25. Jahrgang | Nummer 23 | 7. November 2022

Bemerkungen

Bananenschalen

Man kann auch auf Wörtern ausrutschen und sich üble Blessuren infolge verbalen Sturzes zufügen. Die Diagnose lautet dann zumeist: erhebliche Glaubwürdigkeitsdezifizite.

Einer dieser rutschigen, extrem virulenten Begriffe lautet „Sicherheitsinteressen“, oft in Verbindung mit „legitim“ gebraucht. Gibt es eigentlich illegitime Sicherheitsinteressen? Verwendet wird das Wort immer dann, wenn es gilt, aggressives Verhalten zu entschuldigen. Benutzer dieses Begriffes waren in der Geschichte immer die Angreifer und deren advocati diaboli, in deren eigenem Verständnis also die Guten: „Legitime Sicherheitsinteressen“ haben Angegriffene einfach nicht zu haben. Basta!

Im Bedeutungsumfeld des Begriffs liegen Worte wie „Präventivkrieg“ oder „Erstschlag“. Stammvater der Denke, die zu unserem heutigen Begriff führte, war der knurrige römische Ackermann Cato der Ältere (234–149 v. u. Z.). Der meinte, es liege im Interesse der römischen Sicherheit, dass Carthago zerstört werden müsse. Es wurde zerstört. Im Interesse der römischen Sicherheit. Es war auch im Interesse der römischen Sicherheit, Cleopatra auszuschalten – die zuvor aus Sicherheitsinteresse ihre halbe Familie umbringen ließ – und Ägypten zu besetzen. Wie heute ging es seinerzeit um Getreidelieferungen. Erdgas benutzte man nur zu rituellen Zwecken in den sumpfigen Felstälern Persiens.

Der Unterschied? Weder Rom noch Carthago und erst recht nicht das Reich der Pharaonen verfügten über Atomwaffen. Die Gemeinsamkeit: Alle hatten genug Soldschreiber, die ihre Sicherheitsinteressen dem Rest der Welt überaus geschickt unterjubelten. Manche glauben bis heute daran. Geschichtsbuchschreiber zum Beispiel. Und Journalisten.

Was kann man daraus lernen? Wenn jemand mit dem Begriff „Sicherheitsinteressen“ (auch „legitimen“) daherkommt, sollte man nach „Lieferketten“ fragen. Aber da liegt schon die nächste Bananenschale…

W. Brauer

War Graf Koks im Harz?

„Entwirf deinen Reiseplan im Großen – und laß dich von der bunten Stunde treiben“, schrieb Peter Panter, von dem alle Blättchen-Leser wissen, dass es eins der Pseudonyme Kurt Tucholskys war. Die seinem Werk gewidmete literarische Gesellschaft hatte ihn in diesem Jahr als Reiseschriftsteller in den Mittelpunkt gestellt und war dafür auf den Sonnenberg in den Harz gereist. Hier gibt es mit dem Internationalen Haus Sonnenberg ein Begegnungs- und Bildungszentrum, das sich der Völkerverständigung widmet. Der Ort wurde nicht nur wegen der engen Verbindung zur Kurt Tucholsky-Gesellschaft (KTG) gewählt, sondern auch, weil der Meister als Peter Panter in der Weltbühne 1/1924 den Text „Kleine Reise 1923“ veröffentlichte, in dem ein gewisser Graf Koks (hinter dem der Autor vermutet werden kann) in Damenbegleitung mit dem Zug die Gegend um Goslar besucht. Panter zitiert Heinrich Heine, der das Rathaus zu Goslar als „weißangestrichene Wachtstube“ bezeichnete und meint: „Wenn man ausstieg, war noch gar nichts. Goslar fing nicht am Bahnhof an.“ Panter teilt diese und jene Beobachtung mit, die nicht immer mit dem heutigen Zustand Goslars in Übereinstimmung zu bringen ist. Die Tagungsteilnehmer überprüften es bei einem Stadtrundgang mit Claus Jähner, der lange Jahre die Geschicke des Sonnenberg-Kreises leitete. Er führte die Gesellschaft auch ins Hotel Achtermann, wo die beschriebene Bismarck-Nische noch heute zu bewundern ist. Aber, waren Tucholsky, Panter oder Graf Koks wirklich in Goslar? Hat der Autor das nur nach Beschreibungen geschildert? Das kann vermutet werden. Jähner machte die Gesellschaft auf ein heute vergessenes Gedicht von Theobald Tiger (auch Tucholsky) aufmerksam, in dem er in der Weltbühne 1930 die lange in Goslar lebende Frauenrechtlerin Kathinka von Kardoff-Oheimb verspottete, der er als Bürgerlich-liberaler das soziale Engagement nicht so recht abnahm und sie möglicherweise verkannte.

In einem Vortrag analysierte der Londoner Ehrenvorsitzende der KTG, Dr. Ian King, die „Kleine Reise 1923“ und stellte anhand vieler Beispiele fest, dass Goslar und der Harz Tucholsky in dieser vermeintlichen Reisebeschreibung wie in vielen seiner Texte nur der Aufhänger waren, um die politische Atmosphäre der Zeit aufs Korn zu nehmen.

Das französische KTG-Mitglied Gabriel Weissberg hat ein Buch über Tucholskys Reisebericht „Ein Pyrenäenbuch“ geschrieben. Seinen Vortrag konnte er nicht selbst halten, ließ ihn verlesen und kam zu dem Schluss: „Tucholsky langweilte sich oft mitten in der Natur! Und nicht nur in den Pyrenäen! Natur ohne Menschen war für ihn uninteressant.“ So kommen in dem Buch über die Pyrenäen, die er als Peter Panter wirklich besuchte, von Land und Leuten vor allem letztere vor: mit ihren Sorgen und kleinen Freuden und ihren politischen Ansichten. Doch er war auch nicht faul: „Wandern, sich abmühen, klettern, rutschen, klimmen, herausholen, was in einem Körper drinsteckt, auch das ist Reisen“, schrieb er in seinem „Pyrenäenbuch“.

Wie nicht anders zu erwarten, suchte die Gesellschaft auf Tucholskys geistigen Spuren deutliche politische Anregungen. Dafür stand der Journalist, Völkerrechtler und Friedensforscher Andreas Zumach Rede und Antwort. Er hat die deutsche wie auch die russische Außenpolitik in den letzten dreieinhalb Jahrzehnten meist aus der Nähe als Korrespondent in Genf und bei der UNO betrachten können und zeichnete den Tagungsgästen ein ausgewogenes Bild der Entwicklung von Nato und Warschauer Pakt mit uneingelösten Versprechungen und demagogischen Behauptungen. Er wies kenntnisreich auf die Vorgeschichte des russischen Überfalls auf die Ukraine hin, die von unseren Medien gern ausgeblendet wird. Das Entsetzen, das Tucholsky angesichts dieser Eskalation befallen hätte, kann sich jeder ausmalen, der seine Prophezeiung ernst nimmt: „Es wird die Zeit kommen, wo man pathoslos und sachlich einsehen wird, daß es klüger und ökonomischer ist, keine Kriege zu führen.“

Frank Burkhard

Fahndung nach einem Telefonbuch

„Alles, was man für einen Krimi braucht, sind ein guter Anfang und ein Telefonbuch, damit die Namen stimmen“, schrieb 1954 der belgische Romancier und Kriminalschriftsteller Georges Simenon, der Erfinder des berühmten Kommissars Jules Maigret. Fälle sind das Salz der Kriminalliteratur, die man sich erst einmal ausdenken muss. Für die Kriminalbeamten ist der Anfang der Untersuchung immer gegeben. Es ist etwas passiert, und das Verbrechen muss untersucht, der oder die Täter müssen ermittelt werden. Nicht mehr und nicht weniger.

Zu diesem ewigen Thema hat der Weser-Kurier am 26. September 2022 nun einen sehr grotesken Beitrag geleistet. Das Sachgebiet „Cold Case“ der Lüneburger Polizei ermittelt seit 2017 wieder in einem Fall, der sich 1989 zugetragen hatte, wobei „Cold Case“ einfach „Kalter Fall“ heißt. Gemeint ist, etwas laienhaft und einfach ausgedrückt, ein Altfall, der immer noch nicht aufgeklärt ist. Wie die zwei Doppelmorde in der Gemeinde Göhrde im niedersächsischen Landkreis Lüchow-Dannenberg.

Der gewaltsame Tod von zwei Paaren im Staatsforst vom Sommer 1989 ist bis heute nicht restlos aufgeklärt. Der damalige hauptverdächtige Friedhofsgärtner Kurt-Werner Wichmann beging 1993 in der Untersuchungshaft Selbstmord. Nach 24 Jahren (!!!) gab die Polizei Niedersachsens bekannt, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit Wichmann als Göhrde-Mörder festgestellt habe. Immerhin. Aber die Geschichte geht noch mit einer ureigenen Dramatik weiter. Denn bei der weiteren Untersuchung der Göhrde-Morde erhofften die Ermittler nun von einem Hamburger Telefonbuch aus dem Jahr 1989 weitere Ermittlungsansätze.

Die Polizei bat im Juli 2022 in einem Aufruf die Bevölkerung um Mithilfe, weil sie in dem Kriminalfall einer bisher nicht verfolgten Spur nachgehe. Sie wolle bestimmte damalige Telefonnummern mit der Vorwahl 040 abgleichen. Vermutlich kennen die heutigen Beamten Telefonbücher nur noch von Fotos aus dem Internet oder von ihren Großeltern, denn beim zuständigen Telefonbuchverlag oder in Bibliotheken oder gar bei den Hamburger Kollegen nachzufragen – das war offenbar keine Option.

Die Bürger spendeten nun der Polizei wacker Telefonbücher, nicht nur aus dem Jahr 1989, sondern auch aus den Jahren 1990 und 1991. „Wir haben jetzt keine Lücken mehr in unserem Archiv“, erklärte die Polizeisprecherin Julia Graefe in Lüneburg mit Stolz. Das 33 Jahre alte Hamburger Telefonbuch habe die Kriminalbeamten jedenfalls weitergebracht. Die Polizei prüft jetzt Hinweise auf einen mutmaßlichen Mittäter …

Was legte doch Sir Arthur Conan Doyle in seiner Sherlock-Holmes-Geschichte „Wisteria Lodge“ seinem Superdetektiv in den Mund? „… aber – wie ich schon Gelegenheit hatte anzumerken, vom Grotesken zum Schrecklichen ist es nur ein Schritt.“

Gerhard Jaap

Butterstulle

von Eckehard Mieder

für Marc B.

Ist es rechtens, den Stein, den das Meer
glatt poliert hat und flach und geeignet,
von mir übers Wasser als Butterstulle
zu werfen zurück auf den Grund, damit es
weitere tausend und tausend Jahre braucht, bis
ein Junge von elf Jahren (von mir aus neun),
ihn am Strand findet, trocken und geeignet,
als Butterstulle hinausgeworfen zu werden, um
mit klopfendem Herzen zu zählen, wie er
drei, vier, fünfmal springt (weil er nicht
versinken will, weil er sich wehrt, weil er
das Spiel kennt), ehe er abtaucht und wartet
auf die Hand des nächsten Jungen, der ihn,
nachdem er ein paar Jahre in der Sonne lag und
träumte, einer der Sterne zu sein, die er nächtens
als seine Verwandten im dunklen Meer Oben sah,
und er hatte noch immer die Sprache der
Muscheln nicht gelernt, die ihn umlagerten und
unter den Schritten von Menschen knirschend
zerbrachen; wenigstens das konnte ihm nicht passieren.

10. Oktober 2022

Film ab

Was es gegen Kriege und Kriegsgräuel helfen soll, noch einmal mehr cineastisch in Szene zu setzen, wie Soldaten sich im Falle des Falles in Schützengräben und auf Schlachtfeldern (in diesem Falle des Ersten Weltkrieges) auf infernalische Weise gegenseitig meucheln, im Nahkampf mit Handspaten archaisch erschlagen oder durch Distanzwaffen vom MG über Artillerie bis Tiefflieger abschlachten, diese Frage beantwortet nach dem Scheitern aller bisherigen Versuche auch die erste deutsche Verfilmung von Remarques Klassiker „Im Westen nichts Neues“ nicht. Ungeachtet dessen, dass die Intensität der Bilder des Films die der großen Weltkriegs-eins-Gemälde und -Grafiken von Otto Dix, von denen sich die Macher offenbar inspirieren ließen, szenenweise durchaus erreicht.

Wahrscheinlich geht der Anspruch aber einfach fehl. Das Verrecken oder verkrüppelte Dahinsiechen des Kanonenfutters ging den Anzettlern von und Befehlshabern in Kriegen schon immer am Ar … vorbei. Wie jederzeit anhand der aktuellen Kriege in der Welt und der Berichterstattung darüber zu beobachten ist.

Deswegen Regisseur Edward Berger ob seines schockierenden Naturalismus bloßen sensationsgeilen Voyeurismus zu unterstellen wäre trotzdem fehl am Platze. Jungen und erwachseneren Menschen, die gern für die Freiheit der Ukraine oder ein anderes hehres Ziel in einen der Kriege dieser Welt ziehen wollen, sei der Film vielmehr als Pflichtlektion verordnet. Wenn sie danach immer noch ziehen wollen, dann ist ihnen wirklich nicht zu helfen …

Warum Berger allerdings auf Remarques Schlusspointe verzichtet, dessen Titel er ja gerade beibehält und dessen Handlungsführung er noch in der Schlusssequenz folgt, bleibt sein Geheimnis. Denn diese Pointe bringt die ganze barbarische Sinnlosigkeit des Krieges für das Kanonenfutter auf den Punkt, indem zum Helden des Buches lapidar mitgeteilt wird: „Er fiel im Oktober 1918, an einem Tage, der so ruhig und still war an der ganzen Front, daß der Heeresbericht sich nur auf den Satz beschränkte, im Westen sei nichts Neues zu melden.“

Clemens Fischer

„Im Westen nichts Neues“, Regie: Edward Berger. Derzeit in den Kinos und bei Netflix.

Ein königliches Leben ohne Hinrichtung?

Vor wenigen Tagen am 30. Oktober wurde die Uraufführung von Peter Jordans und Leonhard Koppelmanns Komödie „Marie-Antoinette oder Kuchen für alle!“ gefeiert. Es ist eine der letzten Inszenierungen für die Berliner Komödie am Kurfürstendamm in ihrer Ausweichspielstätte im Schiller Theater. Und zwar eine insgesamt sehr unterhaltsame!

Wenn sich der Vorhang öffnet, zeigt sich ein überaus pompöses Bühnenbild. Stefanie Bruhn hat hervorragende Arbeit geleistet: Der Blick in einen riesigen Saal mit Kronleuchtern und Putten geht nach rechts zu einem Schlafzimmer mit königlichem Prunkbett und dem letzten verbliebenen Hofmusikanten am als Cembalo getarnten Keyboard. Die Szene erinnert an eine Mariage von Lever du Roi und Lever de la Reine. Die Kostüme, von Barbara Aigner geschaffen, spiegeln vorzüglich die Welt des Rokoko mit ihren prächtigen ausladenden Kleidern, Jabots und turmhohen Perücken. Die Königin Marie Antoinette, gespielt von Anna Thalbach, dominiert nicht nur die ersten Minuten des Stückes, das die beiden Autoren auch selbst inszenierten.

Seit zwanzig Jahren wartet das Paar bar jeglicher Macht auf seine Hinrichtung, um endlich in die Geschichte einzugehen. Doch die Bürokratie der Revolution verzögert alles. Wie bekannt, mussten die historischen Figuren nicht lange warten. Auch der titelgebende Ausspruch „Wenn sie kein Brot haben, sollen sie doch Kuchen essen!“ ist eine kongeniale Erfindung. Die Forderung wird Marie-Antoinette nach einem Text Jean-Jacques Rousseaus anekdotisch zugeschrieben. Der Hochmut der Mächtigen, ihre luxuriöse Verdorbenheit, ihre Verachtung und Ignoranz gegenüber dem „Volk“ werden in den wenigen Worten offenbart, dem Ancien Régime wird so perfekt die Legitimation abgesprochen. Die Autoren lassen den König über das neue Regime feststellen: „Das Volk wird betrogen! Bei uns war immer klar, von wem. Und jetzt ist es einfach nur – komplizierter!“

Die Figur des zehnjährigen Napoleon Bonaparte, bedient eine der aberwitzigen historischen Kapriolen. Marie-Antoinette betont immer wieder auch sprachlich ihr habsburgisches Herkommen als Maria Antonia. Besonders nach der Pause gewinnt das Stück an Unterhaltung. Es steigert sich die Handlung ins Absurde. Die Kleider und Perücken sind perdu. Es darf slapstickartig in Unterwäsche im Blut der auf der selbstgebastelten Guillotine geköpften Madame Dubarry ausgerutscht werden. Gags und schwarzer Humor bestimmen das Geschehen. Der Verzehr von Kuchen bleibt ein Dauerthema und zieht sich wie ein roter Faden durch die groteske Handlung.

Aktuelle Bezüge, Robespierre wie Putin wirkend und an einem besonders langen Tisch Brutus deklamierend, oder bestimmte Schlagworte, Uckermark und Baumarkt, evozieren zusätzliche Lacher im Publikum. Die Verschwörungstheorien (Juden, Freimaurer) zur Halsbandaffäre versuchen dies auch, jedoch ohne gleiche humoristische Wirkung.

Am Ende gibt es ein Leben ohne Hinrichtung für das Königspaar, aber nur als Theaterlösung. Das fünfköpfige Ensemble spielt die elf Rollen gekonnt. Die größte Spielfreude zeigt dabei die brillante Anna Thalbach. Alexander Simon gibt den Louis XVI., Max von Pufendorf und Annika Kuhl wechseln virtuos in den vielen Nebenrollen und Philipp Hagen begleitet als letzter Musiker das Geschehen meisterhaft mit einem trefflichen ironischen Klangteppich. Der Inszenierung ist ein größerer Publikumszuspruch zu wünschen. Und der Komödie am Kurfürstendamm in ihrem neuen Ausweichquartier ab März 2023 am Potsdamer Platz weitere Fortune.

J. Hauschke

Marie Antoinette oder Kuchen für alle! Komödie am Kurfürstendamm im Schiller Theater, täglich bis zum 27. November 2022 (außer montags).

Covid – Ungereimtes und ein Rückblick

Die bekannte Kolumnistin und Buch-Autorin Margarete Stokowski war nach eigenen Angaben dreimal geimpft und frisch geboostert, als sie erst an Covid und daraufhin schwer an Long Covid erkrankte. Derzeit geht es ihr so schlecht, dass sie nicht mehr arbeiten kann. Da fragt sich nicht nur der Laie, wie das zusammengeht: geimpft, geboostert, schwer erkrankt?

Stokowskis eigene Antwort: „Keine Ahnung. Kann ich mir nicht erklären.“

„Das dürfte“, so kommentierte Ruth Schneeberger in der Berliner Zeitung, „das zuletzt gesunkene Vertrauen in die Impfstoffe nun nicht gerade boostern.“

Impfen und Boostern lassen sollte man sich aber womöglich trotzdem – um sich anderes zu ersparen. André Mielke, auch Berliner Zeitung, hat gerade rückblickend daran erinnert, wie deutsche Prominente, „als würden sie sich um einen Fensterplatz im Geltungsbereich des Volksverhetzungsparagrafen bewerben“, vor Jahresfrist mit Ungeimpften verfuhren: „Tübingens OB Boris Palmer regte Beugehaft für Ungeimpfte an. ‚Konsequent ausgrenzen!‘, forderte Haftspezialist Uli Hoeneß. Ex-Saar-Premier Tobias Hans beschied der Zielgruppe: ‚Ihr seid jetzt raus aus dem gesellschaftlichen Leben.‘ Die Zeit informierte: ‚Eine Diskriminierung von Ungeimpften ist ethisch gerechtfertigt‘. Denn ‚Bekloppte‘ (Joachim Gauck) würden die ‚Gesellschaft in Angst und Schrecken‘ (Stephan Weil) versetzen, sie ‚egoistisch, zynisch und menschenverachtend‘ (Jörg Kachelmann) ‚in Geiselhaft‘ (Günther Jauch) nehmen. Jeder Ungeimpfte sei, so Ex-FDP-Politiker Rainer Stinner, ein ‚gefährlicher Sozialschädling‘“. Von keinem der Vorgenannten, so Mielke, seien „bis heute Distanzierungen oder Relativierungen bekannt“, aber vielleicht käme ja noch was.

Kann schon sein.

Wiederholung zum Beispiel.

Alfons Markuske

Die Müll-Ecke

Für das Wochenblatt Die Zeit, genauer dessen online-Ausgabe, führte der Redakteur Christian Bangel vor wenigen Tagen ein Interview mit dem Soziologen Wilhelm Heitmeyer. Heitmeyer benutzte auch das Wort „NATO-Doppelbeschluss“. Die Zeit fühlte sich genötigt, diesen Begriff der tumben Leserschaft „redaktionell“ zu erklären: „eine Abrüstungsinitiative der Nato, verbunden mit der Stationierung atomar bestückter Mittelstreckenraketen“.

Uff!

Das ist nicht mehr kommentierbar. Es bleibt eigentlich nur noch die Feststellung, dass diese Postille die Leitplanke der intellektuellen Satisfaktionsfähigkeit wieder einmal gerissen hat.

GH

WeltTrends aktuell

Das Novemberheft 2022 widmet sich dem Schwerpunktthema „Zeitenwende global?“

Im Thema meint Erhard Crome, der Ukrainekrieg sei inzwischen ein Krieg des Westens gegen Russland, in dem die Ukrainer das Kanonenfutter seien. Nach Alexander Rahr ist dieser Krieg ein Katalysator für eine radikale Zeitenwende in Geopolitik und Geoökonomie. Die mexikanische Friedensinitiative schätzt Raina Zimmering als Widerspiegelung eines neuen Selbstbewusstseins Lateinamerikas ein. Yuru Lian (China) betont, dass die Zeitenwende bereits im Dezember 2021 mit der Ampelregierung begonnen hätte; das wieder aufgestiegene Deutschland führe gemeinsam mit den USA eine werteorientierte, primär gegen China gerichtete Außenpolitik.

Im WeltBlick analysiert Georges Hallermeyer die Lage vor der im November in Ägypten stattfindenden 27. UN-Klimakonferenz. Katrin Voß widmet sich der keinesfalls unbefleckten Karriere des neuen kenianischen Präsidenten William Ruto. Als neues Format der internationalen Kooperation sieht Obid Hakimov, Berater des Präsidenten Usbekistans, die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit, deren Gipfel Mitte September in Samarkand stattfand. In einem weiteren Gastkommentar setzt sich Cornelia Hildebrandt mit „grüner feministischer Außenpolitik“ auseinander. Die von Außenministerin Baerbock vertretene Politik erhöhe das Risiko nuklearer Eskalation im Ukrainekrieg.

Red.

Zu beziehen über das Internet (Preis des Einzelheftes 5,80 Euro).

Blätter für deutsche und internationale Politik

In der November-Ausgabe analysiert Golineh Atai den Aufstand der Frauen im Iran und das Versagen des Westens im Umgang mit dem Mullah-Regime. Naomi Klein beleuchtet die Schattenseite des diesjährigen UN-Klimagipfels: die dramatische Menschenrechtslage im Gastgeberstaat Ägypten. Ronny Blaschke zeigt, wie Katar die Ausrichtung der Fußball-WM als geopolitische Machtressource nutzt. Wolfgang Zellner warnt vor verfrühtem Optimismus im Ukrainekrieg und Putins Strategie der Eskalation – zulasten der Zivilbevölkerung. Und Wolfgang Sachs plädiert für eine Ökonomie des Genug als Gegenmittel zur Herrschaft des Immermehr.

Weitere Themen im November: Weltpolitik auf Provinzniveau: Der Ampel-Ausfall nach Niedersachsen, Heißer Herbst gegen die Demokratie, US-Midterms: Schicksalswahl für die Republik, Anleitung zum Völkermord: Der Mythos vom „Großen Austausch“, Italien: Der vermeidbare Triumph der Giorgia Meloni, Hundert Jahre Krise: Das türkisch-griechische Drama, Die EU als Problem: Warum sich Afrika von Europa emanzipieren muss, Vertieft, vertrocknet, vergiftet: Das Elend unserer Flüsse, Das Geschäft mit dem Gebrechen. Wie Investoren den Pflegesektor auspressen.

Red.

Zu beziehen über das Internet (Preis des Einzelheftes – print / digital – 11,00 Euro).

Aus anderen Quellen

„Für mich sind die Grünen die heuchlerischste, abgehobenste, verlogenste, inkompetenteste und gemessen an dem Schaden, den sie verursachen, derzeit auch die gefährlichste Partei, die wir aktuell im Bundestag haben“, fasste Sahra Wagenknecht ihren Befund aus reichhaltig Indizien zusammen. Dafür gab es arge Schelte nicht nur der getroffenen Hunde, sondern auch von deren medialer Entourage. Auffällig allerdings, dass dabei in der Regel keinerlei Widerlegung der Details von Wagenknechts Befund stattfand. Ein Grund mehr, sich das Wagenknechtsche Verdikt komplett zu Gemüte zu führen.

Sahra Wagenknecht: Von wegen cool und öko – wie die Grünen Wirtschaft und Natur zerstören, youtube.com. Zum Volltext hier klicken.

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„[…] wie sich der Krieg in der Ukraine entwickelt, können wir von außen erkennen und beschreiben“, so Jeremy Shapiro: „Aus dem rechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist ein Stellvertreterkrieg zwischen Washington und Moskau geworden. Sofern sich die derzeitige Entwicklung fortsetzt, wird die Eskalationsspirale, in der sich die beiden Seiten befinden, eine direkte Konfrontation herbeiführen und in einen Atomkrieg münden, der Millionen von Menschen das Leben kosten und weite Teile der Welt zerstören wird. Eine solche Prognose anzustellen, ist natürlich kühn und womöglich auch unklug – immerhin werde ich, sollte ich Recht behalten, wohl nicht mehr da sein, um die Lorbeeren einzuheimsen.“

Jeremy Shapiro: Wir schlittern auf einen Atomkrieg zu, ipg-journal.de, 20.10.2022. Zum Volltext hier klicken.

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In den 1980er-Jahren gingen in Westdeutschland Hunderttausende gegen das nukleare Wettrüsten auf die Straße. Heute herrscht Apathie. Was ist dazwischen geschehen? Dieser Frage geht Bernhard Trautvetter in einer kommentierten Presseschau nach.

Bernhard Trautvetter: Akzeptieren wir einen möglichen Atomkrieg?, heise.de, 22. Oktober 2022. Zum Volltext hier klicken.

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Mit dem inzwischen nachgerade lässigen hiesigen Umgang mit dem Thema Atomkrieg befasst sich auch Leo Ensel: „Bereits vor einem halben Jahr lehnte sich unter der originellen Überschrift ‚Wie ich die Bombe lieben lernte‘ ein seltsamer Spiegel-Gastautor aus dem Fenster, der – so rasant radikalisieren sich in diesen Zeiten Ton und Forderungen – noch im Dezember letzten Jahres lediglich kokett dafür plädiert hatte, ‚mehr Kalten Krieg zu wagen‘ und ‚Putin vor sich her zu treiben‘. Aber mit solch zurückhaltenden Postulaten gab sich ein Nikolaus Blome schnell nicht mehr zufrieden. Das ungebrannte Kind spielte nun risikoselig mit dem Feuer: ‚Es braucht die Bombe für Deutschland. Denn es sind Atomwaffen, die den Atomkrieg bis heute verhindert haben‘, polterte der Sofa-Bellizist die friedensverweichlichte deutsche Gesellschaft wach.“

Leo Ensel: Der halsbrecherische Umgang mit der Atomkriegsgefahr, nachdenkseiten.de, 26.10.2022. Zum Volltext hier klicken.

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Petra Erler analysiert die Epochenbruch-Rede von Bundespräsident Steinmeier und die Rede des russischen Präsidenten Putin auf der Jahrestagung des Valdai-Clubs: „Die Rede von Steinmeier enthielt weder einen Hinweis auf die unbestreitbar weiter steigende Atomkriegsgefahr noch Überlegungen, wie dieser großen Gefährdung begegnet werden könnte. Faktisch sind wir in einem neuen Rüstungswettlauf und das Vertrauen, das Rüstungskontrollmaßnahmen bräuchten, ist völlig aufgebraucht.

Putin wiederum sieht diese neue Ära als außergewöhnlich gefährlich an. Er sprach von einer Bedrohung der Existenz der Menschheit. Er glaubt, der Westen habe nichts aus der Kuba-Krise gelernt.“

Petra Erler: Von der „Zeitenwende“ zum „Epochenbruch“: Gefangen in der Konfrontation, petraerler.substack.com, 31.10.2022. Zum Volltext hier klicken.

Zusammenstellung: Hannes Herbst