27. Jahrgang | Nummer 6 | 11. März 2024

Bemerkungen

Unzeitgemäße Gedanken

[…] Das gute, anständige Buch, die beste Waffe der Kultur, ist fast vollständig vom Büchermarkt verschwunden. Warum es verschwunden ist, ist eine Frage für sich. Nirgends findet man mehr ein vernünftiges, objektiv belehrendes Buch. Dafür haben sich Zeitungen vermehrt, die täglich die Menschen Haß und Feindschaft gegeneinander lehren, verleumden, im übelsten Schmutz wühlen, brüllen, mit den Zähnen knirschen und sich einbilden, auf diese Weise die Frage zu beantworten, wer am Ruin Rußlands schuld sei.

[…]

„Redefreiheit“ wird allmählich zu einem unanständigen Wort.

Natürlich: „im Kampf hat jeder das Recht, mit allem zuzuhauen, was ihm grade in die Hände fällt und wohin es grade trifft“; natürlich: „Politik ist ein schmutziges Geschäft“, und “der gewissenloseste Mensch ist der beste Politiker. […]

Welches Gift verbreitet und verspritzt man nicht auf schlechtem Zeitungspapier!

Lange genug hat der Russe zu seinem Gott gebetet: „Öffne meinen Mund!“ Jetzt ist der Mund geöffnet, und Ströme von Haß, Lüge, Heuchelei, Nein und Habgier kommen heraus. Wenn wenigstens Leidenschaft und Liebe sich darin äußern würden, aber weder Leidenschaft noch Liebe ist zu spüren. Zu spüren ist nur das hartnäckige – man darf wohl sagen – erfolgreiche Bestreben der Zensusklassen, die Demokratie zu isolieren, alle Fehler der Vergangenheit auf sie abzuwälzen und ihr Bedingungen zu stellen, die sie zwingen müssen, die Fehler und Sünden noch zu vergrößern.

Das ist gut ausgedacht und wird bereits recht gut durchgeführt.

Es ist jetzt völlig klar, daß man Demokrat meint, wenn man „Bolschewik“ schreibt, und es ist noch viel klarer, daß man morgen die Menschewiken verfolgen wird, weil sie Sozialisten sind, wenn man heute die Bolschewiken genug wegen des Maximalismus ihrer Theorien verfolgt; übermorgen wird man dann Jedinstwo (Die Einheit) angreifen, weil sie nicht mehr „loyal“ die geheiligten Interessen der „vernünftigen Leute“ vertritt. Die Demokratie ist kein unberührbares Heiligtum und muß deshalb ohne Zweifel auch kritisiert und negativ beurteilt werden dürfen. Aber zwischen den Begriffen Kritik und Verleumdung besteht ein wesentlicher Unterschied, auch wenn sie aus Buchstaben desselben Alphabets gebildet werden. Merkwürdigerweise wird dieser Unterschied von vielen gebildeten Leuten nicht begriffen! Natürlich, manche Führer der Demokratie „läuten die Glocken ohne in den Kirchenkalender geschaut zu haben“; vergessen wir aber nicht, daß die Führer der Zensusklassen auf diese Fehler mit einem „italienischen“ Streik antworten, der für das ganze Land verderblich ist; außerdem versetzen diese Führer den Bürger in Schrecken und haben auf diese Weise schon erreicht, daß er Briefe schreibt, wie z.B. den folgenden „Brief an die Provisorische Regierung“, den ich erhalten habe: „Die Revolution hat Rußland zugrunde gerichtet, weil man allen die Freiheit gegeben hat; jetzt herrscht überall Anarchie. Die Juden, die die Gleichberechtigung erhalten haben, freuen sich, richten aber das russische Volk wie eh und je zugrunde. Nur die Autokratie kann Rußland retten.“

Es ist nicht der erste Brief dieser Art, den ich erhielt. Man muß damit rechnen, daß die Zahl solcher vor Angst wahnsinnig gewordener Leute immer mehr zunehmen wird – die Presse sorgt bereits eifrig dafür. […]

„Das freie Wort“! Zuerst schien es, daß gerade das „freie Wort“ bei uns in Rußland die Achtung vor der Person und ihren Menschenrechten fördern würde. Da wir aber eine Epidemie des politischen Impressionismus erleben und im Bann flüchtiger „Tageseindrücke“ stehen, benutzen wir das „freie Wort“ nur zu wütenden Streitereien darüber, wer am Ruin Rußlands schuld ist. Darüber gibt es nichts zu streiten: alle sind schuld.

Jeder beschuldigt mehr oder weniger heuchlerisch jeden, und niemand tut etwas, um diesen Sturm der Gefühle die Kraft der Vernunft und des guten Willens entgegenzustellen.

Maxim Gorki (1917)
Der Beitrag wurde redaktionell leicht gekürzt.

 

US-Geheimdienste und Ukraine

Einem umfänglichen Bericht der New York Times vom 25. Februar 2024 zufolge besteht eine langjährige intensive Kooperation zwischen der CIA und anderen US-Geheimdiensten (sowie dem britischen Auslandsgeheimdienst MI6) und ukrainischen Partnern. Zum aktuellen Stand heißt es: „Die CIA und andere amerikanische Nachrichtendienste liefern Informationen für gezielte Raketenangriffe, verfolgen russische Truppenbewegungen und helfen bei der Unterstützung von Spionagenetzen.“ Des Weiteren unterstütze die CIA ein Netz „von Spionagebasen, das in den letzten acht Jahren errichtet wurde und 12 geheime Standorte entlang der russischen Grenze umfasst“. Dies sei „heute wichtiger denn je, da Russland in die Offensive geht und die Ukraine stärker auf Sabotage und Langstreckenraketenangriffe angewiesen ist“. Zugleich sei die Ukraine einer „der wichtigsten Partner Washingtons im Kampf gegen den Kreml“.

Laut New York Times nahm die gegenwärtige enge Kooperation ihren Anfang im Februar 2014. Allerdings hätte erst nach Beginn der russischen Aggression am 24. Februar 2022 „das Weiße Haus unter Biden […] die Spionagebehörden [ermächtigt], nachrichtendienstliche Unterstützung für tödliche Operationen gegen russische Kräfte […] zu leisten“ – wie etwa im folgenden Fall: „Im Juli 2022 entdeckten ukrainische Spione russische Konvois, die sich anschickten, eine strategische Brücke über den Fluss Dnipro zu überqueren, und meldeten dies dem MI6. Britische und amerikanische Geheimdienstmitarbeiter überprüften daraufhin in Echtzeit die ukrainischen Informationen anhand von Satellitenbildern. Der MI6 übermittelte die Bestätigung, woraufhin das ukrainische Militär das Feuer mit Raketen eröffnete und die Konvois zerstörte.“

Die Schweizer Weltwoche vermerkte zu dem Bericht des US-Blattes, dass die US- Geheimdienstbasen auch „für grenzüberschreitende Drohnen- und Raketenangriffe auf russisches Gebiet genutzt werden“ könnten, und hob überdies hervor: „Der russische Präsident Wladimir Putin hat die USA und die Nato schon mehrfach beschuldigt, die militärische und geheimdienstliche Infrastruktur in der Ukraine ausgebaut zu haben. Das war laut ihm auch die Hauptursache für den Einmarsch Russlands.“

gm

 

Germanist Dr. Ulrich Dittmann verstorben

Völlig überraschend wurde der Münchner Literaturwissenschaftler am 7. Februar 2024 durch einen Unfall aus dem Leben gerissen. Der 1937 in Berlin Geborene floh im geschichtsträchtigen Jahr 1953 mit seinen Eltern aus der DDR. Er hat Germanistik, Kunstgeschichte und Anglistik studiert. Durch seine jahrelange Mitarbeit an der historisch-kritischen Adalbert-Stifter-Ausgabe erwarb er sich bleibende Verdienste als Wissenschaftler und Editor. Promoviert hat er bei Professor Müller-Seiden über Thomas Mann. Sein zweiter Autor, mit dem er sich ganz ausgiebig befasste, wurde der bayrische Volksschriftsteller Oskar Maria Graf (1894-1967). Ganze 22 Jahre stand der Forscher an der Spitze der Graf-Gesellschaft. Noch an seinem letzten Tag saß er an einer Graf-Edition und abends am Graf-Stammtisch.

Der spätere Akademische Direktor begeisterte viele Studenten für den „bajuvarischen Gorki“ und er sorgte so dafür, dass am Münchner Stammtisch nicht ausschließlich Grauhaarige sitzen. Die Zahl seiner Graf-Publikationen, seiner Vorträge, seiner Ausstellungseröffnungen und Initiativen ist schwer zu ermitteln. In seinem Wohnort kämpfte er für eine Graf-Straße, einer seiner Enkel hört auf den Namen Oskar. Wichtiger wohl ist, dass Dittmann mit Hans Dollinger über Jahrzehnte das Graf-Jahrbuch redigierte. Vor allem seine im Allitera Verlag erschienene „kleine“, aber feine vierzehnbändige Graf-Taschenbuch-Ausgabe mit Texten, die etwas im Schatten der berühmten Bücher „Wir sind Gefangene“ und „Das Leben meiner Mutter“ stehen, wird bleiben.

Ulrich Dittmann war ein streitbarer politischer Mensch. Am 3. Februar diesen Jahres reihte er sich in Seefeld in eine Demonstration gegen den Rechtsextremismus ein. Er hörte zu und schaute hin. Nach dem „Umbruch“ 1989 interessierte ihn nicht nur der deutsch-deutsche Literaturstreit, sondern auch die Frage, wie man in West und Ost mit „seinem“ Autor umging. Er wusste, warum manche Bücher Grafs in der DDR erschienen und in der Bundesrepublik nicht. Im Osten machte man aus politischen Gründen einen Bogen um den Wien-Roman „Der Abgrund“ und um die Autobiografie „Gelächter von außen“. Auch mit einigen Geschichten aus dem „Bayrischen Dekameron“ tat man sich in der DDR zunächst schwer. Der Kunstkenner Dittmann wusste indessen die Liebe ostdeutscher Graphiker für Graf-Texte zu schätzen.

Mit Ulrich Dittmann stand ich – als nach der „Wende“ ausgemusterter Graf-Forscher aus dem Osten – erstmals vor Oskars Geburtshaus, vor seiner Schule, vor seinem Grab. Der Vorsitzende der Graf-Gesellschaft lud mich zum 100. Geburtstag des Erzählers ein, auch stellte er mich am Stammtisch vor. Auf zwei Konferenzen konnte ich sprechen, mehrfach im Jahrbuch und im Graf-Journal veröffentlichen. Dittmann stiftete ebenso den Kontakt zum Münchner Kirchheim Verlag, der zwei meiner Graf-Bücher veröffentlichte. Kurzum, der nun verstorbene Mentor und Freund hatte dafür gesorgt, dass ich meine Würde zurückbekam, dass ich als Wissenschaftler wieder Boden unter den Füßen hatte.

Wie kann ich diesem solidarischen Menschen danken? Nur, indem ich mit anderen „Grafologen“ dafür sorge, dass unser gemeinsames Projekt– eine kommentierte Sammlung der Texte Grafs, die er für den New Yorker Aufbau geschrieben hatte – zu einem guten Ende kommt.

Ulrich Kaufmann

 

Kanonen statt Butter

Eigentlich seltsam, daß diese griffige Metapher – einstmals ein geflügeltes Wort – aus der heutigen Journalisten- und Politikersprache völlig verbannt zu sein scheint. Und dabei würde sie doch die schönsten Anwendungsmöglichkeiten bieten, für die Befürworter der neuerlichen Rüstungseuphorie ebenso wie für deren Kritiker. Warum also verwendet sie niemand? Vermutlich ist sie für die einen zu brutal, zu eindeutig. Es gibt subtilere sprachliche Möglichkeiten zur „Kriegsertüchtigung“, um bei dem von Verteidigungsminister Pistorius gepägten Wort zu bleiben. Für andere mag gelten, daß sie sich auf kein Nazi-Vokabular einlassen möchten. Historiker schreiben die Parole nämlich sowohl Goebbels als auch Rudolf Hess zu; beide sollen sie schon 1936 in ihren Reden zitiert haben. Auch Göring ist als vermeintlicher Wortschöpfer im Gespräch.

Sie kann aber auch älteren Datums sein und aus der Zeit des ersten Weltkriegs stammen. Ich glaube mich erinnern zu können, sie erstmals von meiner Mutter gehört zu haben, die als Vierzehnjährige den tragischen „Steckrübenwinter“ von 1916/17 miterlebt hatte.

Und damit bin ich auch schon bei meinem eigentlichen Thema: die „große“ Geschichte in einer kleinen; „Kanonen statt Butter“ als persönliche Erinnerung an ein Kindheitserlebnis.

Es muß Ende August 1939 gewesen sein. Ich war gerade neun geworden, die großen Ferien lagen hinter uns, würde es jetzt Krieg geben? Alles deutete darauf hin. Wir hatten Manöver-Einquartierung, Luftschutz wurde geprobt, von Einberufungen war die Rede und: es gab Lebensmittelkarten. Ab 28. August waren die meisten Lebensmittel nur noch „auf Marken“ erhältlich, darunter selbstverständlich auch Butter.

Dieses Heiligtum deutscher Eßkultur war – aus welchen ökonomischen Zwängen auch Immer – sogar schon vor diesem Stichtag zwangsrationiert; man mußte sich also einschränken. Und genau zu der Zeit erhielten wir Besuch, Verwandte, meine Oma. Und die sollten hier-von natürlich nichts merken. Also kam meine Mutter auf die Idee, bei den belegten Broten für die eigene Familie Margarine zu verwenden. Und fast wäre der kleine Schwindel auch geglückt, hätte ich beim Abendessen nicht lauthals bemerkt, daß die Butter heute aber komisch schmecke.

Wirklich erzählenswert wird diese Geschichte allerdings erst dadurch, daß sie auch eine passende Pointe hatte. Für die Dauer des erwähnten Manövers kam ich nämlich ständig an einer richtigen Kanone vorbei, einem Flakgeschütz, das neben meinem Schulweg auf einem abgeernteten Feld stand; ob mit oder ohne Butter auf meinem Pausenbrot, ist leider nicht verbürgt.

Derweil schrieb Brecht im Exil: „Sonst aber wäre zu sagen, daß Kanonen auf den leeren Magen nicht jeden Volkes Sache sind.“

Gerhard Schewe

 

Von Butter und Kanonen

„Kanonen und Butter, es wäre schön, wenn das ginge“, so Clemens ­Fuest, der Präsident des Wirtschaftsforschungsinstituts IFO, kürzlich bei Maybritt Illner, „aber das ist Schlaraffenland, das geht nicht.“

Man ahnte es ja schon: Die Bundeswehr wieder kriegstüchtig zu machen, dass wird mit den 100 Milliarden Sonderschulden allein nicht zu machen sein. Wie tief dafür in die Tasche gegriffen werden muss, hat der Bundeskanzler gerade auf der Münchner Sicherheitskonferenz vorgerechnet: „„Deutschland investiert […] in den 20er-, den 30er-Jahren und darüber hinaus zwei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts in die Verteidigung.“

In wessen Taschen aber soll dafür gegriffen werden?

„Rente oder Rüstung?“, fragte die taz. Roderich Kiesewetter (MdB-CDU) hat eine zusätzliche Idee. Nicht alles könne man künftig noch finanzieren: „Das muss der Bevölkerung erklärt werden. Dann ist der individuelle Wohlstand vielleicht für einige Jahre etwas eingeschränkt und man hat nicht mehr zweimal im Jahr Urlaub, sondern nur einmal […].“ Und Bundesfinanzminister Lindner (FDP) sieht einen dritten Topf, wenn er ein dreijähriges Moratorium bei Sozialausgaben fordert.

Trotzdem wäre es natürlich stark übertrieben, deswegen bereits von einem Kurs der Bundesregierung zu sprechen, der auf – um die sehr alte Metapher in ihrer ursprünglichen Formulierung zu bemühen – Kanonen statt Butter* hinausläuft, denn die knapp 22 Prozent der deutschen Bevölkerung, die sich schon jetzt keine einwöchige Urlaubsreise leisten können (Stand: 2022), wird es ja quasi gar nicht betreffen. Und diejenigen, die die Finanzierungsvorschläge machen und auf die eine oder andere Weise auch durchsetzen werden, die betrifft es selbstredend auch nicht. So sind zum 1. März 2024 folgende erfreuliche Verbesserungen in Kraft getreten:

Das Amtsgehalt von Kanzler Olaf Scholz, samt Ortszuschlag und Stellenzulage, wurde sich von zuvor 20.702 Euro auf 22.083 Euro erhöht; ein Plus von 1.381 Euro gleich 6,67 Prozent.

Ein verheirateter Minister ohne Kinder wie Christian Lindner hatte bisher ein Amtsgehalt inklusive Zulagen von 16.816 Euro, nun sind es 17.990 Euro und damit 1.174 Euro gleich 6,98 Prozent mehr.

Und Bundestagsabgeordnete wie Roderich Kiesewetter gehen ebenfalls nicht leer aus, denn deren sogenannte Brutto-Grundentschädigung, auch Diäten genannt, wird alljährlich quasi automatisch erhöht – so letztens zum 1. Juli 2023 auf vorerst 127.100 Euro im Jahr.

Gänzlich unmöglich scheint das Schlaraffenland also nicht …

am

* – Hitler-Stellvertreter Rudolf Hess im Oktober 1936: „[…] wir sind bereit, auch künftig, wenn notwendig, mal etwas weniger Fett, etwas weniger Schweinefleisch, ein paar Eier weniger zu verzehren. […] Wir wissen, dass die Devisen, die wir dadurch sparen, der Aufrüstung zugutekommen. Auch heute gilt die Parole: Kanonen statt Butter.“ Eigentlicher Stichwortgeber war allerdings bereits zu Beginn des Jahres 1936 Reichspropagandaminister Joseph Goebbels gewesen, auf einem Berliner Gauparteitag der NSDAP: „Wir werden zur Not auch einmal ohne Butter fertig werden, niemals aber ohne Kanonen!“

 

Film ab

Hannah Arendt hat ihre Erkenntnis von der „Banalität des Bösen“ während des Jerusalemer Prozesses gegen den Holocaust-Organisator Adolf Eichmann im Jahre 1961 formuliert. Cineastisch so subtil wie zugleich zutiefst verstörend umgesetzt wie in „The Zone of Interest“ wurden die Banalität des Bösen allerdings bisher noch nie – in Gestalt der piefigen Familienidylle des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß nebst Gattin und Kinderschar samt Garten, Gewächshaus und Planschbecken unmittelbar neben dem Vernichtungslager Birkenau. Da wird Geburtstag gefeiert, da wird wegen sexueller Bedürftigkeit auch mal nicht die eigene Gattin behelligt, da gehört ein rassiger Hund ebenso zum Haushalt, wie die Bemerkung der Hausfrau gegenüber einer polnischen Bediensteten, dass auf ein Wort von ihr ihr Mann die Asche dieser Frau über den Feldern von Babice verstreuen würde, und da freuen sich die Ehegatten von Herzen, als der zuvor unerwünscht versetzte Höß nach Hause zurückkehren darf. Als fachlich einfach Versiertester. Zwecks Vernichtung von 750.000 ungarischen Juden.

Ein amerikanischer Militärpsychologe, der Höß nach dem Kriege untersucht hatte, nannte ihn einen „durch und durch unscheinbaren Mann“. Selbst Massenmörder, die industrielle Menschenvernichtung betreiben und dabei bestrebt sind, ihrem Auftrag so effizient wie möglich nachzukommen, sind also keine mentalen oder sonst wie deformierten Monster, sondern entstammen auch einfach bloß der Mitte der Gesellschafft (Kleinbürger, Proletarier, Intellektuelle). Sie sind Individuen, die einer entsprechenden gruppendynamischen Konditionierung nicht zuletzt deswegen nichts entgegenzusetzen haben, weil ihre persönlichen Lebensumstände sich dank ihrer Tätigkeit spürbar verbessern.

Die Täter auf der operativen Ebene im Dritten Reich waren, so Regisseur Glazer, „ganz normale Menschen“. Und: Der Zuschauer soll „sich selbst auf die Figuren projizieren, sich selbst in ihnen sehen. Sich wiedererkennen in ihrer banalen Normalität.“

Wer es nach diesem Film immer noch nicht begriffen haben sollte, bei dem ist jeder Unterrichtungsversuch vergeblich: Nie wieder ist nicht nur jetzt, sondern immerwährend!

Das reale Grauen der deutschen Vernichtungslager – die Anlieferung der Todgeweihten in Viehwaggons, das Selektieren an der Rampe, das Entkleiden und Hineintreiben in die vorgeblichen Duschräume, schließlich das qualvolle Sterben im Gas und anschließende Einäschern der Leichenmassen – zeigt Glazer nicht. Er wirft keinen Blick hinter die Mauer, die das Höß-Grundstück vom Lager trennt. Doch er macht die Vernichtungsmaschinerie durch ihre pausenlos hörbare Geräuschkulisse trotzdem allgegenwärtig.

Dazu erklärte Glazer: „Ich wollte auf keinen Fall die Gräueltaten nachstellen. Die Gewalt zeigen. Weder nachgespielt noch als Archivmaterial. Ich teile Claude Lanzmanns Standpunkt, dass dieser Horror nicht dargestellt werden kann.“

Das mag im Großen und Ganzen stimmen, doch zumindest einmal ist es doch gelungen, ohne, so nochmals Glazer, „den wahren Horror in ein bloßes Genre“ zu verwandeln – in dem nahezu dokumentarischen, genau hinter der Mauer in Auschwitz-Birkenau spielenden Filmdrama „Die Grauzone“ von Tim Blake Nelson aus dem Jahre 2001. Diesen Streifen hätte man parallel zu „The Zone of Interest“ erneut in die Kinos bringen sollen.

Clemens Fischer

„The Zone of Interest“, Regie und Drehbuch: Jonathan Glazer; derzeit in den Kinos.

 

Musikalischer Wutbürger

„Wer wohnt denn schon in Düsseldorf?“ fragte einst Herbert Grönemeyer voller Hohn in der selbstkomponierten Hymne auf seine Heimatstadt Bochum. Nun, Düsseldorf ist zumindest nicht als musikalische Hochburg bekannt. Doch startete gerade hier Ende der 70er Jahre die Band Fehlfarben um den begnadeten Sänger und Texter Peter Hein.

Ihr größter Hit „Ein Jahr (Es geht voran)“ taucht(e) nicht selten im Kontext der Neuen Deutschen Welle – Bewegung auf. Der Spaßfaktor bei den Liedern von Fehlfarben ist jedoch relativ niedrig. Dafür ist der Depri-Faktor bei „Paul ist tot“ auf ihrem Debütalbum „Monarchie und Alltag“ extrem hoch angesiedelt.

Peter Hein agitiert mit Vehemenz gegen das falsche Leben, gegen die herrschenden Zustände und Zumutungen. Für verständnisloses Stirnrunzeln sorgte er, als er nach dem ersten Album auf eine Fortsetzung seiner musikalischen Karriere verzichtete und den Fokus auf seine berufliche Karriere bei XEROX legte. Doch der Konzern floppte, die böse Fratze des Kapitalismus wurde auch hier sichtbar und Peter Hein knüpfte wieder an seine Rolle als musikalischer Wutbürger an.

16 Jahre nach der ursprünglichen Veröffentlichung wurde im Vorjahr das Fehlfarben-Album „Handbuch für die Welt“ ein zweites Mal aufgelegt. Und diese Wiederveröffentlichung wirkt keinesfalls angestaubt. Mit grimmigem Humor behaupten die älter gewordenen Rebellen ihr Nichteinverstandensein mit dem Gang der Dinge. Im ersten Stück „Anders geblieben“ betonen sie im Refrain: „Ja wir sind anders… anders geblieben. / Spielen andere Spiele … haben andere Ziele.“ Treibende Bassrhythmen und stakkatoartige Gitarrenpassagen verstärken die inhaltlichen Botschaften. Und es lohnt sich wirklich genau hinzuhören.

Denn die Texte sind eine wahre Fundgrube. In „Politdisko“ poltert es: „Bestimmt vom Zwang zur Zukunft, /fehlt uns die Gegenwart.“ Oder: „Das Schlechte muss sich gut verkaufen. / Was andres kriegst Du nicht zu sehn.“ Ja, auch gute Musik „made in Germany“ gibt es zu kaufen. Und nach mehrmaligem Hören wird aus dem verzweifelten Schwermut zweifelsohne ein schwerer Mut. Nur so lassen sich die dicken Bretter im Leben bohren …

Thomas Rüger

Fehlfarben: Handbuch für die Welt, CD, Tapete Records, 2023, 16,00 Euro.

 

Aus anderen Quellen

Dass Russland der NATO in einem direkten militärischen Konflikt im konventionellen Bereich in Größenordnungen unterlegen wäre, war in diesem Magazin bereits im Sommer 2022 nachzulesen (Blättchen 15/2022). Durch die seither stark forcierte westliche Aufrüstung wie auch durch die russischen Kriegsverluste in der Ukraine vergrößert sich die konventionelle Überlegenheit der NATO weiter. Die Eckdaten zum aktuellen Stand sind im manager magazin zu finden.

Alexandra Knape: Die mächtigsten Armeen der Welt, manager-magazin.de, 29.02.2024. Zum Volltext hier klicken.

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Es ist schon einige Zeit her, dass sich dieses Magazin mit dem deutsch-französischen Projekt eines Future Combat Air System (FCAS) befasst hat (Blättchen 16/2021). Christoph Marischka analysiert den derzeitigen Stand des Vorhabens: „Neben der Realisierung des FCAS selbst – die trotz angelaufener Entwicklung noch in den Sternen steht – streben die beteiligten Staaten und die EU hierüber auch eine Technologieführerschaft in militärisch relevanten Feldern wie der KI an und rechnen mit ‚Ausstrahlungseffekten‘ in den zivilen Bereich und die zivile Technologieentwicklung.“

Christoph Marischka: Luftkampfsystem FCAS. Der europäische Weg zur Militarisierung der Künstlichen Intelligenz, IMI-Studie 5/2023, 18.12.2023. Zum Volltext hier klicken.

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Thomas Greven berichtet von der diesjährigen Conservative Political Action Conference, dem Kongress der US-amerikanischen ultrakonservativen Trump-Fans, der gezeigt habe, „wie weit nach rechts außen die Republikaner getrieben sind“. Und: „Eine Maßnahme für die mögliche zweite Trump-Präsidentschaft scheint Konsens zu sein: Es bedarf der größten Deportationsmaßnahme, die das Land je gesehen hat. Die Redner übertreffen einander nur bei den Zahlen, von fünf bis 15 Millionen abzuschiebenden Menschen ist alles dabei.“

Thomas Greven: Fest der Speichellecker, ipg-journal.de, 27.02.2024. Zum Volltext hier klicken.

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„17.023 Menschen in 12 EU-Staaten wurden online befragt, darunter auch in Deutschland“, so Petra Erler: „Die Ergebnisse zeigen zunächst, dass dieser Krieg in der Öffentlichkeit sehr präsent ist, und die allermeisten Menschen sich darüber Gedanken machen. Was sie erwarten, bzw. selbst tun würden, ist allerdings grundverschieden von dem, was deutsche und europäische Politik anbietet. Gewiss, Umfragen sind Momentaufnahmen, denen man nicht hinterherlaufen, sollte […]. Aber wir haben Europawahlen und überdies noch drei Wahlen in Deutschland. Da lohnt sich schon ein genauer Blick in Volkes Gemütslage.“

Petra Erler: Eine Mehrheit will verhandelten Frieden, aber in Deutschland blühen Kriegsphantasien, petraerler.substack.com, 29.02.2024. Zum Volltext hier klicken.

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„Luise F. Pusch, eine Ikone der Frauen- wie der Lesbenbewegung, wurde als Pionierin der feministischen Linguistik berühmt“, vermerkt Urs Bühler und fährt fort: „In Amerika war schon Vorarbeit geleistet worden, als sie und ihre auf Gesprächsanalysen spezialisierte Weggefährtin Senta Trömel-Plötz die Lunte für den Urknall dieser Disziplin im deutschen Sprachraum legten: Die Anglistin Pusch, Spezialgebiet Grammatik, setzte ihre Nadelstiche mit Buchtiteln wie ‚Alle Menschen werden Schwestern‘ und ‚Das Deutsche als Männersprache‘ (1984).“

Urs Bühler: Die GeisterInnen, die sie rief: Weshalb die Gender-Pionierin Luise F. Pusch heute genderkritisch ist, nzz.ch, 06.01.2024. Zum Volltext hier klicken.

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„Der jüngste Fall stellt die Absurditäten des Cancelns besonders deutlich vor Augen“, so Jürgen Kaube, einer der Herausgeber der FAZ; sein Kommentar: „Es ist wie bei anderen Beispielen […]: Sie sind von einer solchen Dummheit, dass es wehtut. Der Name des größten deutschsprachigen Kinderbuchautors, er soll nicht mehr zu einer Schule passen.“ Die befindet sich im bayerischen Pullach und hat den Namen Otfried-Preußler-Gymnasium abgelegt. Einzelheiten des Falles hat Knut Cordsen zusammengetragen.

Knut Cordsen: Otfried-Preußler-Gymnasium Pullach will Namen ändern, br.de, 22.02.2024. Zum Volltext hier klicken.

Zusammengetragen von Wolfgang Schwarz.

 

Letzte Meldung

Aktuellen Medienberichten zufolge belegt eine Analyse des Meinungsforschungsinstituts Allensbach einen dramatischen Imageverfall der Grünen. War die Partei 2019 die mit Abstand am positivsten bewertete politische Kraft, wurden sie 2023 nächst der AfD nur am zweitschlechtesten bewertet. Bei der Bundestagswahl 2025 sei ein Abrutschen in die Nähe der Fünfprozenthürde möglich. Dazu äußerte Wolfgang Schroeder, Politikwissenschaftler an der Universität Kassel: „Die Grünen sind innerhalb kurzer Zeit vom medial gefeierten Hoffnungsträger für einen gewissen Teil der Bevölkerung zu einer diabolischen Instanz geworden.“

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