24. Jahrgang | Nummer 24 | 22. November 2021

Immer noch: Atomwaffen in Deutschland

von Sarcasticus

Nicht nur der Klimawandel
bedroht die Welt.
Das neue politische Spiel mit Atomwaffen
bedroht sie auch.

Heribert Prantl

Drei Wochen nach der Bundestagswahl vom 26. September 2021 hat die NATO Steadfast Noon, ihre jährliche nuclear strike exercise in Europe (Atomschlag-Übung in Europa – so die Wortwahl der Federation of American Scientists) über die Bühne gehen lassen. Dieses Mal mit insgesamt 14 teilnehmenden Staaten auf den Luftwaffenstützpunkten Kleine Brogel in Belgien und Büchel in der Eifel. Letztere Basis ist Stationierungsort des Taktischen Luftwaffengeschwaders 33 der Bundeswehr, dessen Tornado-Kampfbomber im Rahmen der sogenannten Nuklearen Teilhabe (zu dieser siehe ausführlicher Das Blättchen 10/2020 und 11/2020) die etwa 20 taktischen US-Atombomben zum Einsatz bringen sollen, deren Stationierung Experten in Büchel vermuten.

Beim diesjährigen Manöver sind vor Ort neben nuklearfähigen Flugzeugen aus Belgien, Deutschland, Italien und den Niederlanden unter anderem auch tschechische „Gripen“ und polnische F-16 gesichtet worden.

Dass der einzige denkbare militärische Gegner in Europa, gegen den die US-Atombomben bereitgehalten werden, inzwischen wieder Russland heißt, ist zu offensichtlich, als dass man sich dabei länger aufhalten müsste. Das wird auch in Moskau so verstanden, weshalb die dortige Führung die Beschwichtigung des NATO-Generalsekretärs Stoltenberg, die Übung sei „nicht gegen irgendein Land gerichtet“, ignorierte und die NATO stattdessen durch die Sprecherin des russischen Außenministeriums aufforderte, in der Information der eigenen westlichen Öffentlichkeit doch bitte ebenso forsch zur Sache zu gehen wie im Hinblick auf die Interpretation russischer Aktivitäten: „Zeigen Sie Ihren Leuten, an welchen Szenarien Sie arbeiten, denn es handelt sich schließlich um praktische Szenarien.“ Und, so wurde hinzugefügt: „Die Praxis der USA, dass Angehörige der Streitkräfte von Staaten, die keine Atomwaffen besitzen, Übungen zur Vorbereitung und zum Einsatz von Atomwaffen durchführen, ist ein […] eklatanter Verstoß gegen die Artikel 1 und 2 des Vertrags über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (NVV), der dessen Funktionsfähigkeit erheblich untergräbt.“

Bereits am 7. Oktober hatten in Berlin die möglichen künftigen Ampelkoalitionäre (SPD, Gründe, FDP) mit ihren Sondierungsgesprächen begonnen. Ob die Zukunft der letzten US-Kernwaffen auf deutschem Boden dabei bereits ein Thema war, ist zumindest dem 12-seitigen gemeinsame Sondierungspapier nicht zu entnehmen. Trotzdem haben die Gralshüter der Nuklearen Teilhabe Deutschlands gerade jetzt mit diversen Plädoyers wieder dafür mobil gemacht, die atomaren US-Systeme ja nur dort zu belassen, wo sie derzeit sind.

Johann Wadephul, stellvertretender CDU/CSU-Fraktionschef im Bundestag, ließ sich folgendermaßen ein: „Es ist dringend geboten, dass sich Kanzlerkandidat Scholz eindeutig positioniert und ein Machtwort spricht. Sollten die Ampel-Koalitionäre einen Ausstieg Deutschlands aus der nuklearen Teilhabe beschließen oder auch nur Schritte in die Richtung, dann würde dies die Sicherheitsarchitektur Europas erheblich verändern.“ Und CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter kam für den Fall eines deutschen Ausstiegs aus der Nuklearen Teilhabe mit dem ganz großen Menetekel um die Ecke: „Dann zerbricht die transatlantische Partnerschaft.“

Bei einem früheren Anlass hatte Kiesewetter überdies das Hilfsargument bei der Hand, dass „Teilhabe ja auch Mitsprache und einen transatlantischen Raum gemeinsamer Sicherheit“ bedeute. Daran mag er selbst glauben, doch ernsthafte Mitsprache im Hinblick auf mögliche Kernwaffeneinsätze haben die USA ihren NATO-Partnern nie zugesagt. Daher ist auch die von Ex- Bundeswehrgeneralinspekteur Harald Kujat gerade wieder vorgetragene Ansicht, die Nukleare Teilhabe gewährleiste, „dass wir nicht gegen unseren Willen Schauplatz eines Nuklearkrieges werden“, bloß eine höchst gefährliche Selbsttäuschung.

Einen weiteren Einwand gegen den Abzug der letzten US-Atomwaffen aus Deutschland brachte der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, ins Spiel: Wenn „Deutschland aus der nuklearen Abschreckung aussteigt“, könnte Warschau im Gegenzug auf einer Stationierung von Atombomben auf seinem Territorium bestehen. „[…] die Folgen wären katastrophal. Die Nato würde nuklear noch näher an Russland heranrücken.“ Dass dies ein offener Bruch der NATO-Russland-Grundakte von 1997 wäre, in der der Pakt zugesagt hatte, keine „nukleare[n] Waffen im Hoheitsgebiet neuer Mitglieder zu stationieren“, scheint Ischinger dabei nicht anzufechten. Wahrscheinlich teilt der die Auffassung der FAZ, dass die Akte ja sowieso keine „bindende vertragliche Verpflichtung“ sei, „sondern nur eine Absichtserklärung“.

Unter Niveau in diesem Zusammenhang ist allerdings, dass Ischinger dabei gleich noch einen atomaren Popanz zum Erschrecken der Öffentlichkeit mit aus dem Revers zog: „Russland hat in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, in Kaliningrad, ballistische Waffen stationiert, die mit Nuklearsprengköpfen bestückt werden […] und […] in wenigen Minuten Berlin erreichen können.“ Das ist kindische Panikmache, denn um eine Millionenstadt wie Berlin auszuradieren und damit im Übrigen eine Eskalation bis zur allgemeinen nuklearen Vernichtung zu riskieren, bedürfte die atomare Supermacht Russland keiner vorgeschobenen Systeme von relativ knapper Reichweite. Erklärtes Ziel der ballistischen Systeme in Kalinigrad im Falle des Falles wären die US-Raketenabwehrsysteme in Polen und andere operative militärische Ziele. Was zugleich einen möglichen Ansatzpunkt für jede ernsthafte Überlegung markiert, wie die betreffenden Systeme aus Kaliningrad gegebenenfalls wieder weg verhandelt werden könnten.

Nichts werden wird es damit allerdings, solange eine Maxime, wie sie gerade wieder von Kujat vertreten worden ist, strategie- und handlungsleitend bleibt: „Natürlich muss es unser Interesse sein, die prinzipielle Option des [atomaren – S.] Ersteinsatzes zu erhalten.“ Leider ist Kujat von den Kollegen, die dieses im Blatt DIE WELT berichtet haben, wieder einmal nicht dazu befragt worden, was eigentlich anschließend passierte, wenn ein solcher NATO-Ersteinsatz gegen Russland denn stattgefunden hätte und Moskau entgegen entsprechenden theoretischen westlichen Erwägungen, es müsste eigentlich klein beigeben, von seinem Arsenal zur Gegenwehr Gebrauch machte. Den – nach Angaben der US-Experten Hans Kristensen und Matt Korda – lediglich 230 einsetzbaren taktischen US-Kernwaffen, davon 100 bis 150 in Europa (alle ausschließlich luftgestützt), stehen immerhin knapp 2000 aktive russische Systeme (einsetzbar durch Luft-, Land- und Seestreitkräfte) gegenüber. „Ein Krieg mit Atomwaffen wäre die Beerdigung Europas“, brachte Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung die nicht unwahrscheinliche Perspektive auf den Punkt! (Und atomarer Nichtersteinsatz – no first use – wäre daher vielleicht doch die klügere Option; siehe ausführlicher die Blättchen-Sonderausgabe vom 28.07.2021.)

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Exkurs: Pulitzer-Preisträger Walter Pincus, 40 Jahre sicherheitspolitisch für die Washington Post tätig und noch länger mit Atomwaffen befasst, nahm Steadfast Noon 2021 zum Anlass, in THE CIPHER BRIEF auf eine bemerkenswerte Entwicklung in den USA zu Anfang der 1990er Jahre zurückzukommen. Damals sei der US-Generalstabschef Colin Powell der Auffassung gewesen, die Armee brauche keine taktischen Atomwaffen. Im Gespräch mit Pincus habe sich Powell später an folgendes erinnert: „Wir saßen eines Nachmittags am Schreibtisch des Präsidenten, und ich sagte: Herr Präsident, ich habe mit den Stabschefs gesprochen, und sie sind alle damit einverstanden … sogar der Stabschef der Armee […]. Innerhalb von zehn Minuten stimmte er [US-Präsident George H. W. Bush im September 1991 – S.] der Abschaffung aller unserer taktischen Atomwaffen zu, mit Ausnahme derjenigen, die wir in der Luftwaffe für den Einsatz von Jagdbombern aufbewahren.“ Und Powells Begründung: „Atomwaffen können nicht benutzt werden. Das wäre selbstmörderisch.“

Pincus selbst hatte 1977 über die damals hoch kontroverse sogenannte Neutronenbombe geschrieben und durch seine weitere Beschäftigung mit Kernwaffen festgestellt, dass die US-Armee „den Gedanken an den Einsatz taktischer Atomwaffen ablehnte, weil niemand wusste, was nach dem ersten Einsatz passieren würde“. Also ob nicht eine unbeherrschbare nukleare Eskalation die Folge wäre.

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Prantls Schlussfolgerung für hier und heute: „Wir sollten uns nicht um nukleare Teilhabe sorgen, sondern um die Teilhabe an neuen Abrüstungsinitiativen.“

Auch in dieser Hinsicht hat es jüngst einen Einwurf von der Seitenlinie gegeben. Anja Dahlmann, Oliver Meier, Michael Brzoska und Ulrich Kühn, Politologen vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH), plädierten in einem „Abrüstungsoffensive“ betitelten Beitrag dafür, die Bundesregierung solle „versuchen, mit Russland zu einer Vereinbarung über eine Reduzierung von Atomwaffen in Europa zu kommen“.

Doch wie sollte das geschehen? Direkt verhandeln mit Moskau kann schließlich nur, wer über die betreffenden Waffen verfügt, also nicht Berlin. Und dann ist da noch die jederzeit abrufbare Beschlusslage der NATO: Seit dem Deterrence and Defence Posture Review des Bündnisses vom Mai 2012 besteht die bindende Festlegung, „eine möglichst breite Beteiligung der betroffenen Bündnispartner“ (gemeint sind alle Mitglieder der Nuklearen Planungsgruppe des Paktes), für den Fall sicherzustellen, „dass die NATO beschließen sollte, ihre Abhängigkeit von in Europa stationierten nichtstrategischen Kernwaffen zu verringern“. Das heißt im Klartext, dass wer immer danach trachtet – sei es nun Polen, seien es die baltischen Staaten, Rumänien oder andere Akteure – jeden Vorstoß zum Abzug der US-Atomwaffen aus den fünf europäischen Stationierungsländern (neben Deutschland die Niederlande, Belgien, Italien und die Türkei) mit seinem Veto blockieren kann.

Diese Beschlusslage war auf dem Lissabonner NATO-Gipfel 2012 auch von der damaligen deutschen Bundeskanzlerin abgesegnet worden. Auf den Weg gebracht hatten sie nicht zuletzt Polen und die baltischen Staaten, die die damaligen Bemühungen des deutschen Außenministers Guido Westerwelle zum Abzug der taktischen US-Atomwaffen aus Europa (siehe dazu weiter unten) ein für alle Mal ausbremsen wollten. Das entsprach durchaus den Intentionen der Kanzlerin, die ihren Koalitionspartner in dieser Frage bereits zu Beginn der gemeinsamen Regierungszeit kaltschnäuzig hintergangen hatte (siehe dazu ausführlicher die Blättchen-Sonderausgabe vom 08.01.2018, Fußnote 152).

Was könnte die neue Bundesregierung also sinnvoller Weise tatsächlich tun? Sie könnte beispielsweise zunächst einmal in Moskau sondieren, ob dort die grundsätzliche Bereitschaft, auch über eine Reduzierung taktischer Atomwaffen zu verhandeln, überhaupt noch besteht. Russischerseits ist diese Bereitschaft in der Vergangenheit mehrfach bekundet worden – mit nur einer einzigen Bedingung: Die USA müssten vor Verhandlungen dem russischen Beispiel folgen und ihre taktischen Systeme komplett auf nationales Territorium zurückziehen.

Ein unbilliges Ansinnen? Keineswegs. Ein Versuch, Moskau beim Wort zu nehmen, müsste niemandem – sicherheitspolitisch – schlaflose Nächte bereiten. Schließlich haben die USA in einer Nacht- und Nebel-Aktion im Jahre 2019, wenn auch eher nolens volens, schon mal demonstriert, dass ein Atomwaffenlager wie das in Büchel nicht nur binnen 48 Stunden komplett beräumt, sondern gegebenenfalls auch wieder aufgefüllt werden kann. DER SPIEGEL hatte in seiner Ausgabe 16/2020 berichtet, dass die Bomben wegen eines Software-Updates kurzzeitig in die USA ausgeflogen und dann zurückgeführt worden waren. Mit dieser Arabeske: „48 Stunden lang ist Deutschland eine atomwaffenfreie Zone, und niemand bekommt es mit.“ Außer, wie das Magazin mitteilte, das von Washington informierte Bundesverteidigungsministerium, von dem hoffentlich angenommen werden darf, dass es auch das Kanzleramt ins Bild gesetzt hatte.

Angenommen, Moskau signalisierte Bereitschaft, dann könnte die Bundesregierung versuchen, die anderen vier Stationierungsländer für eine entsprechende gemeinsame Verhandlungsinitiative in der NATO zu gewinnen. Einen vergleichbaren Vorstoß hatte Außenminister Westerwelle im Jahre 2010 zusammen mit den Benelux-Statten und Norwegen schon einmal angeschoben …

Ein Versuch, Moskau beim Wort zu nehmen, müsste allerdings zugleich darauf eingestellt sein, dass Russland heute ein Denken pflegt wie die NATO im Kalten Krieg: Die eigenen taktischen Kernwaffen werden als Rückversicherung gegen die konventionelle Bündnisüberlegenheit der anderen Seite betrachtet. Und auf die Querverbindung zu den US-Raketenabwehrsystemen in Polen (und jene schon länger einsatzbereiten in Rumänien nicht zu vergessen) wurde bereits verwiesen.

Die Materie ist also um einiges komplexer als nur Nukes versus Nukes. Vielleicht sollte man daher vorweg und um den Boden zu bereiten zunächst mal das in entspannteren Zeiten vereinbarte System gegenseitiger vertrauens- und sicherheitsbildender (militärischer) Maßnahmen zwischen beiden Seiten reaktivieren, das mit dem auf der KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975 basierenden sogenannten Wiener Dokument kodifiziert worden war, ursprünglich vereinbart im Jahre 1990 und zuletzt aktualisiert 2011. Bei einer dementsprechenden Revitalisierungsinitiative könnte die Bundesregierung auch von niemandem wegen mangelnder „Verfügungsmasse“ ausgebremst werden …

Einen früheren Beitrag zum Thema „Atomwaffen in Deutschland“ hat der Autor in der Blättchen-Ausgabe 23/2017 publiziert.