20. Jahrgang | Nummer 7 | 27. März 2017

Bemerkungen

Treff mit Marx

Ein Film über den jungen Karl Marx macht derzeit die Runde und von sich reden. Informativ, Einblicke gewährend und nachdenklich stimmend. Meine Begegnung mit Karl lag auf einer anderen Ebene.
In Berlin gab es vormals einen bekannten, vielbesuchten Klub. Dort stand knallrot an der weißen Wand und nicht zu übersehen: „Heiterkeit ist die höchste Stufe des Bewußtseins! Karl Marx.“ Diese Sentenz gefiel mir auf den ersten Blick. Wenn Marx das sagte, so dachte ich, dann wird sich die Heiterkeit endlich etwas mehr verbreiten, was ohne einen philosophisch-psychologisch gesicherten und lebenserfahrenen Zuspruch nur schwerlich gelingt. Doch zuerst musste der kaum bekannte Gedanke publik gemacht werden.
Ich schrieb eifrig über die positiven Auswirkungen eines heiteren Gemüts und unterstrich die Meinung des Philosophen K.M. vehement. Erstaunlicherweise traute man Karl Marx bedenkenlos zu, die Welt verändern zu können, doch überraschte es die meisten, dass er der Heiterkeit so hohen Wert beimaß.
Dann traf eine Anfrage ein: „Das Marx-Zitat gefällt mir! Ich wüsste gern, wo es steht und in welchem Zusammenhang es geäußert wurde.“ – Ich stand vor der Aufgabe, Marx’ sämtliche Werke, Gespräche und Briefwechsel zu sichten. Nun war mir nicht mehr so heiter zumute … Aber es gab ja noch die Wand. Der Schreiber würde sicherlich wissen, wo die kluge Idee zu finden sei.
Ich ging zum Klub. Dort sah ich – dass ich nichts sah; inzwischen war nämlich renoviert worden. Und der neue Klubleiter wusste nichts von Marx-Thesen an der Wand. Im Antwortschreiben an den interessierten Leser bat ich ihn, er möge sich noch bis zum Nachweis der Literaturstelle gedulden und trotz alledem an der Heiterkeit festhalten.
Unterwegs auf der Autobahn hörte ich kurze Zeit später beim Einschalten des Radios die Bruchstücke einer Reportage: „… und Sie malen Karl Marx öfter als heiteren Mann – warum?“ – „Weil ich nicht leiden kann, dass man mit ihm so heroisch umgeht. Ich habe ihm sogar mal ein Zitat untergeschoben und im Klub an die Wand gemalt. Es kann keinen Schaden mehr anrichten und ist längst übertüncht.“…
Einsicht: Es wäre im vorliegenden Falle gescheiter gewesen, ich hätte mich an Marxens bevorzugten Leitsatz gehalten: De omnibus dubitandum. (Aber gedacht haben, könnte er den Sinnspruch von der Heiterkeit doch!)

Renate Hoffmann

Berliner Notizen – Neues von den Regierern

Der Satz wird von links bis rechts gern zitiert: „Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient.“ Stefan Heym gebrauchte ihn. Die Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ ersetzte „verdient“ durch „erträgt“. Im Umfeld des Kopp-Verlages taucht er immer wieder auf. Urheber ist der Publizist und Politiker Joseph Marie Comte de Maistre (1753–1821). Der war ein reaktionärer Kerl und ersehnte als Alternative zum Unheil, das die Französische Revolution und die Aufklärung über die Welt gebracht hätten, eine Art päpstliche Universal-Monarchie. Gelegentlich erwische ich mich bei de Maistreschen Gedankengängen. Zumindest bei etwas genauerer Betrachtung des politischen Personals, das sich in regelmäßigen Abständen dem Volke andient. Lassen wir die Bundesebene, im Herbst werden die Karten neu gemischt, auch wenn die alten Luschen im Spiel bleiben. Das übliche Merkel-Bashing verkneifen wir uns. Und Martin Schulz, der Mann ohne Programm mit der Vizekanzler-Option, wird immer langweiliger. Nehmen wir das Beispiel Berlin.
Das bemerkenswerteste Ereignis der letzten Tage ist ein Plebiszit, das die FDP mit ihrem Frontmann Sebastian Czaja – Bruder des abgewählten CDU-Gesundheitssenators – offenbar erfolgreich auf die Schiene gebracht hat. Die Partei will die Offenhaltung des heruntergekommenen „Hauptstadtflughafens“ Tegel erzwingen. Kein Satiriker hätte sich getraut, so etwas zu erfinden. Czaja jr. treibt den Senat, die brandenburgische Landesregierung und den Bund in dieser Frage vor sich her! Das Vorhaben ist aussichtslos – aber zumindest die mediale Meinungsführerschaft in der Opposition hat die FDP der CDU abgejagt. Die zerlegt sich in einem großflächigen Selbstversuch weiter: Mit offenbar gefälschten Wahlzetteln bei der Kandidatenaufstellung zur Bundestagswahl in ihrer Hochburg Steglitz-Zehlendorf beschäftigt sich inzwischen die Staatsanwaltschaft. Der Sieger nach Punkten in dieser Affäre, Justizsenator a.D. Thomas Heilmann, traut dem Partei-Frieden aber nicht. Er strebt nach Platz vier auf der CDU-Landesliste. Auch bei einer Halbierung der CDU-Stimmen wäre er damit „drin“. „Raus“ ist so auf jeden Fall der ehemalige Frontmann Frank Henkel – Vizeregierungschef unter Klaus Wowereit und Michael Müller. Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan… (Anmerkung für Aktivisten: Das ist ein Schiller-Zitat!).
Auch parlamentarisch wurde die Hauptstadt-CDU ausgebremst. Angesichts der in den letzten Monaten auch in Kindereinrichtungen grassierenden Masern wollte sie eine Impfpflicht gegen die Seuche und wohl auch andere Infektionskrankheiten durchsetzen. Das wurde von den fachkundigen LINKEN-Abgeordneten Katrin Möller und Sebastian Schlüsselburg heftig attackiert. Letzterer hat sich zum Rechtspolitiker erklärt und wittert ein geradezu grundgesetzwidriges Verhalten der potenziellen ärztlichen Zwangspiekser. Der Herr ist Jahrgang 1983 und wuchs in Bad Segeberg auf. Dort gibt es die berühmten Karl-May-Festspiele. Schlüsselburg hätte Karl May zur Kenntnis nehmen sollen. Die Indianer starben stämmeweise an den Masern.
Auch der gesundheitspolitische Sprecher der Fraktion, Wolfgang Albers, beteiligte sich nach längerem Schweigen an der Debatte. In der letzten Sitzung des Abgeordnetenhauses geißelte er die CDU-Opposition: „Sie haben fünf Jahre lang den Gesundheitssenator gestellt. Sie hatten genug Zeit, dieses Anliegen in eigener Verantwortung umzusetzen.“ Damit, der Mann ist Arzt, machte er das, was er immer macht: An misslichen Lagen sind die anderen Schuld. Zwischen 2006 und 2011 stellte übrigens die LINKE die Gesundheitssenatorin. Der wurde kurz vor dem Regierungswechsel im Herbst 2011 vorgeworfen, nicht genug gegen die Masern getan zu haben. Vom seinerzeitigen gesundheitspolitischen Sprecher der SPD, die wiederum seit Jahrzehnten immer gerne den jeweiligen Koalitionspartner für missliche Lagen haftbar macht.
Und die Grünen? Die sind eifrig dabei, aus der Schönhauser Allee einen Fahrradweg zu machen. Ansonsten hat sich die Wirtschaftssenatorin – pardon: Bürgermeisterin – Ramona Pop durchgesetzt. Sie behält ihr Abgeordnetenmandat. Man weiß ja nie um die Halbwertszeit von Koalitionen. Womit wir wieder bei de Maistre sind: „In einer Demokratie ist niemals das Volk der Souverän, sondern das Geld.“ Dieser Satz wird gerne verschwiegen. Übrigens bot der Autovermieter Sixt jedem Pro-Flughafen-Tegel-Unterschreiber zehn Euro Rabatt. Passt.

W.B.

Kurze Notiz zu Sandersdorf-Brehna

Das allgegenwärtige Reformationsjubiläum bereitet den Lenkern in Magdeburg große Kopfschmerzen, denn nun, da der 500. Jahrestag des Thesenanschlags zum ausnahmsweise bundesweiten Feiertag erklärt worden ist, gilt es zu befürchten, dass alle Bundesbürger just an diesem Tag Wittenberg besuchen werden: jene Stadt, in der Martin Luther seine Protestnote an die Kirchentür hämmerte.
Der Ansturm auch der internationalen Touristen dürfte die verträumte Kreisstadt ordentlich überfordern, denn zwischen Lutherhaus und Stadtkirche gibt es nicht allzu viele Gästebetten. Aus diesem Grund versucht die Landesregierung seit geraumer Zeit, die Besucher auf andere Orte aufmerksam zu machen: Nicht umsonst wird das ganze Sachsen-Anhalt als „Wiege der Reformation“ bezeichnet. Und wen zöge es nicht nach Kemberg, wo Luthers Leiche einst aufgebahrt wurde? Wer würde nicht versuchen, wie damals Luther unglaubliche zehn Tage am Stück im unglaublichen Zeitz zu verbringen?
Nicht zufällig macht Magdeburg mehrheitlich auf Orte aufmerksam, deren Größe genug Betten und außerlutherische Sehenswürdigkeiten für einen lohnenden Kurzurlaub bereithält. Und so werden Halle, Dessau, Naumburg, Zerbst und natürlich auch Magdeburg selbst als neue Lutherstädte entdeckt.
Brehna hingegen wurde bislang übersehen. Nun ja, die Kleinstadt ist inzwischen mit zahlreichen Dörfern zu dem namentlich unschicklichen Sandersdorf-Brehna fusioniert. Kommunale Erholungsgebiete entstanden um geflutete Tagebaurestlöcher, das legendäre Bitterfeld ist in direkter Nachbarschaft und die regionale Bekanntheit ergibt sich einzig aus einem ortsansässigen Outlet-Park.
Aber in Brehna ging einst Katharina von Bora zum Kloster, bevor sie die Flucht ergriff und Frau Luther wurde. Und außerdem war Brehna auch noch Residenz einer Grafschaft, aus der später das Haus Wettin hervorging, das bekanntermaßen noch heute über Großbritannien herrscht.
Nun gut, von Katharinas Kloster und dem ganzen Rest zeugt heute nur noch die alte Klosterkirche. Aber dass dort die spätere Frau Luther jahrelang ihre Beichte ablegte, dürfte doch mehr wert sein als das bisschen Leichenschau in Kemberg. Dennoch dürfte – dem Landesmarketing sei Dank – Brehna auf jeden Fall auch im großen Reformationsjahr ein touristischer Geheimtipp bleiben.

Thomas Zimmermann

Sportidole vergangener Zeiten

Sie sprinteten, radelten, schwammen oder stemmten, sie wurden Olympiasieger oder Weltmeister – Sportidole vergangener Zeiten. Manche sind in Erinnerung geblieben, weil sie als Erste eine Phalanx oder Grenze durchbrochen haben. An zwei solcher Sportler aus Ost und West (nicht nur, damit der Proporz stimmt) soll erinnert werden. Beide feierten kürzlich ihren 80. Geburtstag.
Da ist Helmut Recknagel: Der am 20. März 1937 in Steinbach-Hallenberg geborene Thüringer begeisterte sich als Junge zunächst für Fußball und wollte zu den „Roten Teufeln“ nach Kaiserslautern. Erst mit 17 Jahren kam er zum SC Motor Zella-Mehlis und begann mit dem Skispringen. Sechs Jahre später wurde er bei den Olympischen Winterspielen in Squaw Valley 1960 erster Deutscher Olympiasieger (gleichzeitig Weltmeister) in dieser Wintersportdisziplin. 1962 verteidigte er in Zakopane noch einmal seinen Weltmeistertitel.
Bereits 1957 hatte sich Recknagel ins sportliche Geschichtsbuch eingetragen, indem er als erster Nicht-Skandinavier auf dem traditionellen Holmenkollbakken bei Oslo vor knapp 100.000 Zuschauern siegte – mit einer Ausnahmegenehmigung für den damals 19-Jährigen. Bei zahlreichen Skispringen durchbrach der „German Eagle“ die Vormachtstellung der Norweger und Finnen. So gewann er dreimal die prestigeträchtige Vierschanzen-Tournee (1957/58 als erster Deutscher). Lange Zeit galt das als „ewiger“ Tourneerekord. Erst Springer wie Bjorn Wirkola stellten diesen Rekord ein oder überboten ihn später: Jens Weißflog mit vier und Janne Ahonen mit fünf Siegen.
Über ein halbes Jahrzehnt bestimmte Recknagel das Niveau des Skispringens. 1964 nahm er noch einmal an den Olympischen Winterspielen in Innsbruck teil, jedoch mit mäßigem Erfolg. Daraufhin beendete Recknagel seine Karriere und nahm an der Humboldt-Universität ein Studium der Veterinärmedizin auf. Nach der Promotion (1973) war er Fachtierarzt für Lebensmittelhygiene im Kreis Fürstenwalde. Nach der Wende musste der einstige „König der Lüfte“ Erfahrung mit der Arbeitslosigkeit machen und war kurzzeitig in der Versicherungsbranche tätig, ehe er 1996 in Berlin ein Sanitätshaus eröffnete, das er bis 2009 betrieb.

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Der zweite Achtziger ist die Sprintlegende Armin Hary. Der am 22. März 1937 im Steinkohlerevier von Quierschied geborene Saarländer jagte wie Recknagel dem Fußballleder nach, ehe er mit 16 Jahren zur Leichtathletik kam. Zunächst Zehnkämpfer in Saarbrücken, wechselte er 1957 Verein (Bayer 04 Leverkusen) und Disziplin (Sprint). Bereits ein Jahr später errang er bei den Europameisterschaften in Stockholm seine ersten internationalen Titel – über 100 Meter und mit der Staffel.
Bei einem Provinzsportfest in Friedrichshafen lief Hary am 6. September 1958 die 100 Meter in 10,0 Sekunden. Man ließ die Laufbahn nachmessen und stellte einen Zentimeter zu viel Gefälle fest. Am 21. Juni 1960 gelang Hary im Züricher Letzigrund ein regulärer Sprint für die Ewigkeit: die 100 Meter in handgestoppten 10,0 Sekunden – Weltrekord! Wegen eines angeblichen Fehlstarts wurde das Rennen annulliert, doch Hary bestand auf einer Wiederholung und erreichte erneut die Fabelzeit 10,0 … und das innerhalb einer halben Stunde. Zwei Monate später holte er bei den Olympischen Spielen in Rom zwei Goldmedaillen (Einzel und Staffel). Als erster Europäer hatte er den amerikanischen Sprintern das Abonnement auf die Goldmedaille, das sie seit 1932 innehatten, entrissen.
Hary, der „Einzelkämpfer mit dem Dickschädel“, der stets Ärger mit den Funktionären hatte, erklärte acht Monate nach seinem Doppel-Olympiasieg im Gefolge eines Autounfalls seine Karriere für beendet – er war erst 24 Jahre. Ihm wurde überdies unkorrekte Spesenabrechnung vorgeworfen. Beruflich versuchte er sich in verschiedenen Sparten und kam als Immobilienkaufmann sogar mit dem Gesetz in Konflikt. 2004 gründete Hary ein Projekt zur Förderung jugendlicher Sporttalente aus sozial schwacher Umgebung oder anderen Problemfeldern. Für diese Initiative erhielt er 2008 das Bundesverdienstkreuz am Bande.

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Zwei Sportidole, zwei Lebensläufe – was sie eint, sind die Erinnerungen an ihre Erfolge, an einen grandiosen Sieg auf dem legendären Holmenkollbakken und an die magische Grenze von 10,0 Sekunden. Die heute Achtzigjährigen hatten in ihren Disziplinen vor über einem halben Jahrhundert Meilensteine gesetzt. Beide wurden am 11. Mai 2011 in die „Hall of Fame des deutschen Sports“ aufgenommen.

Manfred Orlick

Mit Blues ein Stück Freiheit geholt

In der heutigen Zeit ist Blues fest im Mainstream verankert und man feiert immer nur die gleichen Protagonisten. Joe Bonamassa veröffentlicht ständig neue Alben, die mittlerweile nach nichts klingen, und Eric Clapton lässt sich feiern, wenn er nach Schmuse-Pop eine Bluesplatte veröffentlicht, da sind Gold und Platin eingeplant. Wie nun auch die Rolling Stones, die nach mittelmäßigen Alben im Bluesfundus alter Haudegen wühlten und mit deren Songs so viel Geld verdienen werden wie die Urheber nie gesehen haben.
In Deutschland ist der Blues aus der Öffentlichkeit fast verschwunden. In Thüringen agiert noch Thomas Ruf. Mit seinem Label Ruf Records veröffentlicht er regelmäßig Alben mit neuen Künstlern, die er etwa in Großbritannien, Norwegen oder Frankreich entdeckt. Würde er sich nur auf Deutschland konzentrieren, wäre er längst wieder pleite, so verkauft er gut in den skandinavischen Ländern, den USA und Kanada.
Es gab eine Zeit, in der Jugendliche eines kleinen Landes die Bluesmusik liebten, sich in Liedern und Konzerten ein Stückchen Freiheit holten und für Schallplatten schnell mal ihren Lehrlingslohn auf den Tisch legten. Darüber gibt es ein neues Buch des Musikwissenschaftlers Michael Rauhut, der nach „Rock in der DDR“, „Bye Bye, Lübben City“ und dem von der Thüringer Landeszentrale für politische Bildung herausgegebenen „Kundenbuch. Blues in Thüringen“ die Lesegemeinschaft mit „Ein Klang – zwei Welten“ überrascht. Der Journalist und Autor untersucht darin die Geschichte des Blues im geteilten Deutschland. Klar klang die Musik über die Grenzen hinweg ziemlich ähnlich, aber deren Bedeutung war völlig unterschiedlich. Im Osten hatte der Blues tiefere politische Bedeutung und komplexere alltagskulturelle Dimensionen als im Westen. So erklärt Rauhut ausführlich und spannend, dass im Westen vorwiegend „Jäger und Sammler“ das Bild des Blues prägten, gleichzeitig die Industrie mit dem Bluesrock ein Mainstream-Publikum erreichen wollte. Als Beispiel nennt er ZZ Top, Johnny Winter und Rory Gallagher. Im Osten waren Platten und Informationen eher Mangelware, man hörte die von der Plattenfirma Amiga oder durch dunkle Kanäle besorgten Bluesplatten nicht einfach so weg, sondern kopierte sie und veranstaltete mit Freunden regelrechte „Reinhör-Messen“. Durch das Buch erfährt der Leser Zahlen, die eine genauere Vorstellung von den Ausmaßen der „Nischenkultur“ in der BRD und der DDR vermitteln: Plattenauflagen, Gagen, Zuschauerzahlen … So berichtet der westdeutsche Musiker Bernd Haake, der mit seiner Band 1988 durch die DDR tourte, in einem Interview mit der DKP-Zeitung Unsere Zeit über Smog in Sachsen, die städtebauliche Tristesse und dass die Bluesmusiker der DDR den Westen durch die rosarote Brille sehen: „Als wir ihnen unsere konkrete Situation schildern, fallen sie fast vom Hocker. Und uns bleibt die Spucke weg, als sie von ihrem 250.000-Mark-Equipment erzählen. Sie klagen darüber, dass sie das ein oder andere Instrument in der DDR nur schwer erhalten können. Ich möchte mir einfach nur diese Instrumente mal leisten können.“
Durch Rauhut kommt man den Bluesmusikern auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs näher. Intensiv und sehr gut recherchiert schreibt er unter anderem über Stefan Diestelmann, Jürgen Kerth, Monokel, Zenit (Ost), aber auch über Das Dritte Ohr, Axel Zwingenberger (West), über die kultigen Auftrittsorte (Wandersleben, Schlettheim, Eichsfeld) und über die Operationen der Staatssicherheit, die im Nachhinein verdammt komisch wirken. Mit „Ein Klang – zwei Welten“ lässt Michael Rauhut den Blues im geteilten Deutschland noch einmal aufleben. Das Buch fasziniert und wird älteren Herren und Damen manche Träne der Erinnerung in die Augen zaubern. Nun dürfte alles gesagt, das Kapitel Blues-DDR wohl abgeschlossen sein.

Thomas Behlert

Michael Rauhut: Ein Klang – zwei Welten. Blues im geteilten Deutschland, 1945 bis 1990. Transcript, Bielefeld 2016. 366 Seiten, 29,99 Euro.

GWSW

Philip Hardy Lau hat es geschafft! Er hat die inzwischen flau gewordene Soap „Gutes Wedding, schlechtes Wedding“, die als Umkehrung aller politischen correctness gestartet war, wieder politischer gemacht, ohne in Kabarettismus zu verfallen. Lau ist der Autor der 109. Folge „We are Family“, die noch bis Ende April im Weddinger Prime Time Theater zu sehen ist.
Eingestandenermaßen ist der Wedding nur das Zentrum Berlins. Deren Einwohner mögen auch den Prenzlauer Berg (hier modisch Prenzlberg genannt) oder den Friedrichshain. Nun werden auch die berühmt-berüchtigten Wilmersdorfer Witwen aufs Korn genommen. Der schon eingeführte Musikproduzent Gunther von Staubitz (Daniel Zimmermann) hat nämlich einen aus der Art geschlagenen Bruder Matze (Philipp Lang), der trotz gleichgeschlechtlicher Interessen nach dem Genuss von aphrodisiakischem Kuchen die lebenslustige Sabrina schwängerte. Sie setzen sich auf ihre Art der dominanten Mutter (köstlich: Hausherr Oliver Tautorat) zur Wehr. Matze lebt allerdings in einer festen schwulen Beziehung. Tautorat spielt den Partner, und entgegen der Schwank-Erwartung geben sie den beiden „Schwuchteln“ eine gewisse Normalität, drehen nicht auf, sondern spielen die Normalität in einer Beziehung – glaubhaft ausgespieltes Zeichen dafür, dass sich das Volkstheater der Komödie nicht verschließen sollte. Der Kuss der beiden (Tautorat und Lang mussten sich dafür an ihr Berufs-Ethos erinnern) wurde mit begeistertem Applaus belohnt.
Besonderen Spaß machen diesmal die von Philipp H. Lau inszenierten Filmeinblendungen, die es an Parodien auf Merkel und Trump nicht fehlen lassen. Alexandra Marinescu tut ihr Bestes – und das ist nicht wenig! Versprochenerweise steht in der nächsten Folge Erdogan im Visier.

Frank Burkhard

We are Family (Gutes Wedding, schlechtes Wedding, Folge 109), bis 24. April donnerstags bis montags,
20.15 Uhr, Berlin-Wedding, Müllerstraße 163

Über das Lachen

Jedes Mal, wenn ein Mensch lacht, fügt er seinem Leben ein paar Tage hinzu.
Curzio Malaparte

Am liebsten erinnern sich Frauen an die Männer, mit denen sie lachen konnten.
Anton Tschechow

Du magst den vergessen, mit dem du gelacht, aber nie den, mit dem du geweint hast.
Khalil Gibran

Nimm das Leben heiter!
Aber versuche zunächst, dich nicht totzulachen!
Frank-Burkhard Habel

Das Zwerchfell ist offenkundig der Sitz der Aufklärung, ein nicht beherrschbares, von keiner Herrschaft beeinflussbares Lachzentrum.
Alexander Kluge

Wer seine Freunde zum Lachen bringt, dem gehört das Paradies!
Der Koran

gefunden von bebe

WeltTrends aktuell

Frauen sind Präsidentinnen, Premierministerinnen, Kanzlerinnen und stehen an der Spitze internationaler Organisationen. Dennoch sind sie weltweit noch immer stärker von Armut, (sexueller) Gewalt und Gesundheitsrisiken bedroht als Männer. Vielerorts werden ihnen Rechte vorenthalten. Der Internationale Frauentag am 8. März war WeltTrends Anlass, das nicht nur im weltweiten Rahmen, sondern auch im Hinblick auf Nordostasien, Polen und Russland zu untersuchen.
Bei der Lösung des Syrienkonflikts scheint es erste Fortschritte zu geben. Bulat Sultanov (Deutsch-Kasachische Universität in Almaty) analysiert die Ergebnisse der ersten Gesprächsrunde in Astana. Weitere WeltBlicke beschäftigen sich mit dem „Stabwechsel“ im Auswärtigen Amt und den in Frankreich bevorstehenden Präsidentschaftswahlen.
Im Kommentar schätzt David McAllister, im Januar zum Vorsitzenden des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten des Europäischen Parlaments gewählt, den Brexit als schwerwiegenden Fehler ein und verweist auf die besondere Lage Schottlands, wo sich die Mehrheit für „Bremain“ entschieden hatte.

am

WeltTrends – Das außenpolitische Journal, Heft 125 (März) 2017 (Schwerpunktthema: „Neuordnung des Nahen Ostens“), Potsdam / Poznan, 4,80 Euro plus Porto. Weitere Informationen im Internet.

Aus anderen Quellen

„Manche“, so schreibt Édouard Pflimlin, „sehen in den rasanten Fortschritten auf dem Gebiet der Robotik und der KI (Künstliche Intelligenz – d. Red.) bereits eine ‚dritte Revolution‘ in der Kriegsführung – nach der Erfindung des Schießpulvers und der Entwicklung von Atomwaffen. Ohne Kontrollmechanismen könnte dieser technologische Fortschritt bald zur Entwicklung tödlicher autonomer Waffensysteme (Lethal Autonomous Weapon Systems, LAWS) führen.“ Und der Autor warnt: „Autonome Waffensysteme untergraben gleich mehrere Grundpfeiler des humanitären Völkerrechts, wie es in den Genfer Konventionen von 1949 und deren Zusatzprotokollen kodifiziert ist. Zu diesen Grundpfeilern gehören die Menschenwürde, die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Zivilisten sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Sollten eines Tages tatsächlich Roboter allein über Leben und Tod entscheiden, würde dies die Kriegsführung grundlegend verändern.“
Édouard Pflimlin: Roboterwaffen. Autonom im rechtsfreien Raum, Le Monde diplomatique, 09.03.2017. Zum Volltext hier klicken.

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„Nicht zuletzt die aktuelle Debatte in Deutschland über die Rückführung von afghanischen Geflüchteten“, schreiben Steffen Eckhard und Dionys Zink, „zeigt deutlich, wie prekär die Sicherheitslage in Afghanistan wirklich ist. Zwar werden einige Gebiete, vor allem im Norden Afghanistans, von der Bundesregierung als sicher eingestuft und Geflüchtete aus einigen Bundesländern dorthin zurückgeführt, doch auch in diesen Regionen sind staatliche Strukturen, wie etwa die Polizei, nur minimal und meist in derart desolatem Zustand präsent, dass radikale, staatsfeindliche Gruppierungen wie die Taliban ein leichtes Spiel haben, diese auszuhebeln oder zu umgehen. […] Der ‚Fragile State Index‘, der die Stabilität von staatlichen Strukturen misst, setzt Afghanistan im Jahr 2016 auf den neuntschlechtesten Platz, nur Somalia, Syrien und fünf zentralafrikanische Länder sind noch schlechter aufgestellt. Die Menschenrechtslage präsentiert sich ebenfalls in düsteren Farben.“
Steffen Eckhard / Dionys Zink: Hat sich stets bemüht. Die Sicherheitslage in Afghanistan ist verheerend, auch die EU-Polizei-Trainingsmission konnte daran nichts ändern, IPG. Internationale Politik und Wirtschaft, 15.03.2017. Zum Volltext hier klicken.

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„Das eigene Land zuerst – das ist die polnische Antwort auf die aktuelle EU-Krise“, konstatiert Agnieszka Pufelska und fährt fort: „‚Der Brexit ist ein Faktum‘, sagte neulich die polnische Regierungschefin Beata Szydło mit Blick auf die britische Entscheidung zum EU-Austritt. Die EU müsse sich entwickeln, ‚aber bei voller Bewahrung der autonomen Rechte der Mitglieder‘.
Der politische Strippenzieher im Land weiß auch, wie das zu erreichen ist. Jarosław Kaczyński, Chef der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS), will die Nationalstaaten stärken und die Kompetenzen der EU reduzieren. Konkret will er eine umfassende Vertragsänderung durchsetzen, das Parlament in Straßburg entmachten und vor allem das Einstimmigkeitsprinzip im EU-Rat wieder einführen. Das bedeutet ein Vetorecht für jede Regierung.“
Agnieszka Pufelska: Polen zuerst. Wie sich Kaczyński und seine Regierung die Zukunft der EU vorstellen, Le Monde diplomatique, 09.03.2017. Zum Volltext hier klicken.