zu Bundeskanzler Kohl als der ‚German National Security Adviser‘“.
Bereits im Jahre eins nach Vollzug der deutschen Einheit veröffentlichte Teltschik im Siedler Verlag den mit knapp 400 Seiten (Taschenbuchausgabe von 1993) durchaus voluminösen Band „329 Tage. Innenansichten der Einigung“, tagebuchartige Notate. Allerdings handelte es sich nur um etwa ein Drittel der Aufzeichnungen, die der Verfasser während des laufenden Geschehens niedergeschrieben hatte. Auslassungen erfolgten seinerzeit etwa mit Rücksicht auf lebende Akteure. Das betraf zum Beispiel gegensätzliche Auffassungen zu wichtigen Fragen des Einigungsprozesses zwischen Kohl und dem damaligen Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP). Ausgespart wurden aber auch besonders brisante Details sowie offene und unerledigte Themen, etwa im Zusammenhang mit dem Abzug der sowjetischen Streitkräfte vom Gebiet der Ex-DDR, der sich bis 1994 hinzog.
Solche Beweggründe sind inzwischen längst obsolet, und seit vergangenem Jahr, also 33 Jahre nach der Erstveröffentlichung, liegen Teltschiks Notate nunmehr komplett vor. Als wissenschaftlich editierte und erschöpfend kommentierte sowie ausführlichst mit erläuternden Anmerkungen versehene Ausgabe. In einem Sammelband, der daneben einen umfangreichen Interviewteil enthält, der sich aus 45 Stunden an Gesprächen speist, die Herausgeber Michael Gehler mit Horst Teltschik zu dessen Notaten und teils darüber hinaus im März 2023 geführt hat. „Persönliche Daten zum Lebenslauf, Auszeichnungen und Orden“ Teltschiks und eine detaillierte „Chronologie zur Zeit der Beratertätigkeit von Horst Teltschik für Bundeskanzler Kohl 1982 – 1990 mit einem Ausblick auf 1991“ sowie ein Anhang ausgewählter Dokumente komplettieren den Sammelband. Ein Sach-, ein Personen- sowie ein Ortsregister erleichtern den recherchierenden Umgang mit dem gesamten Konvolut.
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In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 hatte sich – für alle Seiten überraschend und hinsichtlich der DDR-Partei- und Staatsführung mehr nolens als volens – die Berliner Mauer geöffnet, und schon am 28. November verkündete Bundeskanzler Helmut Kohl im Plenum des Bundestages seinen 10-Punkte-Plan zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Ein, so Teltschik, „Paukenschlag“, der demonstrierte, dass Kohl „die deutsche Einheit ab Ende November 1989 offensiv anstrebte“, und von dem im Vorfeld weder Genscher als damaliger Koalitionspartner Kohls, noch die westlichen Hauptverbündeten der BRD, geschweige denn irgendwelche östlichen Ansprechpartner informiert worden waren. Dem vorliegenden Band ist nun nicht nur zu entnehmen, dass „Ideengebung und Inspiration für die deutschlandpolitische Offensive“ ebenso auf Teltschik zurückgingen wie die Strukturierung des Planes in zehn Punkten, sondern auch wem die eigentliche Initialzündung des gesamten Vorganges (und damit quasi der gesamten nachfolgenden Entwicklung?) zu danken ist, nämlich – Moskau. Am 21. Oktober hatte sich Nikolai Portugalow, deutschlandpolitischer Mitarbeiter der Internationalen Abteilung des ZK der KPdSU, bei Teltschik zum Gespräch eingefunden, und in dessen Interpretation „nicht nur über ‚Wiedervereinigung‘ und ihr ‚ob‘, sondern auch schon über das ‚wie‘“ gesprochen. Das war der „Auslöser für Teltschik, eine neue Deutschlandpolitik anzukündigen“, so Michael Gehler.
Die Fülle des im vorliegenden Band unterbreiteten Materials und dessen Kommentierung entziehen sich einer Besprechung im Detail.
Punktuell und eher anekdotisch sollen aus dem vorliegenden Konvolut lediglich einige wenige Passagen aus den beiden inhaltlichen Abteilungen – „Das vollständige Tagebuch vom 9. November 1989 bis zum 3. Oktober 1990“ und „Nachbetrachtungen und Rückblenden: Gespräche in Rottach-Egern [am Wohnsitz Teltschiks – W.S.] über die 329 Tage“ – herausgegriffen werden.
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Aus dem vollständigen Tagebuch – nur November 1989:
- 9. November: „Die DDR wirkt wie ein brodelnder Kessel, in dem der Druck sichtbar steigt und den Kessel zu sprengen droht, wenn die Ventile nicht rechtzeitig geöffnet werden. […] Doch […] ob Egon Krenz dazu überhaupt willens und in der Lage ist. […] Außerdem gilt er bei niemandem als besondere Geistesgröße.“
- 10. November: [Bundeskanzler Kohl weilt zum Staatsbesuch in Polen. Über Nacht ist in Berlin die Mauer geöffnet worden. Westberlins Regierender Bürgermeister Momper (SPD) hat zu einer Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus aufgerufen.] „Der Zeitpunkt für die Kundgebung legt […] den Verdacht nahe, daß Momper ihn so früh angesetzt habe, damit es der Bundeskanzler […] nicht schaffen könne, rechtzeitig in Berlin zu erscheinen. Die Wirkung für den Bundeskanzler wäre verheerend, aber wir trauen Momper auch das zu.“
- 13. November: [Verleihung der Ehrendoktorwürde an Bundeskanzler Kohl durch die Universität Lublin.] „Selbstverständlich ist die Verleihungsurkunde in Lateinisch verfasst und wird auch so verlesen. Ein hervorragender Universitätschor umrahmt die Feier, die mit dem alten Studentenlied ‚Gaudeamus igitur‘ endet. Der Bundeskanzler singt begeistert mit.“
- 17. November: [Der Wortlaut einer Gorbatschow-Rede vom 15. November ist eingetroffen.] „Sie ist […] sehr bemerkenswert, weil Gorbatschow die Frage der Wiedervereinigung nicht mehr in einen Zeitraum von 50 oder 100 Jahren verschiebt, sondern nur für ‚heute‘, für den ‚aktuellen‘ Zeitpunkt ausschließt […].“
- 19. November: „Der neue Vorsitzende der Ost-CDU […], Lothar de Maizière, erklärt heute in einem Interview der ‚Bild am Sonntag‘, daß es nicht seine Auffassung sei, daß der Kommunismus tot sei. […] Die Einigung Deutschlands halte er nicht für ‚das Thema der Stunde. […] Dieses Interview wird die Skepsis gegenüber de Maizière weiter nähren.“
- 21. November: [Gespräch mit Portugalow, der ein Papier überreicht, das unter anderem eine Einschätzung Gorbatschows zur Entwicklung in der DDR enthält.] „Der Präsident ginge davon aus, ‚daß in Bonn keine Zweifel darüber bestehen, daß die jüngste Entwicklung in der DDR ohne uns und erst recht gegen uns undenkbar gewesen wäre‘. Sie hätten schon sehr frühzeitig gewußt, ‚im Grunde seit Morgendämmerung der Perestroika‘, daß die Entwicklung so kommen werde. Ich empfinde das als eine sehr wichtige Aussage, weil sich damit die Sowjetunion mit der Entwicklung voll identifiziert; ja sie übernimmt mit dem Hinweis auf die Perestroika sogar die Verantwortung dafür.“
- 27. November – zur Frage, wann die deutsche Einheit vollzogen sein könnte: „Der Bundeskanzler schätzte, 5-10 Jahre werde es dauern. Wir waren uns einig: Auch wenn die Einheit erst am Ende dieses Jahrhunderts erreicht werden könnte, wäre es ein Glücksfall der Geschichte.“
Eine weitere knappe Auswahl – mit Bezug zu den DDR-Volkskammerwahlen vom 18. März 1990:
- 19. Dezember 1989 (Zusammentreffen von DDR-Ministerpräsident Hans Modrow und Bundeskanzler Kohl in Dresden): „Modrow […] Die Wahlen in der DDR seien eine innere Angelegenheit. Von Seiten der BRD dürfe auf dem Boden der DDR kein Wahlkampf geführt werden.“ Und: „Bundeskanzler stimmt zu, daß vermieden werden solle, Wahlkampf im jeweils anderen Teil zu machen.“
- 20. Februar 1990: „BK [Bundeskanzler – W.S.] greift heute erstmals persönlich in den DDR-Wahlkampf ein. Insgesamt sind 6 Auftritte geplant. In Erfurt umjubeln ihn 130-150.000 Menschen.“ Es folgen Wahlkampfauftritte Kohls in Chemnitz (1. März, rund 200.000 Teilnehmer), Magdeburg (6. März, 130.000 Teilnehmer), Rostock (9. März, 120.000 Teilnehmer) und Cottbus (13. März, 120.000 Teilnehmer)
- 12. März 1990: „Infratest veröffentlicht Umfrage und prophezeit der SPD klare Mehrheit von 44 % gegenüber 20 % der Ost-CDU.“
- 14. März 1990: „Heute abend sechste und letzte Wahlkampfveranstaltung des BK in Leipzig. Die geschätzte Teilnehmerzahl liegt bei sensationellen 320.000 Menschen. Damit hat BK insgesamt über eine Million DDR-Bürger erfaßt. Wir sind gespannt, welche Auswirkungen das auf das Wahlergebnis am Sonntag haben wird.“
- 18. März 1990: „Um 18.00 Uhr ist die Sensation perfekt. Die ‚Allianz für Deutschland‘ [Ost-CDU mit Partnern – W.S.] feiert einen überwältigenden Wahlerfolg. Bei der eindrucksvoll hohen Wahlbeteiligung von 93,38 % gewinnt die ‚Allianz‘ 192 Mandate gegenüber 88 der SPD. […] Wir sind uns einig, daß BK einen persönlichen Triumph erlebt. Seine Wahlkampfauftritte scheinen die Wende herbeigeführt zu haben.“
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Die Nachbetrachtungen und Rückblenden im Sammelband – Gehler spricht gegenüber Teltschik von „der Rekonstruktion Ihrer Erinnerungen“ – umfassen immerhin 18 Kapitel mit knapp 300 Seiten. Sie greifen zeitlich und inhaltlich zum Teil über den Rahmen, den die Notate abbilden, hinaus – mit vielen interessanten Details, von denen – pars pro toto – hier nur drei herausgegriffen seien:
- Ein aufschlussreiches Schlaglicht auf den Verlauf und die Triebkräfte der Reform- und Zerfallsprozesse in den realsozialistischen Staaten, die ab 1985, nach dem Amtsantritt Gorbatschows in Moskau, rasch an Momentum gewannen, wirft folgende von Horst Teltschik geschilderte, allerdings zeitlich nicht konkret fixierte Episode: Bei einem Aufenthalt als Emissär Kohls in Budapest brachte ihn der damalige ungarische Botschafter in der BRD, István Horváth, mit Gyula Horn, ZK-Sekretär für internationale Beziehungen, und Miklós Németh, ZK-Sekretär für Wirtschaftsfragen, zusammen: „Beide ZK-Sekretäre haben mir unabhängig voneinander gesagt, sie müssten Janos Kádár [den damaligen KP- und Staatschef Ungarns – W.S.] loswerden, weil man mit ihm nicht weiter vorankäme. Einen Nachfolger hätten sie schon in Aussicht […].“ Aber: „Sie würden das nur machen, wenn wir ihnen anschließend einen Kredit zusichern könnten, also Kredit gegen Ablösung von Kádár. Ich habe das zur Kenntnis genommen und auch zu verstehen gegeben, wenn sie das tun, könnten sie mit Unterstützung der Bundesregierung rechnen. Kurz danach wurde Janos Kádár abgesetzt […]. Der erste Gesprächspartner“ der neuen ungarischen Führung „waren ein Banker namens Alfred Herrhausen, Chef der Deutschen Bank und ich. Kohl hatte mich mit Herrhausen nach Budapest geschickt, um unsere Zusage einzulösen.“
(Anmerkung WS: Kádár hatte sein Amt als Parteichef am 27.05.1988 verloren.) - Am 18. Oktober 1990 musste Erich Honecker als Generalsekretär des ZK der SED zurücktreten. Egon Krenz wurde sein Nachfolger, der sich sogleich um Kontaktaufnahme zu Bundeskanzler Kohl bemühte. Teltschik: „Amüsant für mich war, dass dann kurze Zeit später der sowjetische Botschafter Kwizinskij zu mir kam, und sagte: ‚Herr Teltschik, ich habe einen guten Rat für Ihren Chef. Er soll sich mit Krenz nicht treffen.‘ Er werde den nächsten Parteitag der SED nicht überleben. […] Ich sagte, das sei interessant. Die sowjetische Seite sagt uns ‚Kein Gespräch mit Krenz‘. Ich habe natürlich Kohl sofort darüber unterrichtet und es kam auch nie zu einem Treffen, nur zu Telefonaten.“
- Beim Zusammentreffen zwischen Kohl und Modrow am 19. Dezember 1989 in Dresden ging es auch um einen von der DDR-Regierung gewünschten, weil dringend benötigten Bonner Kredit; Teltschik spricht von 15 Milliarden DM. Ein Kredit an die Modrow-Regierung kam jedoch nicht zustande. Horst Teltschik offenbart den Hintergrund: „Die letzten zehn Minuten [des Dresdner Zusammentreffens – W.S.] waren der Bundeskanzler und Ministerpräsident Modrow unter vier Augen. Als sie dann aus dem Besprechungszimmer herauskamen, nahm mich Modrow bei Seite und sagte: ‚Also Herr Teltschik, ich habe gerade mit Ihrem Chef darüber gesprochen, es geht um einen Kredit für die DDR.‘ Darüber müsste jetzt verhandelt werden. Und Kohl sagte, der Beauftragte auf seiner Seite sei ich. […] ‚Ich nehme das zur Kenntnis‘, sagte ich. Ich bin heute noch stolz darauf, dass es nie zu einem Gespräch darüber gekommen ist. Ich hatte nie Zeit, wenn er Zeit hatte. So haben wir verhindert, dass der Kredit vereinbart wurde.“
Eine der interessantesten Fragestellungen, zu denen der Sammelband Aufschlussreiches enthält, ist jene, warum nach dem Ende des Kalten Krieges keine gesamteuropäische, die bisherigen Militärbündnisse von NATO und Warschauer Vertrag überwölbende Sicherheitsarchitektur geschaffen worden ist, wie sie in der Gorbatschowschen Idee vom gemeinsamen Haus Europa visionär angelegt war, auf die damals auch im Westen konstruktiv reagiert wurde. Die Voraussetzungen und Instrumente für eine solche Sicherheitsarchitektur waren Anfang der 1990er Jahre ja gegeben. Vor allem in Gestalt der Charta von Paris von 1990, die, so Teltschik im Interviewteil des Sammelbandes, „das Ziel hatte, dass alle Staaten in Europa gemeinsame Sicherheit haben sollten. Die Charta ist ein Katalog der Kriterien und der Prinzipien, wie dieses europäische Haus aussehen soll. Sie benennt auch die Instrumente, wie es weiterverfolgt werden soll […].“ In einer im Sammelband dokumentierten Festrede Teltschiks von 2016 hat dieser dazu aufgelistet: „Vereinbart worden waren:
- die KSZE / OSZE als politisch-institutioneller Rahmen der Zusammenarbeit;
- ein Katalog von Prinzipien als politische Leitlinien,
- erste institutionelle Entscheidungen wurden getroffen wie eine jährliche Außenministerkonferenz; Überprüfungskonferenzen auf Ebene der Staats- und Regierungschefs und
- ein Konfliktverhütungszentrum wurde eingerichtet. Wir im Bundeskanzleramt hatten begonnen, über die Einrichtung eines europäischen Sicherheitsrates nachzudenken.“
Diese „Instrumente“, so Horst Teltschik im Interviewteil „sind viel zu wenig genutzt worden“. Und warum nicht? Teltschiks Erklärung: „Meine Erfahrung aus der Politik besagt, dass man jemanden als Motor braucht, der gewillt ist, aus der vorhandenen Grundlage und den benannten Instrumenten etwas zu erzwingen und durchzusetzen. Gorbatschow wurde kurz danach abgelöst. Wenn ich daran denke, wie eng die Beziehungen zwischen Bundeskanzler Kohl und dem russischen Präsidenten Jelzin waren, bin ich der Meinung, man hätte aus der Konstellation viel mehr machen müssen. Es fehlte der Motor. Genscher war auch ein Jahr später nicht mehr Außenminister. Bei den Amerikanern hat sich das Interesse von Europa abgewandt. So gab es auf keiner Seite jemanden, der es unbedingt wollte und durchsetzte, indem er wie eine Dampfwalze alles überrollte. Frankreich war nicht mehr präsent. Kohl musste sich auf die deutsche Einheit konzentrieren.“ (Und Teltschik selbst hatte das Bundeskanzleramt zum 1. Januar 1991 verlassen; er war zur Bertelsmann Stiftung gewechselt.) Die Ursachen für das Verspielen historischer Großchancen sind offenbar bisweilen von erschreckend unterkomplexer Banalität.
Von 1990 an gerechnet 18 Jahre später erfolgte quasi der Schlussakkord: Der russische „Präsident Medwedew hatte in seiner Rede 2008 in Berlin vorgeschlagen, einen rechtsgültigen Vertrag über gesamteuropäische Sicherheit zu verhandeln. Er blieb ohne Antwort aus dem Westen“, so Teltschik in seiner Festrede von 2016.
Diese Feststellung – „ohne Antwort aus dem Westen“ –, wiewohl völlig zutreffend, blendet allerdings den Anteil Russlands am Scheitern der eigenen Initiative aus. Denn nicht erfolgt war nach Medwedjews Rede eine, wie es neumodisch heute heißt, proaktive – also konsequent insistierende – diplomatische Verfolgung derselben. Etwa durch Unterbreitung eines entsprechenden Vertragsentwurfes an die Regierungen aller OSZE-Staaten (inklusive Vorstellungen zu Strukturen und Mechanismen einer gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur) und durch Drängen auf einen OSZE-Gipfel zu dieser Problematik, um einen multilateralen Verhandlungsprozess zum Vertragsabschluss in Gang zu setzen. Passiert war stattdessen, was man schon zu Zeiten der Sowjetunion wiederholt hatte beobachten müssen: Moskau unterbreitet international eine sicherheitspolitische Idee, erwartet anschließend offenbar, dass führende westliche Staaten sich vor den Karren spannen, und kommt, wenn das nicht geschieht, selbst nicht wieder darauf zurück. Oder allenfalls dann, wenn mal wieder ein Beleg dafür benötigt wird, dass russische Sicherheitsinteressen und Initiativen vom Westen ignoriert werden.
PS (samt einer persönlichen Reminiszenz): Im Personenregister des Sammelbandes findet sich folgender Eintrag – „Steinbach, Thilo, außenpolitischer Mitarbeiter von Lothar de Maizière 337, 351, 414, 544, 899, 917“.
Nur die ersten drei Seitenangaben beziehen sich dabei auf die Notate von Horst Teltschik, der Steinbach einmal als „den außenpolitischen Mitarbeiter von MP de Maizière“ aufführt und ein anderes Mal als dessen „Berater“, wobei er ihn fälschlich zum „Dr. Steinbach“ promoviert. (Der Duktus dieser Eintragungen ist nicht frei von einer gewissen Herablassung.) Tatsächlich war Steinbach Leiter der Abteilung 4 (Außen- und Sicherheitspolitik) im Amt des DDR-Ministerpräsidenten und damit Chef des Pendants zu Teltschiks Abteilung im Kanzleramt. Feststellen lassen hätte sich dies zumindest für die Macher der jetzigen aufwändigen Buchausgabe durch einfachen Abgleich mit dem Organigramm des Amtes des DDR-Ministerpräsidenten zur Zeit de Maizières, das im Bundesarchiv aufbewahrt wird und im Internet auffindbar ist.
Die anderen Seitenangaben im Personenregister gehen als Fehler zulasten des Herausgebers, denn bei den anderen „Fundstellen“ geht es nicht um Thilo, sondern einmal um Erika und zweimal um Peter Steinbach.
Apropos Herablassung: Die war – bis hin zu teilweise nur schlecht verhohlener Arroganz – nicht untypisch im Agieren westdeutscher gegenüber ostdeutschen Vertretern im Zuge der Vereinigungsprozesses; letztere galten ja ersteren als Laienschauspieler, ein Begriff, den auch Horst Teltschik im Interviewteil des Bandes – konkret gemünzt auf DDR-Außenminister Markus Meckel – benutzt.
Diese Herablassung zeigte sich im Amt des Ministerpräsidenten nicht zuletzt darin, dass seitens des Bundeskanzleramtes praktisch in jeder Abteilung westdeutsche Berater (Sprachgebrauch in Steinbachs Truppe: „Aufpasser“) platziert wurden.
In Horst Teltschiks Notaten findet sich dazu folgender Eintrag: Am 28. März 1990 „führt der BK mit Dr. Kabel, Leiter der Personalabteilung [des Kanzleramtes – W.S.], Dr. Reckers, seinem Stellvertreter, und mir ein Gespräch über die Möglichkeiten der personellen Unterstützung der neuen DDR-Regierung. Unter Federführung des BK-Amtes soll ein Konzept erarbeitet werden. Besonders wird es darauf ankommen, das Amt des neuen Ministerpräsidenten qualifiziert zu besetzen.“
Steinbach konnte beim MP, der zugleich sein Patenonkel ist, allerdings durchsetzen, dass für seine Abteilung dergleichen unterblieb.
Wiederum beide Seiten waren allerdings zugleich bemüht, das Geschmäckle dieser Art von Paternalismus nicht zum Gegenstand öffentlicher Aufmerksamkeit zu machen. So notierte Teltschik anlässlich eines Aufenthaltes in der Hauptstadt der DDR am 16. April 1990: „Das Ministerratsgebäude betreten wir durch einen Hintereingang. Beide Seiten bemühen sich ständig, bei den gemeinsamen Gesprächen nicht öffentlich aufzufallen, um den Eindruck einer ‚Fernsteuerung‘ durch Bonn zu vermeiden.“
Von der erwähnten Arroganz zeugt nicht zuletzt folgende Episode: Während einer der Beamtenrunden im Prozess der 2+4-Verhandlungen (zur abschließenden Regelung der äußeren Aspekte der deutschen Vereinigung) im Schloss Niederschönhausen, an der der Rezensent in seiner damaligen Funktion als Stellvertreter Steinbachs teilnahm, erging an ihn aus der westdeutschen Delegation eine persönliche Einladung zum Mittagessen. Der Einladende stellte sich als Frank Elbe vor, damaliger Leiter des Ministerbüros im Auswärtigen Amt. Ziel der Einladung: Dem Rezensenten wurde ziemlich unverblümt der Auftrag erteilt, dem DDR-Ministerpräsidenten die Aufforderung zu übermitteln, er möge die Delegation des DDR-Außenministeriums bei den 2+4-Verhandlungen, die den Verhandlungsfortgang immer wieder durch unsachgemäße Interventionen störe, doch bitte an die kurze Leine legen. Insbesondere die westdeutschen Berater der DDR-Delegation (mit am Verhandlungstisch auf DDR-Seite saß zum Beispiel Professor Ulrich Albrecht, Otto-Suhr-Institut, Freie Universität Berlin – W.S.) würden die Situation dazu missbrauchen, Kämpfe zu führen, die sie in der Bundesrepublik längst verloren hätten … Mit vergleichbarem Duktus notierte Teltschik zu einem am 9. Juni 1990 abgehaltenen 2+4-Treffen: „Die DDR-Delegation war erneut wenig hilfreich.“
Das bezog sich unter anderem darauf, dass seitens des DDR-Außenministeriums das polnische Begehren unterstützt wurde, die endgültige völkerrechtlich verbindliche westdeutsche Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze bereits vor Vollzug der deutschen Einheit vertraglich unter Dach und Fach zu bringen. Dazu war der Bundeskanzler aus innenpolitischen Gründen nicht bereit. Zwar stand für Kohl außer Frage – wie Horst Teltschik wiederholt vermerkte –, dass die deutsche Einheit ohne abschließende Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze nicht nur an der Sowjetunion, sondern auch an den USA und Frankreich gescheitert wäre. Aber Kohl wollte, so Teltschik, „keine unnötigen Diskussionen der Vertriebenen“ vor der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl vom 2. Dezember 1990.
Horst Teltschik: Die 329 Tage zur deutschen Einigung. Das vollständige Tagebuch mit Nachbetrachtungen, Rückblenden und Ausblicken (Hrsg.: Michael Gehler), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2024, 992 Seiten, 89,00 Euro.
Schlagwörter: Bundeskanzler, deutsche Einheit, Helmut Kohl, Horst Teltschik, Michael Gehler, Tagebuch, Wiedervereinigung, Wolfgang Schwarz