Englischer Garten
Am eisigen Bache, am Eisbach
Halli, Halli und Hallo,
da liegen recht nackert die Münchner
und -innen herum, nur so!
Das wissen schon die Touristen
aus Japan und Aserbeidschan
sie tasten mit Foto und Fernglas
sich an diese Nackerten ran.
Die Bürgermeister von München
begrüßen den tollen Event.
Er macht die Stadt attraktiver
und kostet sie keinen Cent.
Corona anderswo (I)
Zwar schaffen es die täglichen deutschen Coronazahlen (Neuinfektionen, Todesfälle, geschätzte Genesene und der „rein rechnerische“ Krankenstand) immer noch in die täglichen Morgennachrichten beim Deutschlandfunk (DLF), doch vom Rest der Welt kommen allenfalls ab und an noch die katastrophalen Corona-Entwicklungen in den USA oder Brasilen vor.
Sonst also alles paletti?
Nach Auffassung der DLF-Redakteure offensichtlich. Da wären allerdings noch diese Petitessen: In den Ländern der sogenannten Dritten Welt sieht das Leben einiger hundert Millionen Familien in der Pandemie etwa folgendermaßen aus. Fabriken und Märkte sind zu; das spärliche Einkommen, das die Tochter als Textilarbeiterin oder die Mutter mit ambulantem Straßenhandel erzielten, ist weggefallen. Angehörige, die im Ausland arbeiten, sitzen in Quarantäne oder sind ihre Jobs ganz los und können kein Geld mehr überweisen. Im Südsudan verpassen gerade Tausende von Bauern die Aussaat, weil sie wegen Schließung von Märkten kein Saatgut kaufen konnten. Der fehlende Anbau von jetzt ist die nächste Hungerkatastrophe in ein paar Monaten. Die Beispiele ließen sich fortsetzen.
Laut UN und humanitären Organisationen sind weltweit über zwei Milliarden Menschen im informellen Sektor beschäftigt und arbeiten derzeit aufgrund von Corona kaum oder gar nicht. Zugleich wird das Überlebensnotwendige immer teurer. Denn durch Lockdowns und unterbrochene Lieferketten steigen die Preise für Reis, Mehl, Trinkwasser, Öl, Zucker, Medikamente … Vielerorts muss eine von zwei Mahlzeiten am Tag ausfallen.
Da könnte einem hierzulande beim Frühstück schon der Appetit vergehen. Aber gottseidank verschonen uns die DLF-Morgennachrichten …
Broadway in Dresden
Das leicht geschürzte kleine Mädchen des großen Musiktheaters, die Operette, wird von den Liebhabern der Hohen Kunst gern mitleidig belächelt und von deren Paladinen, den Kulturpolitikern der jeweiligen Regime, genaugenommen seit Johann Strauß Sohn und Jacques Offenbach erbittert bekämpft. Zeitweilig gelingen diesen Banausen kurz anhaltende Triumphe. Berlin hat das ungeliebte Kind derzeit exmittiert. Gelegentlich schmuggelt es sich – Andreas Homoki und Barrie Kosky sei Dank – in die Komische Oper an der Behrenstraße. Die Bude ist dann immer rappelvoll. Ein eigenes Haus, wiewohl von vielen gewünscht, ist in Berlin für die Operette derzeit undenkbar.
Dresden hingegen macht vor, was möglich ist. Hier ist es die Stadt, die Trägerin der „Staatsoperette“ ist, nicht der Freistaat. Die Geschichte des Hauses nach 1990 ist denn auch eine Geschichte der Widerstandes gegen seine Abwicklung durch auch in Dresden nicht minder als in Berlin machthabende Banausen. Seit Februar 2018 – offiziell seit Dezember 2016, aber nach wenigen Monaten setzte die Sprinkleranlage das Theater außer Gefecht – bespielt die Staatsoperette Dresden ein eigenes Haus auf dem Areal des ehemaligen Kraftwerks Mitte. Nach knapp zwei Spielzeiten war wieder Schluss. Corona. Aber die Operette wäre nicht die Operette – und die leiderfahrenen Dresdner Theaterleute wären nicht die „Staatsoperette“ –, wenn sie keine Lösung gefunden hätten. Einen Operettenspaziergang wird man doch noch unternehmen können! Vom Kranfoyer („Paris“) über die Fahrradständer („New York“), die Laderampe („Dresden“) und den Platz vor dem Restaurant „Neue Sachlichkeit“ („Berlin“) geht es auf die Bühne des Großen Hauses nach „Wien“. Das Ganze läuft unter dem Titel „Ich hab’ noch einen Koffer in …“ unter der künstlerischen Gesamtleitung von Cornelia Poppe. Natürlich ist das Ganze ein Nummernprogramm. Na und? „Es muss nicht immer alles SINN machen. Oft reicht es, wenn es SPASS macht“, malte kürzlich eine Meißner Geschäftsfrau auf eine Kreidetafel vor ihrem Laden. Recht hat sie!
Also: Vergessen Sie Berlin, auf nach Dresden! Vielleicht ergattern Sie noch eine Karte … Sie werden beglückt wieder nach Hause fahren.
Wieder am 7., 8., 9., 11. und 12. Juli, jeweils um 19.30 Uhr (und am 12. Juli auch um 11.00 Uhr).
Musikalisches Familienunternehmen: Compagnia Di Leo
Vielen Zeitgenossen wird erst allmählich bewusst, welchen verheerenden Einfluss der Corona-Virus auf den Kulturbereich hat. Für viele Kulturstätten geht es mittlerweile ums nackte Überleben, für viele Künstler geht es mangels Auftrittsmöglichkeiten gleichfalls an die Existenz.
Der gebürtige Römer und nun im beschaulichen fränkischen Städtchen Ansbach wohnende Mario Di Leo hat zusammen mit seinen beiden Kindern Luca (Gitarre) und Stella (Gesang) kurz vor dem coronaren Ausbruch eine CD eingespielt, die den unfreiwillig zum aktuellen Zeitgeschehen passenden Titel „Canzoni di Vita“ (Lieder des Lebens) trägt.
Das musikalische Familienunternehmen Compagnia Di Leo hat für dieses Album einige Songperlen aus dem reichhaltigen Fundus der canzone d’autore herausgefischt. Die Musik dieser italienischen Liedermacher untermalt den in poetischen Zeilen gegossenen Lebenshunger der Künstler.
Neben Liebes-, Lebens- und Abschiedsschmerz – „La Canzone dell’Amore Perduto“ von Fabrizio di André ist der Wehmutssong in Perfektion – finden sich eine Hommage an ein italienisches Rennradfahreridol („Bartali“ von Paolo Conte) oder ein sehnsüchtiges Bekenntnis zum Meeresurlaub („Summer on a Solitary Beach“ von Franco Battiato).
Doch auch die beiden von Mario Di Leo selbst geschriebenen Lieder sind hörenswert und fügen sich nahtlos in die musikalische Revue ein. In „Le Stelle Nel Fosso“ geht es um einen Partisanen und Fluchthelfer. Und hier lohnt es auch, die im Booklet abgedruckte Übersetzung ins Deutsche zu lesen:
„Ein freier Geist, der fürchtet keine Ketten
Der will die Würde des Menschen retten
Mit hoch erhobenem Kopf geht er voran
Und zertritt die Sterne, die Sterne im Schlamm.“
Bleibt zu hoffen, dass das musikalische Familienunternehmen Di Leo bald wieder Gelegenheiten hat, ihre Musik auch in Livekonzerten zu präsentieren.
Compagnia Di Leo: Canzoni di vita, CD 2020, 15,00 Euro; Selbstvertrieb unter: www.mario-di-leo.de.
Medien-Mosaik
Vor 50 Jahren, am 26. Juni 1970, begann in der DDR eine neue Zeitrechnung. Das MDR-Fernsehen hat es gemerkt: An jenem Tag lief der erste Film der „Olsenbande“ in den DDR-Kinos an und sollte sich mit den folgenden Streifen zu einer Kult-Legende entwickeln. Die in Dänemark seit 1968 jährlich gestarteten Gaunerkomödien brachten es bis 1981 (in der DDR 1984) auf 13 Spielfilme. Über die Wirkung und die Gründe ist schon viel geschrieben worden und soll hier nicht wiederholt werden. Vieles davon kann in dem neuen opulenten „Olsenbanden“-Buch nachgelesen werden, das in Dänemark zum dortigen 50. Jubiläum 2018 erschien.
Zwei Jahre hat es gedauert, aber nun kann man es in deutscher Fassung erwerben. Der dänische Verlag Booklab legte das Buch zwar schon im vergangenen Jahr vor, aber außerhalb von Netzplattformen war es schwer zu finden. Erst jetzt konnte eine Vereinbarung mit dem deutschen Vertrieb Gingko Press getroffen werden. Das zweieinhalb Kilo schwere Werk von Autor Christian Monggaard, das unter Mitarbeit deutscher Anhänger wie dem „Olsenbanden“-Fan-Club aus Sachsen und den Radiojournalisten Frank Eberlein und Ingvar Jensen entstand, lässt keine Wünsche offen. Anders als bei dem vor mehr als 20 Jahren erschienenen deutschen Fan-Buch von Eberlein und F.-B. Habel hatten die Dänen einen gründlicheren Zugang zu Archiven und vor allem zu den Zeitzeugen – oder deren Nachkommen. Morten Grunwald, der „Benny“, stand für das Buch noch zur Verfügung, auch wenn er bald seinen Kollegen Ove Sprogøe und Poul Bundgard in den „Olsenbanden“-Himmel folgte.
In elf Kapiteln, die von großformatigen, meist farbigen Abbildungen begleitet werden, erzählt Monggaard anekdotenreich die Geschichte der von Erik Balling und Henning Bahs erdachten Filme von den ersten Einfällen über die Auswahl der Schauspieler, die anarchistischen Ideen, mit denen die Filme gespickt sind, bis zu den Nachwehen, wozu auch der mit dem MDR produzierte 14. „Olsenbanden“-Film von 1998 zählt – ein Nachzügler, der wegen des Todes mehrerer Mitwirkender heute wehmütig stimmt. Das Kapitel „Tiefe Spuren in der ostdeutschen Seele“ erzählt von der Aufnahme der Filmserie in der DDR, den Synchronfassungen und lässt Schriftsteller Uwe Tellkamp zu Wort kommen, der damals im Kino zur „Zielgruppe“ gehörte.
Christian Monggaard, Die Olsenbande, Verlag Booklab, Kopenhagen 2019, 331 Seiten, 49,95 Euro (unverbindliche Preisempfehlung).
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Wer hätte es geahnt – ein bisschen wurde die „Fridays for Future“-Bewegung schon bei der DEFA vorweggenommen, allerdings erst in deren Schlussphase. Sowohl Nachwuchsregisseur Jörg Foth wie auch Altmeister Rolf Losansky drehten Filme, deren Szenarien schon seit Jahren ohne Freigabe in den Dramaturgenbüros geschlummert hatten. Als sich der DEFA-Generaldirektor 1989 im Zeichen von Glasnost und Perestroika krankmeldete, konnten beide Filme in Produktion gehen. Foths „Biologie!“ entstand nach dem Buch „Wasseramsel“ des Mecklenburger Autors Wolf Spillner. In ihrer ersten Hauptrolle spielte Stefanie Stappenbeck eine Fünfzehnjährige, die bei einer Exkursion feststellt, dass im Naturschutzgebiet heimlich Funktionärs-Datschen errichtet wurden. (Mecklenburger Leser werden sich an ähnliche Vorfälle der jüngsten Vergangenheit erinnern.) Sie kann ihre Mitschüler für den Natur- und Artenschutz begeistern und es kommt zu einer kleinen Demo. Der Regisseur wollte im Stil offenbar an den Kultfilm „Sieben Sommersprossen“ (einschließlich Liebesszenen) anknüpfen, und trotz einiger Ungeschicklichkeiten gelang ihm ein schöner Streifen.
„Ihr fühlt euch bloß hinter Zäunen sicher.“ Dieser Satz aus Losanskys „Abschiedsdisco“ wäre noch ein Jahr zuvor bei der DEFA nicht möglich gewesen. Seinem Film lag eine Erzählung von Joachim Nowotny zugrunde. Wiederum ein Fünfzehnjähriger muss mit dem Tod seiner ersten großen Liebe klarkommen und macht sich allein auf den Weg zu seinem Großvater, der im Lausitzer Braunkohlengebiet lebt. Der Held wird mit Baggern konfrontiert, die eine tote Landschaft hinterlassen, und mit Menschen, die den Verlust der alten Heimat nur schwer verwinden können. Der Film erinnert sowohl in einigen überhöhten Szenen wie auch in der hervorragenden Ausstattung durch Jochen Keller an das Meisterwerk von Elem Klimow und Larissa Schepitko „Abschied von Matjora“, auch wenn der DEFA-Ableger weniger streng erscheint und Längen nicht ganz vermeidet.
„Biologie!“, DDR 1989/90, mit Bonusfilm „Abschiedsdisco“, DDR 1989/90; DVD bei absolut MEDIEN, 9,90 Euro.
Corona anderswo (II)
Flug 8303 der Pakistan International Airlines (PIA) war am 22. Mai auf dem Weg von Lahore zur Hafenstadt Karatschi kurz vor der Landung in ein Wohngebiet gestürzt. Zuvor hatte der Airbus A320 bei einem ersten Landeversuch ohne Fahrwerk auf der Landebahn aufgesetzt, wobei die Triebwerke beschädigt worden waren. 97 Insassen starben, zwei Passagiere überlebten.
Laut vorläufigem Untersuchungsbericht der pakistanischen Behörden zu dem Unglück waren vor allem schwere Fehler der Piloten Ursache des Absturzes. Laut Analyse der Sprachrekorder hätten die Piloten während des gesamten Fluges über Corona und ihre Sorgen wegen infizierter Familienmitglieder diskutiert – offenbar mit fatalen Folgen für ihre Konzentration.
Die PIA nahm die Katastrophe zum Anlass einer Überprüfung all ihrer Piloten. Im Ergebnis wurde 141 Piloten die Flugerlaubnis entzogen. Der Grund: Die Piloten sollen bei Prüfungen betrogen haben, teils indem andere Personen die Tests absolvierten. Untersucht werden soll nun auch, ob Lizenzen durch Bestechung erworben wurden.
Der Vatikan und die Bombe
Die offizielle Position des Vatikans zu Atomwaffen und zur nuklearen Abschreckung, also zur denkbar existenziellsten Gefährdung der Schöpfung, folgte bis zu Benedikt XVI. dem Argument, dass einseitiger Verzicht auf Atomwaffen den Frieden gefährde, weil das dadurch entstehende militärische Ungleichgewicht die Gegenseite nicht mehr von einem Militärschlag abschrecke. So hatte Papst Johannes Paul II. 1982 vor den Vereinten Nationen erklärt: „In der derzeitigen Weltlage kann eine auf einem Gleichgewicht beruhende Abschreckung zwar kein Ziel in sich, aber doch eine Etappe auf dem Weg zu allmählicher Abrüstung sein und kann daher als moralisch akzeptabel beurteilt werden.“
Das war im Kalten Krieg. Doch auch in den 25 Jahren danach änderte sich nichts an der Position des Vatikans. Aber dann, im vierten Jahre seines Pontifikats, nahm sich Franziskus des Themas an: Angesichts der katastrophalen Folgen für Mensch und Natur, aber auch der permanenten Gefahr unbeabsichtigter Explosionen von Atomwaffen seien „die Androhung ihres Einsatzes sowie ihr Besitz entschieden zu verurteilen“. So der gegenwärtige Papst im November 2017 vor Teilnehmern einer Abrüstungskonferenz beim Heiligen Stuhl. Vor Franziskus’ Reise nach Hiroshima und Nagasaki im November 2019 wurden nach einem Medienbericht mehrere westliche Botschafter im Vatikan vorstellig, um zu verhindern, dass der Papst diese Aussage in Japan wiederholt. Doch der bekräftigte vor Ort: „Schon der Besitz von Atomwaffen ist unmoralisch“. Inzwischen wirbt Franziskus auch für den UN-Atomwaffenverbotsvertrag von 2017.
Und nun kommt offenbar auch in die Obrigkeit der deutschen Katholiken Bewegung: Anlässlich des dritten kirchlichen Aktionstages gegen Atomwaffen, der vor dem Fliegerhorst in Büchel in der Eifel – Standort amerikanischer Atombomben in Deutschland – abgehalten werden sollte, wegen Corona jedoch nur virtuell stattfand, wandte sich erstmals ein katholischer Bischof an die Teilnehmer. Peter Kohlgraf, Bischof von Mainz und Präsident von Pax Christi, forderte in seiner Videobotschaft einen Beitritt Deutschlands zum Atomwaffenverbotsvertrag und forderte damit implizit auch den Abzug der US-Atomwaffen aus Büchel, denn dieses Abkommen, dessen Unterzeichnung die Bundesregierung ablehnt, verbietet neben Einsatz, Herstellung und Besitz von Atomwaffen auch deren Lagerung.
Es bleibt zu hoffen, dass Franziskus gelegentlich nun auch seine Ankündigung wahrmacht, die moralische Verurteilung des Besitzes von Kernwaffen und der Androhung von deren Einsatz im Katechismus festschreiben zu lassen.
Auch Corona?
„Eines ist ja schon irgendwie komisch: Je länger sich die Tage ziehen, desto kürzer kommt einem das Leben vor. Ein Widerspruch, aber so ist es halt. Und jetzt frage ich Sie: was tun die Leut, um sich das Leben zu verlängern und die Tage zu verkürzen? Sie reden. Sie reden, plappern, plaudern und erzählen, und zwar praktisch ohne jede Unterbrechung. Und auch wenn du manchmal glaubst, jetzt ist es endlich einmal ruhig, sagen wir zum Beispiel in der Kirch’ oder noch besser: auf dem Friedhof – bitteschön! – fangt schon wieder irgendjemand an zu palavern! Wahrscheinlich bleibt sich das sogar im Himmel oder unter der Erd’ gleich: Einer hat immer die Goschen offen. Aber ich sage Ihnen noch eines: Das meiste, von dem, was den Leuten den ganzen Tag so aus dem Gesicht fallt, kannst du gleich auf den Mist schmeißen! Weil nämlich zwar alle reden, aber keiner was weiß. Keiner kennt sich aus. Keiner ist im Bilde. Keiner hat eine Ahnung. Wobei: Heutzutage ist es vielleicht sowieso besser, nicht allzuviel Ahnung zu haben. Die Ahnungslosigkeit ist ja praktisch das Gebot der Stunde, das Nichtwissen das Leitmotiv der Zeit. Da kann man auch schon einmal hinschauen, ohne was gesehen zu haben. Oder hinhorchen und trotzdem nichts verstehen.“
Nein, nicht Corona. Aber aus Robert Seethalers grandiosem Roman „Der Trafikant“. Und immerhin ein Indiz dafür, was schon länger geahnt werden konnte: Es ändert sich alles, wie es war.
Robert Seethaler: Der Trafikant, Kein & Aber, Zürich 2013 (derzeit: 38. Auflage), 249 Seiten, 12,00 Euro.
WeltTrends aktuell
„Global denken, lokal handeln“ – so der Leitspruch der Nachhaltigkeitsdebatte. Das globale Denken hat dabei durchaus sichtbare Ergebnisse geliefert: Die 17 Ziele der UNO zur nachhaltigen Entwicklung bis 2030 liefern die Blaupause für einen ambitionierten Umbau der gesellschaftlichen Strukturen und Denkweisen. Im Denken ist sich die Weltgemeinschaft weitgehend einig, beim lokalen Handeln stauen sich jedoch die Probleme.
Im Thema beschäftigen sich unsere Autoren mit der Zwischenbilanz der UN-Agenda, ihren Zielen als Steuerungsinstrument globalen Regierens, der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie und der politischen Praxis am Beispiel Hessens.
Der WeltBlick steht ganz im Zeichen von Corona. In den Ländern Südosteuropas treiben chronisch unterfinanzierte Gesundheitssysteme die Gemüter um, in China sind es internationale Organisationen, in der Türkei die Wirtschaft und präsidiale Versprechen.
Was macht eigentlich Europa in der Coronakrise? Schafft es sich ab oder kann es sich für eine nachhaltigere Zukunft fit machen? Darum geht es im Kommentar von Sabine Ruß-Sattar.
Einblicke in die vatikanische Diplomatie, die zum Besuch Präsident Obamas in Kuba 2016 beitrug, gibt ein Text des früheren Erzbischofs von Havanna, Jaime Ortega y Alamino.
WeltTrends – Das außenpolitische Journal, Heft 165 (Juli) 2020 (Schwerpunktthema: „Nachhaltig bis 2030?“), Potsdam / Poznan, 4,80 Euro plus Porto. Weitere Informationen im Internet.
Blätter aktuell
Die Coronakrise hat die Koordinaten der deutschen Innenpolitik völlig auf den Kopf gestellt. Aus einem knappen Vorsprung der Grünen vor einem Jahr ist ein schier uneinholbarer der Union geworden. Blätter-Redakteur Albrecht von Lucke beleuchtet die Chancen der Parteien und ihrer potentiellen Kanzlerkandidaten – wie auch die Möglichkeit, einen Durchmarsch der Union bis zum Herbst 2021 doch noch zu verhindern.
Die Coronakrise absorbiert derzeit die gesamte politische und mediale Aufmerksamkeit. Eine andere, ungleich größere Bedrohung wird dagegen fast vollkommen ignoriert, nämlich die Modernisierung der Atomwaffen. Völlig anders, so der Politikwissenschaftler und Publizist Hans-Peter Waldrich, war die Situation nach dem Abwurf der ersten Atombomben vor 75 Jahren. Damals entspann sich eine große Debatte unter Europas Intellektuellen, von bis heute brennender Aktualität.
Seit dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803 überweist der Staat den Kirchen Jahr für Jahr Hunderte Millionen Euro zur freien Verfügung. Und obwohl eigentlich schon die Weimarer Reichsverfassung diese Praxis beenden sollte, kommt erst jetzt wirklich Bewegung in die Sache. Der Theologe und Journalist Christoph Fleischmann analysiert die Lage und warnt davor, dass das Allgemeinwohl am Ende erneut unter die Räder der Kircheninteressen kommen könnte.
Dazu weitere Beiträge, unter anderem: „Posttribalismus für die Praxis“, „Libanon: Im Zangengriff der Krisen“ und „Spanien: Die große Verfeindung“.
Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, Juli 2020, Einzelpreis: 9,50 Euro, Jahresabonnement: 79,80 Euro (Schüler & Studenten: 62,40 Euro). Weitere Informationen im Internet.
Aus anderen Quellen
Die Debatten darüber, ob die NATO mit ihren diversen Osterweiterungen frühere Zusagen an Moskau gebrochen habe, wabern mit Pro und Kontra bereits seit 20 Jahren. Michael Brettin liefert eine Zusammenfassung mit folgendem Fazit: „Der Vorwurf eines Wortbruchs ist nicht haltbar, die Zusagen, die der Westen 1990 machte, bezogen sich nur auf die DDR. Aber: Der Westen (Bush senior) täuschte die Sowjetunion (Gorbatschow) mit der Idee einer bündnisübergreifenden europäischen Sicherheitsordnung, setzte aber schließlich die Nato ins Zentrum der neuen Ordnung – ohne Moskau. Aus dieser Position der Stärke heraus entschied die amerikanische Regierung unter Bill Clinton, die Nato bis zu den Grenzen Russlands zu erweitern. Der Historiker und Diplomat George F. Kennan beurteilte diese Entscheidung 1997 als ‚verhängnisvollsten Fehler der amerikanischen Politik in der Ära nach dem Kalten Krieg‘. Es sei zu befürchten, ‚dass die nationalistischen, antiwestlichen und militaristischen Tendenzen in der Meinung Russlands entzündet werden‘ und dass diese ‚die russische Außenpolitik in Richtungen zwingen, die uns entschieden missfallen werden‘. Es ist genau so gekommen.“
Michael Brettin: Hat der Westen gegenüber Moskau sein Wort gebrochen?, berliner-zeitung.de, 01.06.2020. Zum Volltext hier klicken.
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Wirecard: über Nacht vom Höhenflieger zum schnöden Finanzbetrüger und Pleitier sowie zum größten Anlegerskandal der jüngeren deutschen Wirtschaftsgeschichte. Und – was für eine Premiere: Insolvenzantrag eines Dax-Konzerns (Dax = deutscher Leitindex, gern auch als „Königsklasse der Deutschland AG“ apostrophiert) – und zwar unter den Augen der staatlichen Finanzaufsicht.
Andererseits: Wenn das Kind erst mal im Brunnen liegt, dann geht es mit der Aufklärung manchmal ganz fix. Weil mit Ausnahme der Kleinanleger nämlich viele im Prinzip seit langem wussten, das was faul war im Staate Wirecard.
In der Nacht zum 22. Juni erfolgte der Offenbarungseid, das lange überfällige Eingeständnis seitens der Unternehmensführung, dass die fehlenden 1,9 Milliarden Euro nie vorhanden waren, und schon am folgenden Morgen hatte Daniel Zwick die wesentlichen Fakten beieinander: Dass es die „ersten Hinweise auf einen möglichen Betrug bei Wirecard […] schon im Jahr 2008“ gegeben habe und dass Dan McCrum, ein Kollege von der Financial Times, bereits „in einer Artikelserie Anfang 2019 bis in kleinste Details dargelegt [hatte] , dass es an vielen Stellen nicht mit rechten Dingen zugeht im Hause Wirecard. McCrum berichtete über Kunden, die nicht existieren, dubiose Geschäftspartner, intransparente Buchungen, extreme Summen für Zukäufe von Unternehmensteilen im Ausland.“ Nur Zwicks Krokodilstränen („[…] ein gewaltiger Betrugsskandal […] Praktisch alle Kontrollinstanzen am Markt und aufseiten des Staates haben in diesem Fall versagt.“) sind – mit Verlaub – heuchlerisch, denn dergleichen Betrügereien und Blindäugigkeiten der Politik wie der Aufsichtsbehörden sind doch nachgerade ein konstitutives Charaktermerkmal des Kapitalismus, so dass nach dem aktuellen Skandal immer auch zugleich vor dem nächsten ist. Neue Heimat, Bremer Vulkan, Schlecker sowie Sal. Oppenheim lassen grüßen, um nur an einige bundesdeutsche Bespiele zu erinnern.
Daniel Zwick Alle haben versagt – und den Standort Deutschland blamiert, welt.de, 22.06.2020. Zum Volltext hier klicken.
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„Trotz jahrzehntelanger Verhandlungen“, so Herbert Wulf, „haben sich die beiden asiatischen Großmächte Indien und China nicht über den umstrittenen gemeinsamen Grenzverlauf im Himalaya verständigen können. Erneut kam es jetzt zu Grenzstreitigkeiten und militärischen Scharmützeln mit Toten auf beiden Seiten. Keine der beiden Seiten rückt von ihrer Position ab, und beide wollen jeden Zentimeter umstrittenen Territoriums verteidigen. […] Der Grenzkonflikt hat seinen Ursprung in der Kolonialzeit. Großbritannien hinterließ das Gebiet bei der Unabhängigkeit Indiens als ‚undefinierte Grenze zwischen China und Indien‘. […] und immer wieder versuchen beide Seiten, mit Nadelstichen die eigene Position zu stärken. 1962 führten die Differenzen zu einem Krieg, bei dem die indische Armee eine empfindliche Niederlage erlitt, die in Neu-Delhi bis heute als Schmach empfunden wird.“
Herbert Wulf: In die Quere gekommen, ipg-journal.de, 22.06.2020. Zum Volltext hier klicken.
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Der Historiker und Kolumnist Götz Aly fordert, dem ersten Stadtkommandanten von Berlin, Generaloberst Bersarin, in der Stadt ein Denkmal zu setzen: „Bersarin hatte sein Vaterland vom ersten bis zum letzten Kriegstag als Offizier verteidigt und bemerkte in seiner Rede zur Einsetzung des neuen Berliner Magistrats am 20. Mai 1945: ‚Unsere Menschen vergossen ihr Blut, litten schwere Not. Ich habe während meines ganzen Lebens nichts gesehen, was dem ähnlich war, als die deutschen Offiziere und Soldaten wie Bestien gegen die friedliche Bevölkerung vorgingen.‘ Aber er verzichtete auf Vergeltung und Abrechnung, er wollte nicht Gleiches mit Gleichem vergelten. Vielmehr befahl er, die Wasserwerke und U-Bahnen in Gang zu setzen, Theater zu öffnen, Zeitungen zu drucken, die Elektrizitäts- und Gasversorgung schleunigst wiederherzustellen und Krankenhäuser zu reparieren. Ersparen wir es uns, die ersten Befehle deutscher Stadtkommandanten in sowjetischen Städten zu zitieren.“
Götz Aly: Ein Denkmal für Bersarin, berliner-zeitung.de, 16.06.2020. Zum Volltext hier klicken.
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Der Maler Michael Triegel, von Benedikt XVI. einmal als sein Raffael apostrophiert, äußerte kürzlich: „Der Begriff des Sozialistischen Realismus wird leider immer noch sehr pauschal für Kunst aus der DDR verwendet. Die Höllenstürze und manieristischen Überspanntheiten eines Tübke, die mythologischen Parabeln eines Mattheuer, der stets die bestehenden Verhältnisse in seiner Kunst kritisierte oder die Erotomanie und Selbstbeobachtung eines Rink haben ja nichts mit dem Klischee der siegreichen Arbeiterklasse zu tun.“ Und zu seinem persönlichen Credo: „Bis heute ist das Handwerk für mich kein einengendes Korsett. Seine sichere Beherrschung gibt mir im Gegenteil die Freiheit, mich vor dem Bild ganz um den Inhalt zu kümmern. Wir bekamen ein reiches Reservoir an Fertigkeiten vermittelt, das man, wenn es für das Bild notwendig war, jederzeit in einer bewussten Entscheidung reduzieren konnte – aber eben nicht aus Unvermögen oder Faulheit.“
„Der Meister der Renaissance – Der Leipziger Meister Michael Tiegel im Gespräch mit Stefan Groß“, tabularasamagazin.de, 20.05.2020. Zum Volltext hier klicken.
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Ach ja – und dann ist da noch die CDU 75 Jahre alt geworden und feiert das mit einem 120-Sekunden-Videoclip (zu demselben hier klicken). Auch Mely Kiyak, die, so O-Ton Kiyak, „deutsche Version von Dorothy Parker“ („noch ein Martini und ich lieg unterm Gastgeber“) und als solche die geeignetste Laudatorin zum aktuellen Anlass, hat das Filmchen angesehen und ihren Senf dazugegeben: „Die CDU ist der Harald Juhnke unter den deutschen Parteien. Alte Bundesrepublik, Messingkratzhand am Haken, Schnaps nach dem Mittagessen, Likörchen um drei, Bierchen zum Abendbrot. Ein Deutschland, dessen Kernkompetenz darin bestand, alle Zettel, Blätter und Formulare abzustempeln. Denkt man an die CDU, denkt man an das gute alte besoffene Stempeldeutschland.“
Und: „Es muss auf jeden Fall eine Warnung vor dem CDU-Geburtstagsvideo erfolgen. Der ganze Film wirkt wie eine Ladung Stromstöße vom Defibrillator. Worte und Bilder im Stakkato, Tarantino ist ein Witz dagegen. Bereits nach 60 Sekunden fühlt man sich wie ein schlaffer Körper, der mit aufgerissener Bluse und zwei Elektroschockern auf der Brust vom Teppich hochgedonnert wird. Für die Herzinfarktrisikogruppe ist das mit Sicherheit nichts.“
Im Übrigen aber: „Herzlichen Glückwunsch, altes Haus“!
Mely Kiyak: Kohl kommt auch vor, zeit.de, 01.07.2020. Zum Volltext hier klicken.
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