20. Jahrgang | Nummer 17 | 14. August 2017

Bemerkungen

Der Lärm der Zeit

Julian Barnes, der britische Autor, hat sich mir mit „Vom Ende einer Geschichte“ mit überraschenden Erkenntnissen über die Unzuverlässigkeit des eigenen Gedächtnisses eingeprägt. Jetzt liegt „Der Lärm der Zeit“ bereit. Ein Roman über Dmitri Schostakowitsch. Lakonisch wird über Stationen des Künstlers geschrieben, seinen Wunsch, unter allen Umständen Musik zu machen, seine Selbstverleugnung, seinen Todeswunsch, die Bedrängung durch die Macht und – die Angst, die zu Stalins Zeiten allgegenwärtig war.
Ist es verwerflich, wenn er sich der Macht beugt, um komponieren zu können, fragt der Klappentext. Barnes‘ Schostakowitsch reflektiert: „Dann gab es noch andere, die etwas mehr verstanden, die dich unterstützten und zugleich doch enttäuscht von dir waren. Die eine simple Tatsache nicht begriffen: Dass es hier unmöglich war, die Wahrheit zu sagen und am Leben zu bleiben. Die sich einbildeten, sie wüssten, wie die Macht funktioniert, und wollten, dass du dich dagegen zur Wehr setzt, wie sie es, so glaubten sie, an deiner Stelle tun würden. Aber der Märtyrer solltest du sein, nicht sie. […] er würde versuchen, diese Idealisten möglichst lange zu enttäuschen.
Sie verstanden einfach nicht, diese selbsternannten Freunde, wie sehr sie selbst der Macht glichen […].“
Persönliche Eigenschaften Schostakowitschs und Politik werden im Buch eng verwoben, manchmal scheint allerdings die Musik selbst etwas sehr am Rand zu stehen. Ich weiß nicht, ob mir Barnes‘ Sicht auf Schostakowitsch gefällt, aber das ist ein Buch für langes Nachdenken, eines, das uns angeht …
Unbedingt lesen!

mvh

Julian Barnes: Der Lärm der Zeit, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017, 245 Seiten, 20,00 Euro.

Wer sperrt denn Bürgermeister ein!

Am 4. August verkündete Landesrichterin Anna-Sophia Geisselhofer im nunmehr dritten Salzburger Finanzskandal-Prozess die Urteile für sieben Angeklagte. Alle wurden wegen Untreue schuldig gesprochen – und entgegen der gewohnten Rechtspraxis in der Alpenrepublik erhielt der prominenteste Angeklagte, der Salzburger Oberbürgermeister Heinz Schaden (SPÖ), drei Jahre Haft, von denen er eines unbedingt absitzen muss. SPÖ-Landesparteichef Walter Steidl erklärte stante pede, dass dieses Urteil „ein Tiefschlag unter die Gürtellinie“ sei und sich für ihn persönlich „Recht anders“ anfühle. Das verwundert nicht. Steidl übernahm sein Amt im Jahre 2013, nachdem SPÖ-Landeshauptfrau Gabi Burgstaller die wegen des 2012 offenbar gewordenen Finanzskandals vorgezogenen Landtagswahlen mit stolzen 15,5 Prozent Stimmenverlust versemmelt hatte.
Jetzt drohen – Schaden hat seinen Rücktritt für den 20. September angekündigt – vorgezogene OB-Wahlen. Die Karten für die SPÖ sind miserabel. Am 15. Oktober stehen die Nationalratswahlen an – 2013 lag die SPÖ nur mit knapp drei Prozent vor der ÖVP. Letztere liegt in fast allen Umfragen mit neun Prozent vor den Sozialdemokraten. Die liefern sich dafür mit den „Freiheitlichen“ ein Kopf-an-Kopf-Rennen um die Plätze.
Steidls Ausbruch hat also Gründe. Konnten die Richter nicht ein kleines bisserl Rücksicht nehmen? Außerdem sind doch der Schaden-Heinz und sein Spezi Othmar Raus – Finanzreferent des Landes a.D., auch SPÖ; Raus wurde zu zwei Jahren Haft verurteilt, von denen er mindestens sechs Monate absitzen muss – „Ehrenmänner, die sich persönlich nie bereichert haben“, wie die Salzburger Nachrichten einige andere „Ehrenmänner“ der Salzburg-Connection zitierten.
Das haben sie tatsächlich nicht. Ihnen und ihren Mitangeklagten wurde vorgeworfen, im Jahre 2007 sechs negativ bewertete Swap-Geschäfte ohne Gegenleistung von der Stadt an das Land Salzburg übertragen zu haben. Der Schaden durch die faulen Derivate für das Land wird derzeit mit 4,8 Millionen Euro angegeben. Das zwischen 2001 und 2012 aufgelaufene Volumen der ominösen Zinswettgeschäfte wurde im ersten der erwähnten Prozesse auf 350 Millionen Euro geschätzt.
Auch für Deutschland sind das keine unbekannten Geschäfte. Deutsche Bank, West LB und andere Landesbanken haben jahrelang Swaps verkauft. Viele hochverschuldete Kommunen griffen begierig zu und stehen inzwischen vor einem Scherbenhaufen. Am 8. August begann vor dem Landgericht Mannheim ein Untreue-Prozess unter anderem gegen die ehemalige Oberbürgermeisterin von Pforzheim, Christel Augenstein (FDP), und ihre Stadtkämmerin. Nach diversen Rettungsversuchen blieb Pforzheim noch ein Verlust von rund 12 Millionen Euro. Das gleicht, nüchtern betrachtet, dem berühmten blauen Auge. Der Bundesgerichtshof stufte das Verlustrisiko bei Swaps als „theoretisch unbegrenzt“ ein, wie die Süddeutsche Zeitung dieser Tage berichtete. Sinnigerweise wird Augenstein von einem Anwalt namens Wolfgang Kubicki vertreten. Der ist Stellvertretender Bundesvorsitzender der FDP. Sollte in Mannheim ähnlich wie in Salzburg verfahren werden, könnte dies ein kleines politisches Erdbeben auslösen: Nach jahrelangem prozessualen Gezerre kamen die Verantwortlichen des Berliner Bankenskandals ungeschoren davon. Berliner Polit-Größen gerieten erst gar nicht vor die Schranken Justitias.
Eine Folge hat das Kollegium um Richterin Geisselhofer allerdings nicht bedacht. In beiden deutschsprachigen Ländern würde die Überfüllung der Knäste hoffnungslos zunehmen, sollte das Salzburger Beispiel Schule machen. Manche blicken schon gespannt auf Wien. Finanzstadträtin Renate Brauner (SPÖ) spekulierte dort heftig mit Schweizer Franken. Der Standard bezifferte im März 2016 die in Rede stehende Summe auf über 1,9 Milliarden Franken, in summa 33,9 Prozent des Gesamtschuldenstandes der Stadt per 31. Dezember 2015.
Wie gesagt, am 15. Oktober sind Nationalratswahlen, und auch der Wiener OB Michael Häupl ist SPÖ-Mann.
Österreich ist ein erdrutschgefährdetes Land.
Nicht nur nach Starkregen in den Alpen.

Wolfgang Brauer

Luxus hinter Schwedischen Gardinen

Vor kurzem hatte ich mich in einem Beitrag mit dem Titel „Knast als Geschäftsmodell“ mit dem Trend zur Privatisierung des Strafvollzuges in den USA befasst – einem boomenden Geschäftszweig, der seinen Profit mit der billigen Massenunterbringung von Häftlingen macht.
Nachzutragen dazu ist noch die Nobelvariante, an Straftätern viel Geld zu verdienen, mit der etliche Kommunen in den USA ihre Finanzen nicht unerheblich aufbessern.
Dass Knast, zumal in den USA, oft die Hölle ist, kennt man aus Spielfilmen und Serien zur Genüge: physische Angriffe einschließlich sexueller Gewalt durch Mitgefangene, Schikanen durch die Wärter, versiffte Sanitäreinrichtungen, schlechtes Essen, übervolle Zellen …
Muss aber nicht sein. Wer zum Zeitpunkt seiner Verurteilung hinreichend flüssig ist oder sich die Kohle anderweitig beschaffen kann, hat Aussichten, seine Zeit in einem der sogenannten „Pay-to-Stay-Jails“ abzusitzen. Eine solche Einrichtung befindet sich zum Beispiel in dem Städtchen Seal Beach, Kalifornien, gelegen direkt am Meer. Dort haben die 4er-Zellen bequeme Betten und Flachbildfernseher. Die Insassen dürfen telefonieren, im Internet surfen und DVDs ausleihen. Das Personal ist ausnehmend höflich. Und man bemüht sich um die Gäste. In Santa Ana etwa, einer anderen derartigen Einrichtung, stellt man jedem Ankömmling einen Mitarbeiter zur Seite, mit dem er seine „besonderen Bedürfnisse“ besprechen kann. Damit wirbt dieser Nobelknast ganz offen im Internet. Mancherorts werden auch Yoga-Kurse angeboten.
Solcher Service ist natürlich nicht für lau zu haben. Aber schon mit knapp 40.000 Dollar jährlich plus Verwaltungsgebühren kann man dabei sein. Mörder und notorische Gewalttäter sind zwar ausgeschlossen, aber praktisch alle anderen Arten von Verurteilten können sich bewerben … Einige Hundert dieser Knäste gibt es USA-weit bereits.
Aktivisten von der Bürgerrechtsorganisation America Civil Liberties Union (ACLU) allerdings kritisieren das Modell: Viele Menschen, die in solchen Einrichtungen Zuflucht suchten, könnten sich das „Eintrittsgeld“ eigentlich gar nicht leisten. ACLU-Funktionär Mike Bricker: „Wer die Haft mit einem Berg Schulden verlässt, kann sich kaum wieder erfolgreich in die Gesellschaft integrieren.“ Und gleite nicht selten in erneute Kriminalität ab.

Sarcasticus

Unterwegs

Entwirf deinen Reiseplan im Großen – und laß dich von der bunten Stunde treiben.
Peter Panter

Wenn man sich auf Geschäftsreise begibt, erhält man in den immer gleichen Hotelzimmern mit den immer gleichen Mini-Bars eine Ahnung von der Globalisierung der Welt.
Tom Tykwer

Wie es Leute gibt, die Bücher wirklich studieren, und andere, die sie nur durchblättern, gibt es Reisende, die es mit Ländern ebenso machen.
Ferdinando Galiani

Beobachten Sie mal Touristen: Alle konzentrieren sich auf die historischen Sehenswürdigkeiten. Bis eine Katze auftaucht.
Peter Hohl

Wandern, sich abmühen, klettern, rutschen, klimmen, herausholen, was in einem Körper drinsteckt, auch das ist Reisen.
Peter Panter

Am häufigsten fragen die Autotouristen nach dem Brandenburger Tor. Was wollen die Leute bloß immer von diesem pathetischen Gebälk? Es ist das ausgelaugteste Symbol der Welt. In meiner Kindheit gab es eine Margarine, der das Brandenburger Tor in Plastik beilag. Es ist ein Symbol für Freiheit, Unrecht, Einheit, Teilung, Krieg, pflanzliches Fett, Frieden und Vaterland, und für alles andere, was es sonst noch so gibt, ist es vermutlich auch ein Symbol.
Max Goldt

Heute überfliegt der Reisende in vier Stunden zwei Kriege, drei Umweltkatastrophen und einen Völkermord und nimmt die Bruchlinien unserer Zeit kaum wahr.
Georg Diez

Die wahre Entdeckungsreise besteht nicht darin, neue Landschaften zu suchen, sondern mit neuen Augen zu sehen.
Marcel Proust

Wer die Enge seiner Heimat begreifen will, der reise. Wer die Enge seiner Zeit bemessen will, studiere Geschichte.
Ignaz Wrobel

Gefunden von bebe.

WeltTrends aktuell

Was ist die EU und was soll sie sein? Die Lage ist dramatisch genug: Mit Großbritannien steht ein politisches Schwergewicht vor dem Austritt, das ökonomische Gefälle zwischen Nord und Süd wächst, Rechtspopulisten wüten gegen die „Brüsseler Bürokraten”. Im Thema analysieren unterschiedliche Autoren die zwiespältige Haltung junger Europäer zur EU wie auch das „Weißbuch zur Zukunft Europas”. Sie untersuchen die erneute „Kerneuropa-Debatte” und entwickeln Vorschläge für eine linke EU-Position.
Der WeltBlick beschäftigt sich mit der Lage in Brasilien, ein Jahr nach dem konstitutionellen Putsch, und problematischen Aspekten der Politik von Polens Nationalkonservativen in Fragen wie Geschlechtergerechtigkeit oder Flüchtlinge.
Mit dem „Marshallplan für Afrika” von Entwicklungsminister Müller setzen sich Experten im Forum auseinander.
In der Historie geht es um die Beteiligung deutscher Wissenschaftler an der Entwicklung der sowjetischen Atombombe.
Für das rasche Zustandekommen einer Europäischen Verteidigungsunion, die derzeit sehr widersprüchlich diskutiert wird, setzt sich Rainer Arnold, verteidigungspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, im Kommentar ein.

am

WeltTrends – Das außenpolitische Journal, Heft 130 (August) 2017 (Schwerpunktthema: „Europa á la carte“), Potsdam / Poznan, 4,80 Euro plus Porto. Weitere Informationen im Internet.

Aus anderen Quellen

„IT-Unternehmen“, so Evgeny Morozov, „können schnell neue Regularien umgehen, indem sie ganz einfach neue Techniken entwickeln, auf die sich die passgenaue Rechtslage nicht mehr anwenden lässt […] Auch unter diesem Aspekt sollte die Rekordstrafe der Europäischen Kommission von 2,4 Milliarden Euro für das Google-Mutterunternehmen Alphabet gesehen werden.“ Der Experte diagnostiziert: „Trotzdem sollte man hinter der […] Brüsseler Entscheidung keine schlüssige Strategie vermuten. Sollte die EU-Kommission einen ausgeklügelten, effektiven Plan haben, wie sie die Macht der Datengiganten einschränken will, ist davon leider nichts zu sehen.“ Das verhängte Bußgeld, das Alphabet binnen eines einzigen Quartals wieder hereingeholt hat, lasse vor allem die Dynamik der IT-Entwicklung praktisch unberücksichtigt, denn „es hat zum Ziel, das Google von 2010 zu zügeln, nicht das Alphabet von 2017 oder gar 2020“.
Evgeny Morozov: Google wird allmächtig – die Politik schaut hilflos zu, Süddeutsche Zeitung (online), 15.07.2017. Zum Volltext hier klicken.

*

„Die Frage der Legitimität von Gewalt ist immer ein Kalkül“, meint Ijoma Mangold im Rückblick auf die Vorfälle beim G20-Gipfel in Hamburg und fährt fort: „Je schlimmer die Zustände sind, desto heftiger dürfen die Gegenmittel ausfallen. Bei Stauffenbergs Anschlag auf Hitler sagen wir auch nicht: ‚Gewalt gegen Personen? Das geht gar nicht!‘“ Die Linke, die der Überzeugung ist, dass der Kapitalismus zwar schon irgendwie die Hölle ist, Gewalt aber kein Mittel der politischen Veränderung sein dürfe“, habe sich „nach der Nacht am Hamburger Schulterblatt“ eine „neue Marschrichtung“ verordnet, die da laute: „Die Gewalt, die Hamburg […] erlebt hat, habe nicht nur nichts mit linker Politik zu tun, sondern sei überhaupt völlig leer und sinnlos, die reine Selbstgenuss-Randale von eingeflogenen Gewalttouristen; in Wahrheit handle es sich um Kleinkriminelle ohne jede politische Selbstreflexion.“ Und Mangold fügt an: „Man kann den Wunsch verstehen, mit der Gewalt möglichst wenig zu tun haben zu wollen, aber – so leicht wird man sie nicht los.“
Die Gretchenfrage in diesem Kontext lautet Mangold zufolge: „Ist der Kapitalismus das schlechthin Böse? Oder ist er einfach eine Wirtschaftsform, die sich aufgrund ihrer enormen Leistungskraft, was Erzeugung und Verteilung von Gütern angeht, durchgesetzt hat, die allerdings – wie alle bekannten Wirtschafts- und Herrschaftsformen – krisenanfällig ist und Ungerechtigkeiten hervorbringt, in Summe aber eben auch große Teile der Welt aus der tiefsten Armut herausgeholt hat, die Kindersterblichkeit eindrucksvoll reduziert und in den westlichen Gesellschaften ein allgemeines Wohlstandsniveau herbeigeführt hat, das historisch einzigartig ist – und in dessen Schutz und Schatten nie gekannte Emanzipationsgewinne zu beobachten sind, von der rechtlichen Gleichstellung der Frau bis zur Ehe für alle? Neigt man zur zweiten Ansicht, wird man den Kapitalismus für seine schreiendsten Absurditäten und Unmenschlichkeiten kritisieren, aber nicht mit Gewalt sprengen wollen.“ Der Autor setzt nach: „[…] für das entfremdete Leben wird heute immer gleich der Kapitalismus verantwortlich gemacht – hingegen nie die condition humaine. Es wird die absurde Illusion genährt, dass ein anderes System des Wirtschaftens uns von allen Übeln erlöste. Gewiss wird der Kapitalismus irgendwann abdanken wie jede geschichtliche Herrschafts- und Wirtschaftsform, und es wird interessant sein, zu sehen, was an seine Stelle tritt. Aber eines lässt sich heute schon sagen: vielleicht ein System, das wäre fraglos zu wünschen, das Wohlstand gleichmäßiger verteilt, aber gewiss nie eines, das uns mit Glück und Liebe versorgt.“
Ijoma Mangold: Es ist doch nur ein Twingo, ZEIT ONLINE, 12. Juli 2017. Zum Volltext hier klicken.