21. Jahrgang | Nummer 10 | 7. Mai 2018

Bemerkungen

Gaudeamus igitur!

Jene Bevölkerungsgruppen, die die deutschen, mehrheitlich christlich fundierten Feiertage noch in deren eigentlichem Sinn begehen, sind – wie man Jahr für Jahr mehr feststellen kann – nur noch als Spurenelemente vorhanden. Kaum jemand, außer in tiefkatholischen Südregionen, gedenkt zu Ostern wirklich des Martertodes Jesu und 40 Tage später seiner wundersamen Himmelfahrt. Bei Weihnachten als Geburtstag des Erlösers ist das nicht viel anders, von Pfingsten, der Ausgießung des Heiligen Geistes, die eh selbst viele Christen nicht recht zu erklären wissen, ganz abgesehen. Heilige Drei Könige, Allerheiligen, Buß- und Bettag, Fronleichnam, Reformationstag … wem außer einer Minderheit bedeuten solche Feiertage mehr, als dass sie eben Feiertage sind. Arbeitsfrei und überdies bezahlt! Was stellt man heutzutage noch mehr an Ansprüchen an solche Daten? Auch was sich am Tag der Arbeit dessen eigentlichen Themas wegen auf die Straße begibt, geht nicht sehr weit über bestallte Gewerkschafter und Parteileute hinaus; jedenfalls dann nicht, wenn man sich die üppige eigentliche Relevanzgruppe vor Augen hält. Nach eben jener politischen Relevanz befragt, lachen, wie man im Fernsehen erleben kann, junge Menschen mit nicht erkennbar prekärem Herkommen, diese fröhlich negierend in die Kamera und erklären, nichts weiter zu wollen als „zu feiern und zu trinken“. Was sie denn auch ausschließlich so handhaben: Gaudeamus igitur iuvenes dum sumus. (Wir wollen also fröhlich sein, solange wir noch jung sind.)
Ihre Widerparte, die jungen 1. Mai-Revolutionäre, tragen wiederum martialisch einen Haufen politischer Losungen vor sich her, haben aber augenscheinlich vor allem Interesse daran, möglichst viel Randale gegen das Schweinesystem auszulösen.
Wenn religiösen und politische Feiertage also mehr und mehr ihres Sinnes entleert werden, böte sich vielleicht an, sie ihrer Namen zu entheben und sie einfach durchzunummerieren, was auch der Säkularität des feiertaggewährenden Staates mehr entspräche. Aber wann findet unsereiner mit kühnen und vorwärtsweisenden Vorschlägen schon Gehör? Vielleicht sollte man sich doch per Gebet an den HERRN wenden, seinen schöpferischen Einfluss geltend zu machen. Im Erfolgsfalle könnte man zumindest Ostern und Weihnachten ihre Namen doch außerhalb der Nummerierung zugestehen.

Helge Jürgs

Dumm gelaufen

Die U.S. Navy hält sich erklärtermaßen für die beste Marine der Welt und ist mit ihren global operierenden Flotten (insgesamt knapp 300 Kriegsschiffe das geeignete Instrument für ein Agieren, das man in Zeiten klarer Sprache noch als Kanonenbootpolitik bezeichnete.
Allerdings: Shit happens. Da hat in der Vergangenheit ein durchgeknallter Käpt’n auch schon mal Mist gebaut („Die Caine war ihr Schicksal“). Doch selbst in dieser Hinsicht ist man beim Militär der USA inzwischen ein ganzes Stück weiter: Heute sind ganze Führungscrews auf Raketenzerstörern der sogenannten Arleigh-Burke-Klasse (150 Meter lang, 20 Meter breit, Stückpreis heutiger Neubauten: bis zu 3,7 Milliarden Dollar) offenbar zu dämlich, ihre Schiffe unfallfrei zu führen:
Im Juni 2017 kollidierte die USS „Fitzgerald“ mitten im Pazifik – zwar nachts, aber bei ruhiger See und guter Sicht – mit einem mehr als doppelt so großen philippinischen Frachter. Zwei Monate später gelang dieses Kunststück der „John S. McCain“ (Nomen est omen?) vor dem Hafen von Singapur mit einem in Liberia registrierten Tanker. Die Bilanz: Siebzehn tote Seeleute auf Seiten der USA und zwei schwerstlädierte Kriegsschiffe.
Dieser Tage wurde der offizielle Untersuchungsbericht der Navy vorgelegt. Demzufolge bestand die Unfallursache in beiden Fällen in haarsträubender Inkompetenz bis hinauf zum Kommandanten. Die Besatzungen hätten das Seemannshandwerk nur unzureichend beherrscht.
Da hat die Welt wohl noch einmal Glück gehabt, dass keine russischen oder chinesischen Pötte beteiligt waren …

Sarcasticus

Abbas’ Bärendienst

Der Nahostkonflikt mit seinem Kern, dem Quasi-Kriegszustand zwischen Israel und Palästina, gehört wohl zum Hoffnungsärmsten, was die Welt zumindest hinsichtlich seiner  betonierten Beständigkeit zu bieten hat. Trotz aller zwischenzeitlichen Trippel-Fortschritte nach dem Muster „ein Schritt vor, derer zwei zurück“ – beide Seiten sind noch immer unversöhnlich, und keiner von beiden lässt sich pure Lauterkeit in ihrem Tun und Lassen zubilligen. Ohne die auch verbindliche und praktische Anerkennung des Existenzrechts Israels durch die Palästinenser wird es ebenso wenig reale Vorwärtsbewegung geben wie ohne die ebenso verbindliche Anerkennung eines gleichberechtigten palästinensischen Staats durch Israels, samt dem Verzicht auf weitere kalte Annexionen. Ohne Verzicht auf Gewalt auf beiden Seiten schon gar nicht. Stattdessen aber kann man Jahr für Jahr darauf warten, dass Angehörige einer der beiden Seiten – die keineswegs deren Repräsentanten sein müssen – zur Gewalt greifen, was Anlass für die jeweils andere Seite ist, ebenso gewaltsam zurückzuschlagen.
Unterstellt man beiden Seiten einmal, im Grunde ihrer politischen Herzen (was wohl weitgehend ein Widerspruch in sich sein dürfte) Besserung und gar Normalisierung zu wünschen, kann man über Mahmoud Abbas nur den Kopf schütteln. Hat der palästinensische Präsident doch dieser Tage in einer Rede erklärt, das jüdische Volk trage durch sein „soziales Verhalten“ die Schuld am Holocaust, womit er vornehmlich auf den Geldverleih abhob. Eine nahezu klassisch antisemitische Charakterisierung des Judentums! All jenen Kräften, die sich zum palästinensischen Bestreben nach völkerrechtlich anerkannter Eigenstaatlichkeit solidarisch verhalten, hat Abbas einen Bärendienst erwiesen; was für eine Steilvorlage für den israelischen Falken Benjamin Netanjahu.

Hannes Jahn

Hans Erxleben zum Gedenken

Am 29. April starb in Berlin unser Autor Hans Erxleben im Alter von 71 Jahren. Er war ein zurückhaltender Schreiber, seine Texte immer kurz – aber sie betrafen stets Wesentliches. Hans Erxleben wurde, was viele nicht wissen, zu einer Hassfigur der Berliner Naziszene. Sie zündeten ihm das Auto an, attackierten sein Haus, er musste Polizeischutz in Anspruch nehmen. Erst vor kurzem gab es wieder einen Anschlag auf ihn, den er allerdings nicht öffentlich machte. Der Grund für diesen Hass: Nicht zuletzt dem nimmermüden Einsatz Erxlebens ist zu verdanken, dass die Berliner Faschisten in Schöneweide sowohl ihren Treff als auch einen Szeneladen aufgeben und im Stadtbezirk Treptow-Köpenick generell Federn lassen mussten – hier befindet sich immerhin die NPD-Bundeszentrale. Nicht alles gelang ihm: Ich erlebte ihn als engagierten Mitstreiter für die Bewahrung des Erbes des Metallbildhauers Fritz Kühn in Berlin – wir scheiterten. Und Behördenignoranz gegenüber städtischer Verwahrlosung begegnete er gern dadurch, dass er Reinigungsmittel und Bürste in die Hand nahm und Schmierereien an hiesigen Marktbrunnen eigenhändig beseitigte. Andere beschränken sich auf das Schreiben von Protestartikeln und Petitionen. Vor wenigen Wochen erst ging Hans mit großem Mut und Vertrauen in die Kunst der Ärzte in eine Klinik. Er hat seinen letzten Kampf verloren. Wir werden unseren tapferen Mitstreiter vermissen.

Wolfgang Brauer

WeltTrends aktuell

Unter multipolar diskutiert WeltTrends künftig dreimal pro Jahr militär- und sicherheitspolitische Themen. Damit wird an die langjährigen Arbeiten der Dresdner Studiengemeinschaft Sicherheitspolitik (DSS) angeknüpft und die Thematik der im vorigen Jahr erschienenen drei multipolar-Hefte fortgeführt.
Die aktuelle Ausgabe befasst sich mit der Frage: Wie soll es mit dem „europäischen Projekt“ weitergehen? Verstärkt wird auf die „militärische Komponente“ gesetzt, nicht zuletzt forciert durch die Politik der Trump-Regierung. Im Thema analysieren die Autoren Aspekte dieses Prozesses wie die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (PESCO) und den Europäischen Verteidigungsfonds (EVF), aber auch das Scheitern der Europäischen Verteidigungsunion (EVG) in den 1950er Jahren.
Auch weitere Artikel dieses Heftes sind sicherheitspolitischen Fragen gewidmet. Lutz Kleinwächter untersucht den durch Konfrontation statt Dialog bestimmten „Kalten Frieden“, während sich Arne Seifert für die Wiederbelebung der Prinzipien der friedlichen Koexistenz ausspricht und im Kommentar die Frage nach einem neuen Wettrüsten gestellt wird.
Im WeltBlick rechnet Alexander Rahr nach den russischen Präsidentschaftswahlen mit einer raschen Verjüngung der Regierung und einem neuen Reformprozess. Russland werde sich stärker auf Partner im euro-asiatischen Raum orientieren.

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WeltTrends – Das außenpolitische Journal, Heft 139 (Mai) 2018 (Schwerpunktthema: „Militärmacht EU?“), Potsdam / Poznan, 4,80 Euro plus Porto. Weitere Informationen im Internet.

 

Blätter aktuell

Mit den Luftangriffen der USA, Großbritanniens und Frankreichs schien kurzzeitig eine neue Eskalation des Syrienkriegs bevorzustehen. Darüber aber droht das Schicksal der Kurden in Vergessenheit zu geraten. Der Journalist Patrick Cockburn analysiert deren gewandelte Rolle. Einst gefeiert für ihren Kampf gegen den IS, geraten sie nun durch die Invasion des türkischen Militärs zunehmend unter Druck. Mit dessen Eroberung Afrins ist das Land nun dreigeteilt – und der Krieg tritt in eine neue Phase.
Am 14. Mai begeht der Staat Israel seinen 70. Geburtstag. Doch angesichts der hoch angespannten Lage vor Ort und in seiner Umgebung gibt es wenig Grund zur Freude. Jörn Böhme, wissenschaftlicher Referent für Nahost und Nordafrika in der Bundestagsfraktion der Grünen, sieht die Zwei-Staaten-Lösung von 1948 in immer weitere Ferne rücken. Dennoch gebe es zu dieser bis heute keine Alternative.
Seit dem Tod von Hugo Chávez wächst die gesellschaftliche Unzufriedenheit in Venezuela mit jedem Tag. Dennoch erscheint ein politischer Kurswechsel bei der Präsidentschaftswahl am 20. Mai als äußerst unwahrscheinlich. Edgardo Lander, Soziologe und einer der bedeutendsten Linksintellektuellen Venezuelas, analysiert die Ursachen der Krise, die er vor allem in den wirtschaftspolitischen Paradoxien des bolivarischen Projekts ausmacht.
Dazu weitere Beiträge – unter anderem: „Mali am Abgrund: Fünf Jahre Militärintervention“, „Im Fahrstuhl nach unten: Marx und die Abstiegsgesellschaft“ und Der Fall Skripal: Schwarze Pädagogik einer Wertegemeinschaft“.

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Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, Mai 2018, Einzelpreis: 9,50 Euro, Jahresabonnement: 79,80 Euro (Schüler & Studenten: 62,40 Euro). Weitere Informationen im Internet.

 

Aus anderen Quellen

Im Hinblick auf den Russland betreffenden Einheitsbrei hiesiger Mainstreammedien bemerkte Antje Vollmer, ehemalige Vizepräsidentin des Bundestages, jüngst: „Ich beobachte in der Berichterstattung zum Beispiel eine extreme Feindbildprojektion auf Putin und Russland, die irrationale Züge trägt und weit über die notwendige und berechtigte Kritik hinausgeht. […] Man interessiert sich kaum ernsthaft für Russland. In manchen Medien scheint das Bild vorzuherrschen, das heutige Russland sei die gradlinige Fortsetzung der Sowjetunion, ja geradezu die Fortsetzung des Stalinismus. Stereotype Denkmuster und Vorurteile werden nicht mehr überprüft. Es gibt keinerlei offene Neugier auf das heutige real existierende Russland. Es reicht, wenn man Memorial, Pussy Riot und den Oligarchen Chodorkowski kennt.“ Und zu den Ursachen: „Aus den Ereignissen der Revolutionen von 1989 und dem Fall des Eisernen Vorhangs wurden die falschen Schlüsse gezogen. Der Westen fühlte sich als Sieger der Geschichte und träumte von weiteren Regime Changes weltweit. Die Verdienste der Entspannungspolitik wurden geleugnet. Der erhebliche Beitrag der Sowjetunion zu dem Wunder, dass diese Veränderungen in Europa weitgehend gewaltfrei verliefen, wurde allmählich vergessen.“
„Wer sich für Mäßigung im Umgang mit Russland einsetzt, muss sich warm anziehen“ (Interview mit Antje Vollmer), NachDenkSeiten, 24.4.2018. Zum Volltext hier klicken.

Zusammen mit Günter Verheugen (SPD), Edmund Stoiber (CSU), Horst Teltschik (CDU) und Helmut Schäfer (FDP) wandte sich Antje Vollmer dieser Tage erneut mit einem Appell „Dialog statt Eskalation. Für eine vernünftige Russlandpolitik“ an die Öffentlichkeit: „Wir sollten eine Politik entwickeln, die sich ausschließlich am internationalen Recht und an der gemeinsamen Verantwortung für das Schicksal der gesamten Menschheit ausrichtet. Deutschland und die Europäische Union sollten dazu die Initiative ergreifen. Die Idee einer gesamteuropäischen Partnerschaft ist zwar nicht neu, aber wartet auf Verwirklichung.“
Die Süddeutsche Zeitung lehnte die Publizierung des Textes mit der befremdlichen Begründung „zu viele Autoren“ ab. Ausgerechnet die FAZ (12.4.2018) tat dies nicht, versteckte den Beitrag auf FAZ.NET allerdings hinter ihrer Bezahlschranke, was keinesfalls mit allen Beiträgen der Printausgabe geschieht …
„Dialog statt Eskalation. Für eine vernünftige Russlandpolitik“. Zum Volltext hier klicken.

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Der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft nahm Stellung zu den jüngsten antirussischen Sanktionen der USA: „Die Begründung der US-Administration für die erneuten Sanktionen ist in dieser Form nicht nachvollziehbar: Es bleibt in vielen Fällen unklar, worin die Regelverletzung der betroffenen Personen und Unternehmen bestehen und was sie tun könnten, um von dieser Sanktionsliste wieder gestrichen zu werden. Dramatische Folgen für die Versorgungssicherheit in Europa hätte eine Ausweitung von Sanktionen auch gegen russische Energiekonzerne. Das Weiterdrehen der Sanktionsspirale in diese Richtung muss unbedingt verhindert werden.“
Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft: Neue US-Sanktionen gegen Russland – Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft, 02.05.2018. Zum Volltext hier klicken.

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„Der Realsozialismus“, meint Thomas Kuczynski, „einer der besten Marx-Kenner des Landes“ (O-Ton Die Zeit)“, der hatte nicht so wahnsinnig viel mit Marx zu tun; ungefähr so viel wie die Inquisition mit Jesus Christus.“ Und auf die Frage, ob er wirklich noch auf eine Revolution im Marxschen Sinne hoffe: „Ich halte es hier mit Lichtenberg, der im Angesicht der Jakobiner-Diktatur befand: Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird, aber ich weiß, es muss anders werden, damit es besser wird. Und ich glaube nicht, dass es ohne Revolution abgehen wird.“
„Ich fürchte die Revolution nicht“ (Interview mit Thomas Kuczynski), Die Zeit (online), 18.4.2018. Zum Volltext hier klicken.

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Bis zum 12. Mai will der Präsident der USA über einen möglichen Ausstieg aus dem internationalen Abkommen zur Eingrenzung und Kontrolle des iranischen Nuklearprogramms entscheiden. Zu den möglichen Folgen meint Oliver Meier, stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP): „Die Auswirkungen […] hängen davon ab, wie sich dieser vollzieht. Sollten die USA sich einfach still und leise aus der Vereinbarung verabschieden, könnten die anderen Parteien, also China, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, die EU, Russland sowie Iran das Abkommen möglicherweise retten. Sollten die USA aber alle Register ziehen, wären die Folgen weitreichend. So kann Washington extraterritoriale Sanktionen verhängen, um auch andere Länder zu zwingen, der US-Politik zu folgen. Die USA könnten auch im Vertrag angelegte Verfahren missbrauchen, um einen Beschluss des Sicherheitsrats über eine Wiederverhängung von UN-Sanktionen herbeizuführen. Das würde Europa und die anderen Beteiligten in eine schwierige Lage bringen und dürfte den transatlantischen Beziehungen nachhaltigen Schaden zufügen.“
„Trump sieht Iran als die Wurzel vieler Konflikte“ (Interview mit Oliver Meier), Frankfurter Rundschau (online), 28.04.2018. Zum Volltext hier klicken.

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Unter dem Titel „Dalej jest noc“ (Vor uns die Nacht) ist in Polen eine „bahnbrechende“, so Reinhard Lauterbach in einer Besprechung, zweibändige, 1600 Seiten starke Studie erschienen, die das Verhältnis der einheimischen Bevölkerung zu den von den Deutschen verfolgten und ermordeten Juden während des Zweiten Weltkrieges zum Gegenstand hat – „gestützt auf zum Teil erstmals ausgewertete Archivalien und Zeugenaussagen aus Polen, Deutschland, Belarus, der Ukraine, Russland, Israel und weiteren Ländern“. Das Fazit für die untersuchten ländlichen Gebiete Polens: „Zwei Drittel der Schutzsuchenden seien von polnischen Nachbarn den Deutschen ausgeliefert oder eigenhändig ermordet worden […]; von ca. 200.000 den deutschen Razzien und Todeszügen entkommenen Juden hätten nur 30.000 die Befreiung erlebt. Hilfe für Verfolgte, wie sie jetzt offiziell in den Mittelpunkt der polnischen Selbstdarstellung gestellt wird, war offenbar eher die Ausnahme als die Regel.“ Der Lohn für Denunziation: „ […] pro ausgeliefertem Juden ein Pfund Zucker oder eine Flasche Schnaps […]“. Das Argument, das Verstecken von Juden sei von den Deutschen mit der Todessstrafe geahndet worden, kontert einer der Mitherausgeber der Studie, Jan Gra­bowski, folgendermaßen: „Auch andere Sachen waren von den Deutschen mit der Todesstrafe bedroht, und die Polen hätten sie trotzdem gemacht. Zum Beispiel Schwarzschlachten. Es müsse also schon daran gelegen haben, dass das Verstecken von Juden in der polnischen Mehrheitsgesellschaft nicht so akzeptiert gewesen sei wie das heimliche Töten von Schweinen.“
Reinhard Lauterbach: Für ein Pfund Zucker, junge Welt (online), 23.4.2018. Zum Volltext hier klicken.

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Vor kurzem haben wir an 100 Jahre Weltbühne erinnert. Das taten andere auch. So laudatierte Otto Köhler und sparte dabei dieses Kapitel aus frühesten Weltbühne-Tagen nicht aus: „[…] noch als der deutsche Kriegsdiktator Erich Ludendorff längst verkleidet nach Schweden geflohen war, stand selbst in der Weltbühne Mordhetze gegen die Revolution, gegen den Spartakusbund, gegen Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht.“ Autor: Johannes Fischart. Der „erhielt Jahrzehnte später unter seinem richtigen Namen Erich Dombrowski das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. Als Gründungsherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für Deutschland schrieb er zum zehnten Jahrestag des 8. Mai 1945: Nach einem ‚verzweifelten Ringen mit einer Koalition der ganzen Welt‘ sei mit der Niederlage […] ‚Schmach und Schande‘ gekommen […]. […] Auch solches Gesindel gehört leider zu unserer Vergangenheit.“ Und Wolfgang Beutin bilanzierte: „Was ist es aber, das bis heute die Weltbühne in ehrender Erinnerung hält? Es lässt sich von ihr und den Rühmlichen unter ihren Beiträgern etwas Wichtiges lernen […]: das Anfassen heißer Eisen.“
Otto Köhler: Hundert Jahre Weltbühne, Ossietzky, 6/2018. Zum Volltext hier klicken.
Wolfgang Beutin: „Wir wollen kämpfen mit Hass aus Liebe“, junge Welt, 31.3.2018. Zum Volltext hier klicken.