24. Jahrgang | Nummer 12 | 7. Juni 2021

Bemerkungen

Die Parabel vom Störtekeber

Der Mann soll ein großer Freund der Gleichheit gewesen sein. Bei seinen Berufskollegen, die Grenze zwischen Pirat und Kaufmann war fließend, nahm sich der Kapitän, zugleich der Schiffseigner, den Löwenanteil. Er hingegen habe immer die Beute zu gleichen Teilen – to gliken Delen – aufteilen lassen. Das sprach sich rasch rum an den Küsten, trotz der allgegenwärtigen Ohrenbläser. Neues von den Gleichteilern, das machte glänzende Augen bei den Erzählungen abends am Feuer.

Die Wirklichkeit war etwas anderes. Was sollten die Männer mit jeweils einigen Pfund Salz in der eigenen Seekiste? Was sollten sie mit einem Bündel Fellen oder einer Tonne Heringe? Natürlich lief man den nächstbesten Hafen an, in dem sich gefahrlos das Zeug verhökern ließ. Natürlich wurden die Dukaten aufgeteilt. Natürlich erhielt der Kapitän einen größeren Teil. Er musste schließlich das Schiff unterhalten. Nicht alles Tauwerk konnte man rauben, Ankereisen war auf Vorrat zu legen. Die Segel der geplünderten Koggen waren nach den Gefechten oft nur noch zerfetzt. Das kostete, das war doch einzusehen. Und die schwere Goldkette für die Frau Elke, die schöne Häuptlingstochter, die war ihm doch auch zu gönnen. Manchmal, da landete er ein Faß Bier oder mehrere Tonnen gesalzenen Fisch in einem Dorf hinter den Dünen an, ohne Geld dafür zu nehmen. Manchmal landete ein Ballen Tuch nicht im Kontor eines der dicken Hansen, sondern in den Bretterbuden der Vorstadt. Den Reichen nehmen, den Armen geben … eine schöne Devise. Der Reichtum reichte eben nur nicht für alle „to gliken Delen“. Er hatte das sehr schnell begriffen.

Bei seiner Gefangennahme soll Verrat im Spiel gewesen sein. Fischer hatten die Orlogschiffe der Hansen auf seine Spur gebracht. Arme Leute. Und auf seinem und dem seiner Spießgesellen letzten Weg mussten die Hellebardiere viel Volk gewaltsam zurückhalten. Das wollte ihn mitnichten befreien. Vor allem die Weiber wollten ihm an den Kragen. Deren Männer und Söhne waren auf den Schiffen gewesen, die er als Prisen genommen hatte. Den wenigen Überlebenden der Kaperkämpfe – und die Kerle kämpften verbissen, sie wußten, was ihnen bevorstand – wurde selten angeboten, bei den Gleichteilern mitzumachen. Sie waren schließlich die Feinde. Die meisten gingen auf hoher See über Bord. Zeugen waren eine Gefahr. Diese Männer waren die Ernährer der Familien. In den Städten hatte der Kapitän nur wenige Freunde, bezahlte zumeist.

Es war wohl zu allen Zeiten so. Im Kielwasser der großen Gleichteiler treiben immer die Toten. Die schönen Geschichten, die haben die Schulmeister in der warmen Stube aufgeschrieben. Das ist auch heute noch so.

WB

Israels Selbstverteidigung

Während des jüngsten bewaffneten Konfliktes zwischen der palästinensischen Hamas und dem israelischen Militär im Gaza-Streifen – ausgelöst durch Raketenangriffe der Hamas – eilte der deutsche Außenminister Heiko Maas nach Israel, um „die Solidarität Deutschlands mit der israelischen Regierung und das Recht des Landes auf Selbstverteidigung gegen Angriffe der Hamas“ (Stern) bekräftigen.

OK – niemand hätte vom Maßanzugträger Maas („Mann ohne Idee“, „lässt Expertise, […] Strategie und Führungsqualität vermissen“, Der Tagesspiegel) anderes erwartet.

Allerdings sehen manche das mit der Selbstverteidigung diametral anders. So Jim Kavanagh, Herausgeber des links-sozialistischen Blogs The Polemicist: „Ein koloniales Apartheidregime hat kein ‚Recht auf Selbstverteidigung‘ gegen den Widerstand des Volkes, das es versucht, auszurotten, zu vertreiben oder zur Unterwerfung zu zwingen. Die Menschen, die das koloniale Regime zu unterjochen versucht, haben jedes Recht, für ‚Befreiung von kolonialer und fremder Herrschaft und fremder Besatzung mit allen verfügbaren Mitteln, einschließlich des Einsatzes bewaffneter Mittel,‘ zu kämpfen. Einzelne Menschen und organisierte Gruppen – ob Kinder, die Steine werfen, oder die Hamas, die Raketen abschießt – haben jedes Recht, mit allen notwendigen Mitteln Widerstand zu leisten, zu kämpfen und die koloniale Besatzungsmacht zu besiegen.“

Natürlich muss man diese Ansicht weder teilen, noch überhaupt der Meinung sein, dass sich Konflikte wie der zwischen dem israelischen Staat und dem Volk der Palästinenser mit militärischen Mitteln lösen lassen.

Andererseits – wäre es nach Jahrzehnten der einseitigen Parteinahme des Westens für die jeweiligen Regierungen Israels und angesichts der unverminderten Explosivität des Konfliktes nicht allmählich an der Zeit, einen westlichen Paradigmen- und Strategiewechsel zumindest mal gedanklich ins Auge zu fassen?

Wahrscheinlich nicht.

Wahrscheinlich hatte der afro-amerikanische Schriftsteller James Baldwin einfach Recht: „Der Staat Israel wurde nicht für die Rettung der Juden geschaffen; er wurde für die Rettung der westlichen Interessen geschaffen […] und für Europas schlechtes christliches Gewissen.“

Sarcasticus

Die Marine

Überaus traurig – das Schicksal dieses Torpedobootes.

Einst war es englisch und hieß „Pinguin“ oder so ähnlich. Als es in türkische Hände kam, roch es schon stark nach Tran.

Sultan Abdul Hamid ließ sofort die Ventile von den Maschinen nehmen und von den Geschützen die Verschlüsse, damit die Mannschaft den Jildis-Kjöschk nicht überfalle.

So war das schöne Kriegsschiff zur Untätigkeit verdammt.

Als die Jungtürken den Admiral Gibson herbeiriefen, damit er die Marine reformiere, da wußten die Matrosen: ade, du schöne Jugendzeit; jetzt heißt es putzen und putzen.

Und sie hatten nur eine bescheidene Bitte an den neuen, den strengen Admiral: das Gemüsebeet; das Gemüsebeet auf der Kommandobrücke; das sollte erhalten bleiben; sie hatten’s mit so vieler Mühe angelegt.

Die Jungtürken mußten den Alttürken weichen. Auf dem Torpedoboot zog wieder Frieden ein und Gemütlichkeit.

Und plötzlich hatte alles ein Ende: am 23. Oktober, bei dem großen Sturm, ist das Torpedoboot auf den eigenen Küchenabfällen festgefahren und gestrandet.

Roda Roda

*

Ich erinnerte mich wieder dieses hübschen Textes, als Ende Mai die FAZ einen Bericht über das einzige noch im Bestand der polnischen Marine befindliche U-Boot mit dem stolzen Namen „Orzeł“ (Adler) veröffentlichte. Das Schiff wurde 1986 in der Sowjetunion gebaut, die einstmals vorhandenen Schwesterschiffe wurden bereits aus dem Dienst genommen. Der „Adler“ sei, so die Besatzung in einem von der FAZ zitierten anonymen offenen Brief „in einem beklagenswerten technischen Zustand, und jede Fahrt kann mit dem Sinken und mit unserem Tod enden“. Dieses missliche Faktum wird indirekt in einem aktuellen Papier zur polnischen Marinestrategie („Strategiczna Koncepcja Bezpieczeństwa Morskiego Rzeczypospolitej Polskiej“) erklärt: In Polen bestehe „eine faktische Meeresblindheit“. So zitiert es zumindest Jan Asmussen in marineforum.online. Es gibt aber keinen Grund für deutsche Arroganz: 2017 war keines der sechs deutschen U-Boote einsatzfähig. Seither wurde fleißig repariert. Aber nichts Genaues weiß man nicht: „Einen Sachstand zur materiellen Einsatzbereitschaft darf die Marine nicht mehr geben. Diese Informationen hat das Verteidigungsministerium am 11. März zur Geheimsache erklärt.“ So die Kieler Nachrichten schon im März 2019.
Ich halte die Idee der türkischen Torpedbootmatrosen, über die Roda Roda berichtete, für eine echte Alternative. Ein Gemüsebeet ließe sich trefflich auf dem Deck des U-Boot-Turmes anlegen. Sowohl in Gdynia als auch in Eckernförde wäre das eine Bereicherung des Stadtbildes und zeugte vom nicht untergehenden Friedenswillen der nordatlantischen Allianz.

G. Hayn

WeltTrends aktuell

Die jüngsten Ereignisse in Myanmar haben Südostasien wieder in den internationalen Fokus gerückt. Eingespannt in die Produktionsketten des globalen Kapitalismus, dominieren autoritäre Strukturen auf der Seite der Regierungssysteme. Gastherausgeber Ralf Havertz und seine Autorenkollegen stellen das im Thema am Beispiel von vier Ländern vor: Myanmar, Kambodscha, Vietnam und Laos.

Mit äußerst aktuellen Fragen beschäftigt sich auch der WeltBlick: „Die Krise wird sich verschärfen“, schlussfolgert Valery Karbalevich in seiner Analyse über Belarus, wo Präsident Lukaschenko derzeit wieder von sich reden macht. Mit der Lage in Brasilien, wo Ex-Präsident Lula da Silva gerade auf dem Weg zurück in die große Politik ist, beschäftigt sich Achim Wahl.

Im Gastkommentar zum Militäreinsatz der Bundeswehr in Mali verweist Kathrin Vogler, friedenspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, auf die Erfahrungen des Kriegseinsatzes in Afghanistan.

In der Historie erinnert Hans-Heinrich Nolte an den deutschen Überfall auf die Sowjetunion vor 80 Jahren, dem über 26 Millionen Sowjetbürger zum Opfer fielen, was aber dem deutschen Bundestag kein Gedenken wert ist. Einfach beschämend!

Im Forum untersucht der ehemalige Generalstabsoffizier Walter Schilling Russlands wachsende Rolle auf der Weltbühne, während Michael Richter ein Einlenken Moskaus gegenüber dem Westen als ersten Schritt in Richtung einer Modernisierungspartnerschaft ansieht.

Der Bellizismus wirke weiter in den Reihen der Grünen, konstatiert Majd El-Safadi im Kommentar unter Verweis auf erste außenpolitische Äußerungen ihrer Kanzlerkandidatin.

WeltTrends – Das außenpolitische Journal, Heft 176 (Juni) 2021 (Schwerpunktthema: „Südostasien – Region im Umbruch“), Potsdam / Poznan, 4,80 Euro plus Porto. Weitere Informationen im Internet.

am

Schreiben über Unbekanntes

Journalisten sind zuweilen bedauernswert. Am Tage vor den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt (zum Redaktionsschluss dieses Heftes wissen auch wir nicht, wie die Sache ausgehen wird – d. Red.) stiert auch die Redaktion der Berliner Zeitung ratlos auf das Ländchen an Elbe und Saale. Christine Dankbar hat eine solide Reportage über die AfD in Bitterfeld geschrieben („Die Kümmerer“), und Jens Blankennagel versucht in einem „Fremdes Land“ übertitelten Text der nichtwissenden Hauptstadtleserschaft Hintergründe zu erhellen. Sachsen-Anhaltische Heimatkunde aus der Berliner City sozusagen. So ist das dann auch. Dass Sachsen-Anhalt „als Land zusammengestückelt nach dem Zweiten Weltkrieg“ auf der Bildfläche erschien, hat es auch mit anderen Bundesländern West wie Ost gemeinsam. Auch das Fortdauern des mentalen Kleinstaaten-Zwistes ist kein Alleinstellungsmerkmal dieser Gegend. Dennoch zeigt Blankennagel ein bemerkenswertes Maß Unkenntnis: „Zu DDR-Zeiten waren sich die beiden Bezirke Halle und Leipzig nicht nur wohlgesonnen.“ Mit Leipzig scheint Blankennagel den Bezirk Magdeburg zu meinen. Der war aber ganz woanders … Allerdings gab und gibt es in Magdeburg eine Fußballmannschaft mit dem Namen FCM. Der HFC konnte der aber nie das Wasser reichen. Dass Magdeburg Landeshauptstadt wurde, hatte nichts damit zu tun, dass die Elbmetropole eine „1000 Jahre alte Residenzstadt mit Dom“ ist. Insider berichten, dass es seinerzeit eher die günstige Verkehrsverbindung nach Hannover war, die im Hauptstadtwettbewerb Magdeburg gegenüber Dessau und Halle triumphieren ließ. Die Aufbauhelfer-Ost konnten von da am Wochenende schneller nach Hause. „Residenzstadt“ in dem Sinne war in der frühen Neuzeit – Otto den Großen lassen wir mal besser aus dem Spiel – eher Halle. Hier residierte Albrecht von Brandenburg, dem wir, von ihm ungewollt, die Reformation zu verdanken habe. Mit Dom. Die Uni-Stadt war preußisch. Die Nähe Leipzigs hat da lange Zeit nicht sonderlich gejuckt.

Ach so, Mansfeld wird auch in Zeiten der Genderdebatte nur mit einem „n“ geschrieben. Der Titel des Textes ist schon gut gewählt …

Alfred Ascanius

Medien-Mosaik

Ute Adamczewski kann und will nicht verhehlen, dass sie eine Experimentalfilmerin ist, die Bild und Ton ungewöhnlich kombiniert. Ihr erster langer Film „Zustand und Gelände“ stellt deutlich einen politischen Aspekt in den Mittelpunkt. Die ausgebildete Architektin recherchierte viele Jahre lang für diesen Film, der inzwischen vergessene Stätten des Nazi-Horrors aus den Anfangsjahren der Diktatur in Sachsen aufsucht – noch bevor es die heute noch bekannten Barackenlager gab. Burgen, Vereinshäuser, Sportstätten wurden zu Lagern für politische Gefangene umfunktioniert. Ihr Film zeigt den heutigen Leerstand oder auch die jetzige Nutzung der Gebäude. „Bilder von Straßen, Wohnhäusern, Schlössern und Burgen treffen auf im Off verlesene Briefwechsel, Tagebucheinträge, literarische Fragmente. Strukturen der Ausgrenzung und Gewalt werden in einer geschichtlich aufgeladenen Landschaft sichtbar“, sagt Adamczewski über ihren Film, mit dem sie auch der ständig propagierten Gleichsetzung zwischen NS-Regime und DDR-Herrschaft widersprechen will. Statt TV-üblicher Interviews lässt sie Akten und Zeitzeugenaussagen zitieren, die punktuell immer wieder in nachfolgende Jahrzehnte bis in die Gegenwart führen. Das wirkt oft spröde, aber die Regisseurin ist überzeugt, dass damit eine stärkere Konzentration beim Zuschauen erreicht wird. Die Filmemacherin hilft nachzuvollziehen, wie mit der Erinnerung an das von Chauvinismus und Faschismus begangene Unrecht der Vergangenheit umgegangen wird.

Zustand und Gelände, Regie Ute Adamczewski, Verleih: Grandfilm, 118 Minuten, ab 17. Juni in ausgewählten Kinos.

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Drei weitgehend unbekannte mörderische Geschichten aus dem Zarenreich finden sich in dem neuen Band „Das Gespenst in der Ingenieurburg“. In der Titelgeschichte erzählt Nikolai Leskow (1831-1895) die heiter-gruselige Geschichte aus einem von Spukgeschichten umwobenen Schloss, in dem Kadetten des militärischen Ingenieurwesens untergebracht waren, die sich gern manchen Spaß erlaubten. Mit einer Sprachkraft, die an seinen Zeitgenossen Maupassant erinnert, schildert Leskow ein unheimliches Erlebnis, das den Kadetten die Spottlust austrieb. Die weiteren Novellen des Bandes stammen von Leonid Andrejew (1891-1919), der in „Der Gedanke“ das Psychogramm eines eiskalten Mörders, eines Arztes, entwirft, und von Alexei Tolstoi (1882-1945), dem politisch zwiespältig zu sehenden Grafen, dem die Geschichten um die Puppe Burattino zu verdanken sind. Bei ihm steht der historisch verbürgte Hochstapler und Scharlatan Graf Cagliostro im Mittelpunkt einer Erzählung, in der sich Dämonie und Liebeswahn paaren.

Der Band wurde von der renommierten Übersetzerin Aljonna Möckel herausgegeben. Als Tochter deutscher Emigranten wurde sie vor 80 Jahren in Moskau geboren und wuchs zweisprachig auf. Im Vorwort schildert sie die Herausforderungen, vor denen sie als junge Übersetzerin in den sechziger Jahren stand: „Einen literarischen Text von einer Sprache in die andere zu bringen, bedeutet künstlerische Arbeit; man muss sich in die Welt des Autors und seinen Schreibstil hineinversetzen, die speziellen Ausdrücke und Redewendungen wiedergeben können.“ Ihr ist das bei vielen sehr unterschiedlichen Autoren geglückt, mit den utopischen Erzählungen der Brüder Strugazki ebenso wie mit Gedichten von Jewtuschenko – und eben bei russischen Klassikern des späten 19. Jahrhunderts.

Das Gespenst in der Ingenieurburg – Drei mörderische Geschichten aus dem Zarenreich, Herausgegeben und übersetzt von Aljonna Möckel, 152 Seiten, EDITION digital, Pinnow 2021, 15,80 Euro, als EBook 6,99 Euro.

bebe

Auf- und anregend

Langsam kann sich die Musikszene aus der Corona-Starre lösen. Nicht nur Live-Konzerte waren ja von der Pandemie betroffen. Auch die Anzahl von musikalischen Neuveröffentlichungen war in den letzten Monaten deutlich niedriger als in der Vor-Corona-Zeit. Das MIG-Label macht aus der Not eine Tugend. Es hebt immer wieder musikalische Schätze aus diversen Archiven. Ein aktuelles Beispiel ist die Veröffentlichung eines Konzertmitschnitts im Rahmen des von Radio Bremen organisierten „Jazzfest Bremen 1988“.

Das Ehepaar Airto Moreira und Flora Purim, beide renommierte Vertreter des Latin Jazz, traten hier mit einer dreiköpfigen Band auf.

Airto Moreira, Jahrgang 1941, gehört zu den profilierten Percussion-Musikern; seine Gattin Flora Purim, Jahrgang 1942, ist eine wahre Könnerin des Jazz-Gesangs. Vor dem Hintergrund der Militärdiktatur verließen beide ihr Heimatland Brasilien 1967 und wählten New York als neuen Wohnsitz. Von hier aus knüpften sie vielfältige musikalische Kontakte. Erste Meriten verdiente sich Airto Moreira als Bandmitglied bei Miles Davis. Es folgten weitere musikalische Kooperationen, u.a. mit den Liedermachern Paul Simon, James Taylor und Joni Mitchell. Immer wieder fand das Ehepaar Moreira-Purim auch musikalisch zusammen, etwa bei den ersten beiden Alben der legendären Jazzrock-Band „Return to Forever“. Flora Purims Stimmvolumen über sechs Oktaven hinweg kam hier bestens zur Geltung.

Der 1988er Konzertmitschnitt zeigt die Vielfalt des Latin Jazz. Es finden sich mitreißende Rhythmen wie auch ruhigere Passagen; Saxofon und Keyboard haben gleichfalls eine tragende Rolle inne. Zwei persönliche Anspieltipps: „Improvisation No. 1 & No. 2“ ist eine beeindruckende Solo-Percussion-Performance, bei „Garimpo“ können sich die einzelnen Bandmitglieder wie auch Sängerin Flora Purim auszeichnen.

Aufregend wie anregend ist der vom musikalischen Ehepaar gepflegte Latin Jazz. Vielleicht der passende Cocktail, um sich von der Corona-Sedierung zu befreien?

Airto Moreira & Flora Purim: Live at Jazzfest Bremen 1988, Label MIG, CD 2021; circa 15,00 Euro.

Thomas Rüger

Blätter aktuell

In den vergangenen Wochen hat Indien nahezu täglich den traurigen Rekord neuer Covid-19-Fälle gebrochen. Die humanitäre Krise hat vor allem die hindu-nationalistische Regierung von Premierminister Narendra Modi zu verantworten, so die Journalistin Vidya Krishnan. Dass es aber überhaupt so weit kommen konnte, ist auf das kollektive moralische Versagen der indischen Gesellschaft zurückzuführen – insbesondere auf das der oberen Kasten sowie der Ober- und Mittelklasse.

„Flüchtlinge als Boten des Unglücks“ – dieser von Bertolt Brecht geprägte Ausdruck beschreibt den Zustand der Welt heute treffender denn je, ist der Historiker Achim Engelberg überzeugt. Denn Geflüchtete zeigen die planetarischen Konflikte unserer Epoche auf – von pandemischer Armut und globaler Ungleichheit über ausufernde Kriege bis hin zur Klimakatastrophe. Wie aber kann eine Politik aussehen, die diesem millionenfachen Leid und Elend wirksam Abhilfe schafft?

Dazu weitere Beiträge, unter anderem: „Gemeinwohl oder Markt: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk am Scheideweg“, „Fußball als Herrschaftsinstrument“ und „Spanien: Die Niederlage des Pablo Iglesias“.

Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, Juni 2021, Einzelpreis: 9,50 Euro, Jahresabonnement: 79,80 Euro (Schüler & Studenten: 62,40 Euro). Weitere Informationen im Internet.

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Aus anderen Quellen

Zum Verhalten der britischen Behörden im Fall Julian Assange vermerkt Nils Melzer, Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen über Folter: „Die Demütigungen sind im Fall von Assange offensichtlich: Er wird diffamiert und lächerlich gemacht, wird im Glaskasten in den Gerichtssaal gebracht, darf nicht einmal seinen Anwälten durch einen Schlitz die Hand geben.“ Und: „Es bedeutet, dass der Rechtsstaat bei uns genauso dysfunktional ist wie in jenen Gesellschaften, denen wir gerne unsere Werte andienen wollen.“

Michael Maier: Fall Julian Assange: „Die wirklichen Verbrecher sind bis heute straflos“, berliner-zeitung.de, 21.05.2021. Zum Volltext hier klicken.

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„Der 23. Mai, der Tag des Grundgesetzes“, so Heribert Prantl, „wurde […] begleitet von Debatten darüber, welche Bedeutung und welche Wirkung ein Corona-Impfpass für die Grundrechte hat. Wann sind welche ‚Lockerungen‘ für wen veranlasst? Ist der Impfpass eine Grundrechtszugangsberechtigung, also eine Art Eintrittskarte? Oder soll man den Pass eher als einen Grundrechtsschrankenbeseitiger betrachten? […] Diese Diskussion geht […] davon aus, dass einem die Grundrechte in Corona-Zeiten nicht mehr einfach ganz voraussetzungslos zustehen. Ob sich das die Mütter und Väter des Grundgesetzes 1948/49 so vorgestellt haben?“

Heribert Prantl: Prantls Blick – die politische Wochenvorschau, sueddeutsche.de, 24.06.2021. Zum Volltext hier klicken.

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„Im universitären Alltag sind Publikationen“, wie Friedrich Conradi feststellt, „ die wertvollste Währung, sie lassen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aller möglichen Fachbereiche und Disziplinen die Karriereleiter hinaufsteigen oder hinabstürzen. In einem großen Journal wie Science oder Nature zu publizieren, auch nur als eine oder einer von Hunderten Co-Autorinnen und Co-Autoren, kann der entscheidende Baustein für den Rest der Karriere sein und dazu führen, dass man einmal zu jenen glücklichen fünf Prozent der Postdocs gehört, die es zu einer Professur bringen.“ Allerdings: „Der enorme Publikationsdruck führt zu einer Situation, in der sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gezwungen sehen, unzureichend geprüfte Daten zu veröffentlichen oder sie sogar zu manipulieren. „Publish or perish“ – publizier oder stirb – heißt das Diktum […].“

Friedrich Conradi: Publish or Perish: Publikationsdruck gefährdet die wissenschaftliche Forschung, berliner-zeitung.de, 22.05.2021. Zum Volltext hier klicken.

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Ex-Handelsblatt-Chefredakteur und -Herausgeber Gabor Steingart nennt fünf Gründe, warum die derzeitigen Umfrageergebnisse die Grünen und ihre Frontfrau Annalena Baerbock möglicherweise doch nicht ins Kanzleramt tragen werden. Die Gründe mögen so nicht durchweg duchschlagen, aber bisweilen findet Geschichte als Farce statt und wiederholt sich auch als solche oder, um mit Steingart zu sprechen: „Der einst im Aufwind der Umfragen formulierte Machtanspruch der Grünen erinnert zunehmend an die großmäulige FDP-Kampagne des Guido Westerwelle, die als ‚Strategie 18‘ in die Geschichte der gescheiterten Wahlkampagnen einging. Der Name bezog sich auf das Wahlziel, den Anteil an den Wählerstimmen von sechs auf 18 Prozent zu verdreifachen. Das Ergebnis: Die FDP landete bei 7,4 Prozent. Viel Lärm um nichts.“

Gabor Steingart: MorningBriefing, gaborsteingart.com, 03.06.2021. Zum Volltext hier klicken.

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Das Hamburger Wochenblatt DIE ZEIT war in seinen Anfangsjahren stramm rechtsaußen. „In großem Umfang“, resümiert Christian Staas, „griff die ZEIT auf Journalisten zurück, die schon während des Nationalsozialismus in ihrem Beruf tätig waren. […] stärker als manch andere Lizenzzeitung. […] Und mit den Jahren stieg die Zahl der Belasteten in der Redaktion sogar noch an, statt zu rückzugehen.“ Maßgeblich geschuldet war „diese Entwicklung war Richard Tüngel, der die Zeitung von August 1946 an als Chefredakteur leitete“: „‚Nazis sind auch Deutsche´‘, hatte er im Mai1946 in einem Leitartikel dekretiert. Nun wurde der sarkastische Ausspruch zur Leitlinie seiner Personalpolitik […].“

Widerstand dagegen – bis hin zum zeitweisen Ausscheiden aus der Redaktion, leistete Marion Gräfin Dönhoff. Doch was die rigorose Ablehnung der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse anbetraf, folgte sie zunächst Tüngels Kurs. „ […] auch für sie“, hebt Frank Werner hervor, „gab es nur wenige, die im Nationalsozialismus Schuld auf sich geladen hatten, und viele, die zu Unrecht angeklagt wurden. Dönhoff schrieb verständnisvoll über Mitläuferbei den Euthanasie-Morden und Teilnehmer an Massenexekutionen, und sie verteidigte einen Wehrmachtgeneral wie Wilhelm Speidel, der als Militärbefehlshaber in Griechenland für Massaker an der Zivilbevölkerung wie in Lyngiades oder Kalavrita verantwortlich war. Im Dezember 1951 rehabilitierte sie die Angehörigen der Waffen-SS: Auch sie gehörten zur Opfergemeinschaft der ‚jahrelang zu Unrecht Diffarnierten‘.“

Christian Staas: Die ZEIT und die NS-Zeit, zeit.de, 05.05.2021. Zum Volltext hier klicken.

Frank Werner: „Nürnberg war falsch“, zeit.de, 05.05.2021. Zum Volltext hier klicken.