20. Jahrgang | Nummer 6 | 13. März 2017

Bemerkungen

Franz Kafka und Deniz Yücel

Die türkische Innenpolitik drängt mit Macht auch nach Deutschland. Der Fall Deniz Yücel, Auftritte beziehungsweise verhinderte Auftritte türkischer Politiker in Deutschland zur Unterstützung der Erdogan-Pläne für eine Präsidialverfassung bringen die deutsche Politik in Verlegenheit. Nicht zuletzt fallen ihr jetzt die Hinhaltepolitik bezüglich eines EU-Beitritts der Türkei sowie das jahrzehntelange Desinteresse an der Integration türkischer Einwanderer und einstmals gesuchter Arbeitskräfte auf die Füße. Die Türkei und der lange Zeit erfolgreiche Erdogan als ihr Vertreter sind nun alleiniger Orientierungspunkt für viele Türken in Deutschland und demokratische Werte Deutschlands erscheinen nicht mehr bedeutsam für sie.
Shermin Langhoff, Intendantin des Berliner Maxim-Gorki-Theaters, verweist darauf, dass seit zwanzig Jahren Menschen in türkischen Gefängnissen sitzen, die von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch gemacht haben, dass ganze Landstriche in den kurdischen Gebieten verwüstet sind, ihre Bewohner ermordet oder geflohen. Davon ist hierzulande wenig die Rede. Es reicht der Hinweis auf „PKK“, um das alles zu relativieren. Und natürlich hat Deutschland Sorge um das „Flüchtlingsabkommen“ mit der Türkei.
Ja, es ist hohe Zeit für Proteste und Aufrufe, für die Demokratie einzustehen, wie Langhoff das fordert. Ob das mittelfristig in der Türkei Wirkung zeigen wird, können nur die Türken selbst entscheiden. In Deutschland allerdings erscheint die Politik vor diesen Anforderungen klein und unentschieden, auch wenn es reichlich Wortblasen gibt, um das zu bemänteln.
Was Deniz Yücel betrifft, kommt mir Franz Kafka in den Sinn. Da ist ein engagierter deutsch-türkischer Journalist in das Räderwerk verschiedener staatlicher Interessen geraten, ein Symbol geworden für die einen wie die anderen. Und droht so zwischen beiden zerrieben zu werden. Man kann nur hoffen, dass seine jetzige Bekanntheit ihn auch in gewisser Weise schützt. (Diesen Schutz genießen die anderen inhaftierten türkischen Journalisten und Oppositionelle nicht, andererseits dienen sie auch nicht als „Faustpfand“.) Umso mehr Grund, den Menschen nicht hinter dem Symbol zu vergessen.

Margit van Ham

Revolutionäre Situation

In einem lesenswerten Beitrag im Magazin der Berliner Zeitung, betitelt „Das Ende der Zarenherrschaft in Russland“, vermerkte Arno Widmann kürzlich: „Ein berühmtes Lenin-Zitat, dessen Herkunft allerdings unbekannt zu sein scheint, lautet: ‚Eine revolutionäre Situation gibt es dann, wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen.‘“
Damit, dass des Zitats „Herkunft […] unbekannt zu sein scheint“, lag Widmann völlig richtig, handelt es sich doch um die verkürzt-verschlagwortete, also – wie man heute wahrscheinlich sagen würde – populistische Wiedergabe von Aussagen Lenins.
Der selbst äußerte sich ausführlicher: „Für den Marxisten unterliegt es keinem Zweifel, daß eine Revolution ohne revolutionäre Situation unmöglich ist, wobei nicht jede revolutionäre Situation zur Revolution führt. Welches sind, allgemein gesprochen, die Merkmale einer revolutionären Situation? Wir gehen sicherlich nicht fehl, wenn wir folgende drei Hauptmerkmale anführen: 1. Für die herrschenden Klassen ist es unmöglich, ihre Herrschaft unverändert aufrechtzuerhalten; die eine oder andere Krise der ‚oberen Schichten‘, eine Krise der Politik der herrschenden Klasse, die einen Riß entstehen läßt, durch den sich die Unzufriedenheit und Empörung der unterdrückten Klassen Bahn bricht. Damit es zur Revolution kommt, genügt es in der Regel nicht, daß die „unteren Schichten“ in der alten Weise ‚nicht leben wollen‘, es ist noch erforderlich, daß die ‚oberen Schichten‘ in der alten Weise ‚nicht leben können‘. 2. Die Not und das Elend der unterdrückten Klassen verschärfen sich über das gewöhnliche Maß hinaus. 3. Infolge der erwähnten Ursachen steigert sich erheblich die Aktivität der Massen, die sich in der ‚friedlichen‘ Epoche ruhig ausplündern lassen, in stürmischen Zeiten dagegen sowohl durch die ganze Krisensituation als auch die ‚oberen Schichten‘ selbst zu selbständigem historischem Handeln gedrängt werden.
Ohne diese objektiven Veränderungen, die unabhängig sind vom Willen nicht nur einzelner Gruppen und Parteien, sondern auch einzelner Klassen, ist eine Revolution – in der Regel – unmöglich. Die Gesamtheit dieser objektiven Veränderungen wird denn auch revolutionäre Situation genannt. Eine solche Situation gab es 1905 in Rußland und in allen Revolutionsepochen im Westen; sie lag aber auch in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Deutschland und in den Jahren 1859–1861 und 1879/1880 in Rußland vor, obgleich es in diesen Fällen zu keiner Revolution kam. Warum? Weil nicht aus jeder revolutionären Situation eine Revolution hervorgeht, sondern nur aus einer solchen Situation, in der zu den oben aufgezählten objektiven Veränderungen noch eine subjektive hinzukommt, nämlich die Fähigkeit der revolutionären Klasse zu revolutionären Massenaktionen, genügend stark, um die alte Regierung zu stürzen (oder zu erschüttern), die niemals, nicht einmal in einer Krisenepoche ‚zu Fall kommt‘, wenn man sie nicht ‚zu Fall bringt‘.“

„Der Zusammenbruch der II. Internationale“, Lenin, Werke, Bd. 21, S. 206 f.

Alfons Markuske

Über das Lachen

Wer zuletzt lacht, lacht allein.
Gerhard Branstner

Lache nie über die Dummheit der anderen. Sie ist deine Chance.
Sir Winston Churchill

Lachen tötet die Furcht, und ohne Furcht kann es keinen Glauben geben. Wer keine Furcht mehr vor dem Teufel hat, braucht keinen Gott mehr.
Umberto Eco

Wer lachen kann, dort wo er hätte heulen können, bekommt wieder Lust am Leben.
Werner Finck

Je weiter ich eindringe, um so komischer finde ich die Bedeutung, die man den uro-genitalen Organen beimißt. Es wäre an der Zeit, darüber zu lachen, nicht über die Organe, sondern über die Leute, die daran die ganze menschliche Moral heften wollen.
Gustave Flaubert, 1880

gefunden von bebe

Film ab

Die schönen Tage in Aranjuez
Sind nun zu Ende. Eure königliche Hoheit
Verlassen es nicht heiterer. Wir sind
Vergebens hier gewesen […]
Friedrich Schiller,
Don Carlos, 1. Aufzug, 1. Auftritt

Meine Lebensliebste ist eine Vielerfahrene und behauptet gern, es gäbe keine Zufälle. Ich bin da zwar skeptisch, konzediere aber ohne Zögern, dass es immer wieder Momente gibt, die sie aufs Wort bestätigen.
An einem jüngsten Mittwochmorgen bei nachfrühstücklicher Lektüre der Tagespresse fragte sie mich unvermittelt: „Was ist eigentlich Neurasthenie?“ Ich konnte ihr nur meine sehr vage, sehr theoretische Ansicht („Nervenschwäche …“) über den Tisch nuscheln. Doch ein höchst praktisches Exempel kam auf uns noch im Laufe des nämlichen Tages, denn wir besuchten eine Vorstellung von Wim Wendersʼ neuestem, auf dem gleichnamigen Stück von Peter Handke beruhenden Streifen „Die Schönen Tage von Aranjuez“. Und schon nach 20 Minuten konnte ich meiner Gefährtin zuraunen: „Neurastheniker – das sind Leute, die so was schreiben oder verfilmen.“
Was natürlich überhaupt nicht heißen soll, dass man an der Welt und ihrem Zustand sowie an seinen Mitmenschen, vornehmlich auch jenen des anderen Geschlechts, nicht bitterlich leiden könnte. Vor allem wenn einem Anker im Zeitgeschehen wie der deterministische (allerdings gescheiterte) Marxismus-Leninismus fehlen und weil ein Glaube an die Besserbarkeit der Welt und des Homo Sapiens rational längst nicht mehr zu begründen ist. Kommt dann noch ein gerütteltʼ Maß Bedeutungshuberei hinzu, gerinnt diese Melange leicht zu Literatur und Adaptierung.
Nur ganz kurz irrlichtert beim Kinogänger die Idee auf, das Ganze könnte als Satire angelegt sein – als nämlich Handke selbst einen für das Geschehen völlig afunktionalen Kurzauftritt als Gärtner hat, jedoch den Beschnitt zu ausladend gewachsenen Grünzeugs nicht etwa mit einer Gartenschere vornimmt, sondern mit einem Bolzenschneider.
Soweit das Schandmaul im Besprecher, das Handkes überwiegend ruhig-introvertierte, kontemplative Gesprächsführung der Protagonisten – eine Handlung im eigentlichen Sinne des Wortes kommt nicht vor – ebenso unterschlägt wie die teils betörend schönen Bilder, die der Regisseur einmal mehr auf die Leinwand zaubert, oder gar die grandiose Filmmusik, inklusive einer fast schon surrealen Piano- und Gesangseinlage von Nick Cave. In persona.
Und auf die Frage hin „Was können Sie mir von Handke empfehlen?“ gibt es fürderhin nur noch eine mögliche Antwort: „Die Schönen Tage von Aranjuez“. Danach hat Handke entweder einen Fan mehr oder der Betreffende erspart sich den ganzen übrigen Dichter. Ein Drittes dazwischen kann getrost ausgeschlossen werden.

Clemens Fischer

„Die Schönen Tage von Aranjuez“, Buch und Regie: Wim Wenders. Derzeit in den Kinos.

Vor zwanzig Jahren. Und heute?

Durch Zufall bekam ich erst jetzt die „Unendliche Wende“ in die Hand, dieses Büchlein aus dem Dingsda-Verlag, das eine Wiedergabe des damals wie heute bemerkenswerten Zwiegesprächs – oder besser Streitgesprächs – vom 23. März 1997 zwischen Gerhard Zwerenz und Herrmann Kant im academixer-Keller in Leipzig ist.
Mit ihm kamen, mal wieder, Erinnerungen hoch an die zurückliegenden Jahrzehnte – an jene Jahre von 1950 bis 1953, meine Zeit an der ABF Halle, an 1965, als „Die Aula“ erschien, sodann an 1968, als Horst Schönemann und seine legendäre Hallesche Truppe die „Aula“ auf die Bühne brachte (Kurt Böwe als Trullesand!), und natürlich kam mit der „Unendlichen Wende“ vor allem auch kam die Erinnerung zurück an jenes Treffen Zwerenz – Kant.
Das war eine Zeit, die bestimmt war von der gnadenlosen Aburteilung all dessen, was bis ʼ89/90 unser Leben geprägt hatte. Und ich kann mich an keinen Schriftsteller der DDR erinnern, der mehr als Kant zur Zielscheibe schärfster Kritik wurde von dorther, wo wir nunmehr angehalten waren, den Hort der Demokratie zu erblicken. Umso mehr war damals die Erwartung recht hoch vor einem Treffen wie eben jenem vom März 1997.
Weder Kant noch Zwerenz hatten sich in der Zeit davor zurückgehalten im Austausch ihrer Meinungen und ihrer Meinungsverschiedenheiten. Doch ihr Dialog zeigte dann, dass Annäherung möglich war.
Und ließ hoffen.
Zwerenz formulierte bei diesem Zusammentreffen: „Wir haben […] in Deutschland eine Kultur, die fortwährend ausschließt […] es wird nicht miteinander gesprochen“, und, als habe Zwerenz seherische Fähigkeiten : „Ich sage jetzt nicht, uns steht ein neuer Nazismus bevor, ich sage nicht, uns steht ein neues 1933 bevor, aber ich argwöhne, daß uns ähnliche Prozesse bevorstehen können […] da sollten wir uns ganz bestimmte Differenzen und Kämpfe (unter Linken – W.F.) einfach nicht mehr leisten […].“
Solche Verhaltenskultur ist den zersplitterten und häufig zerstrittenen Linken in Deutschland dringend anzuempfehlen. Oder genauer – um die Ohren zu hauen?
Und im Weiteren äußerte Kant im academixer-Keller: Was ihn „aufregt, ist die ganz verheuchelt neue Form einer anderen Art von Kaltem Krieg […] Wir erleben eine erbitterte Bemühung, die NATO nach Osten auszuweiten.“ Das sagte er 1997. Was würde er heute sagen müssen?
Man muss mit Zwerenz nicht in allem, was er so äußerte einverstanden sein, aber jenes Streitgespräches bewies damals und beweist auch heute noch – man kann miteinander reden, so man will! Daher ist diese „Unendliche Wende“ sehr wohl und vielleicht mehr noch als seinerzeit des Lesens wert.
Herrmann Kant kann sich nicht mehr äußern. Bis zuletzt war er ein aufmerksamer Beobachter der politischen Tendenzen in Deutschland. Im Juni 2016, zu seinem 90. Geburtstag, war es im vollbesetzten Theater Neustrelitz eine geradezu fröhliche Begegnung Kants mit all denen, für die er „Die Aula“ geschrieben hatte – dieser „Generation ABF“, wie man sie nennen könnte.

Wolfhard Frost

Hermann Kant / Gerhard Zwerenz: Unendliche Wende. Ein Streitgespräch. Dingsda-Verlag Cornelia Jahns, Querfurt 1998, 100 Seiten, 9,95 Euro.

Berliner Notizen – Kurzzeitbürger

Gleich am Anfang ein Dementi: Der Begriff stammt nicht von mir, ich zitiere Burkhard Kieker. Der Mann ist Chef der Berliner Tourismus-Werbeagentur (pardon: „Marketinggesellschaft“) „visitBerlin“. Er meinte auch nicht um Zuzug bemühte Menschen aus anderen Weltgegenden, die dann irgendwann wieder abgeschoben werden – mit „Kurzzeitbürger“ meint er Touristen. Davon gibt es in Berlin eine ganze Menge: 2016 besuchten 12.731.600 offiziell gezählte Touris die Stadt. Die Quartiergeber verbuchten 31.067.800 Übernachtungen. 45,6 Prozent der Berlin-Besucher kamen aus dem Ausland. Berlin liegt damit hinter London und Paris auf Platz 3 im europäischen Städteranking. Unglaublich: vor Rom!
Wobei: Ruinen kann man auch hier besichtigen. Und große Löcher in der Innenstadt, von denen keiner mehr so genau weiß, wer die warum und wann verursacht hat. Wie in Rom eben. Eine Ruine ist auch schuld daran, dass die Anzahl der ausländischen Touristen sich nicht so rasch steigern lässt, wie es Wirtschaft und Tourismus-Werber erhofften: Aus anderen Weltgegenden ist es nicht so einfach, unsere Stadt zu erreichen. Heutzutage nimmt man ja das Flugzeug. Vor nicht allzu langer Zeit wurden wir – ich war mit einer Kollegengruppe in der Metropole am Bosporus – von türkischen Kollegen auf dem Istanbuler Flughafen begrüßt: „Ihr kommt direkt aus Berlin? Mit dem Flugzeug? Geht denn das…“
Aber die Zahlen steigen. Zum Vergleich: Vor zehn Jahren (1996) besuchten nur 3.272.888 Menschen die Stadt – die übernachteten 7.519.751 Mal, 24,6 Prozent kamen aus dem Ausland. Die Gründe sind sicher sehr vielfältig. Auch wenn jeder einzelne Anbieter von A wie Archenhold-Sternwarte über B wie Berghain bis Z wie Zoologischer Garten meint, die Touristen kämen hauptsächlich seinetwegen – das ist Blödsinn. Der Mix macht es.
Eins kommt allerdings hinzu: Wir mögen unsere Gäste und empfangen sie mit offenem Herzen. Auch wenn uns Bier-Bikes und trunkene Schülerhorden aus Britannien gelegentlich nerven. Trunkene Berliner Schülerhorden nerven aber auch in Warschau oder Barcelona… Diese blöden Plakate an Kreuzberger Wohnzimmerfenstern („No Tourists“), also originäre Berliner sind das nicht, die da die Provinz-Sau raushängen lassen. Und wenn die Süddeutsche Zeitung am 6. März 2014 titelte „Berlin is over“, so lässt sich das ganz einfach mit dem Erscheinungsort dieser Postille erklären: München… Das sagt doch alles.
Apropos Wohnzimmerfenster: Die Tourismuswerber monieren fehlende Privatquartiere. Das ist nun wiederum ein wunderbarer Beleg für das Hin-in-Hand-Arbeiten des Berliner Senates. R2G wirkt! Der Senat hatte gerade erst drastische Maßnahmen gegen Ferienwohnungen eingeleitet. Er hegt den Aberglauben, damit könne man das Wohnungsproblem lösen. Kieker schlägt nun vor, Ferienzimmer innerhalb von Privatwohnungen anzubieten. Die fielen nicht unter das „Zweckentfremdungsverbot“. Die Ferienzimmermieter würden dann auch nicht mehr so viel Müll und Krach machen, weil es doch „temporäre Stadtbewohner“ seien.
Dürfte ich einen Berliner Stadt-Orden stiften, so wäre es eine „Kreativitäts-Medaille“ (auf deren Revers wäre ein Berliner Bär, der gerade seine Kette zerreißt). Burkhard Kieker ist mein erster Anwärter. Der Mann hat Ideen und ist sprachlich äußerst schöpferisch.

WB

Kurze Notiz zu Ballenstedt

Gerade weil im Harz eigentlich immer schlechtes Wetter ist (fragen Sie mal Joseph Roth danach), weil es hier oft regnet und windet oder die Hexen mal wieder umgehen, sollte man sich gut überlegen, welcher Ort hier wirklich einen Besuch wert ist. Der Brocken, Quedlinburg, Wernigerode – ja. Ballenstedt hingegen ist nicht selten nicht die erste Wahl.
Die kleine Stadt im Unterharz besitzt ein Schloss, einen dazugehörigen Park, eine Allee und einen kleinen Marktplatz. Offiziell wird die Stadt als Residenzstadt und Erholungsort beworben, aber Erholung (und einen Schnupfen) kann man sich überall im Harz holen. Und Residenzen gibt es auf jedem Berg im Umland: in Harzgerode, in Hoym, in Gernrode und Falkenstein – überall saß irgendwann irgendwer und befahl über irgendwen.
In Ballenstedt gibt es wahrlich nicht viel zu sehen, dafür umso mehr zu empfinden: nämlich die ganz große Geschichte. Hier steht die (inzwischen überbaute) Wiege der Askanier, die einst über Sachsen und Brandenburg geherrscht haben und später (auch namentlich) einen kleinen geografischen Blinddarm als Rudiment ihrer einst riesigen Territorien in das Land Sachsen-Anhalt entließen.
Hier residierte der legendäre Albrecht der Bär, spielte Franz Liszt am Theater und schrieb Wilhelm von Kügelgen seine wunderbaren „Jugenderinnerungen eines alten Mannes“. Aber all das kann man natürlich nicht sehen, das muss man erst wissen und dann empfinden. Und wem dafür der Tiefgang oder die Muse fehlt, der mag sich beim Flanieren um den Schlossteich daran erinnern, dass hier, an diesem für die mitteldeutsche Geschichte so bedeutsamen Ort, auch eine anhaltische Prinzessin geboren wurde, die nicht nur einen Preußenprinzen heiratete, sondern auch jenen Saunabetreiber adoptierte, der den Namen Anhalt nach Hollywood brachte. Sie wissen schon … dieser Frédéric.

Thomas Zimmermann

Vom Einfluss einer Schamanin im Schlaf

Welche Musik ist von einer Musikerin zu erwarten, die in Paris geboren ist, deren Eltern Senegalesen sind und die sich Rom zu ihrem aktuellen Hauptwohnsitz ausgewählt hat …?
Gleich beim ersten Hören fällt die betörende Stimme auf, eine authentisch klingende Stimme wohlgemerkt, nicht eine dieser gekünstelten „Radio-Gute-Laune-Stimmchen“.
„Storyteller“ als Eingangslied bringt es schon im Liedtitel zum Ausdruck: Awa Ly ist eine Geschichtenerzählerin – sie singt Geschichten über Liebe und Freundschaft.
Die Liebe als globales Phänomen findet sich in vielerlei Facetten – mal zu viel Liebe, mal zu wenig; mal leidenschaftlich, mal zerstörerisch …
In ihren Liedern wird sie bei ihren musikalischen Streifzügen von verschiedenen Musikern und höchst unterschiedlichen Instrumenten begleitet. Neben Gitarren, Percussion und Piano sind dies zum Beispiel Senza, Kora oder die chinesische Laute Erhu.
Das Booklet enthält persönliche Kommentare von Awa Ly zu ihren zehn Liedern. Motive und Hintergründe zu den Songs werden so nachvollziehbar gemacht: Welchen Einfluss auf die Musikerin eine Schamanin im Schlaf genommen hat (im Lied „Storyteller“), das sprechende und sorgende Mutterherz an den Sohn, der zur Flucht aus der Armut gewillt ist („Here“) oder ein Übermaß an (einseitiger) Liebe in „Let me love you“.
Die CD „Five an A Feather“ bietet textlichen Entdeckerstoff für sensible Zeitgenossen. Und leicht wie eine Feder wechselt Awa Ly die Musikstile von Jazz, Blues und Soul.

Thomas Rüger

Awa Ly: „Five and A Feather”, Naïve/Indigo Records 2017, circa 15,00 Euro.

Die Müll-Ecke

Die Berliner Zeitung widmete sich dieser Tage dem Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Hinter dessen Zahlen stecken Schicksale und tagtägliche Erfahrungen sozialer Demütigungen von Millionen. Die Autorin Silvia Perdoni erzählt von einem solchen: „Dann begann ihr Spießroutenlauf von Vorstellungsgespräch zu Vorstellungsgespräch.“ Mit Verlaub, verehrte Frau Kollegin, mit dem Google-Routenplaner oder gar sportlichem Geocaching hat das auch sprachlich nichts zu tun. Hier geht es um bösartige Schläge, die aus allen Richtungen auf einen wehrlosen Rücken herabprallen. Selbst mit GPS kann man denen nicht entweichen.
Allerdings muss ich eines zugeben: Ihre Wort-Kreation hat mich zunächst so stutzig gemacht, dass ich erst einmal nachsehen musste, ob nicht doch ein übereifriger Rechtschreib-Reformer… Nein, das hat sich dann doch keiner getraut. Spießrutenlauf bleibt Spießrutenlauf – und ich wünsche allen, die Hilfesuchende einem solchen aussetzen, dass sie baldmöglichst selber erfahren mögen, wie es einem ergeht, wenn man „durch die Gasse“ muss. „Gasselaufen“ hat nichts mit engen Straßen zu tun. Im 18. Jahrhundert war das Wort ein Synonym für den Spießrutenlauf. Die Schläger bildeten eine Gasse, durch die man laufen musste.

G.H.

Blätter aktuell

„Gut“ und „Böse“ scheinen im Fall Syriens klar verteilt: Das verbrecherische Regime führt Krieg gegen das eigene Volk, und eine „gemäßigte“ Opposition stellt sich der Assad-Herrschaft in einem verzweifelten Freiheitskampf entgegen. Doch diese dominante Erzählung des Westens vom Krieg in Syrien greift zu kurz, so der Publizist Michael Lüders. Um die Komplexität des Konflikts zu verstehen, reicht moralische Empörung nicht aus – an deren Stelle muss endlich die politische Analyse treten.
US-Präsident Trump agiert vor den Kulissen, doch das Drehbuch schreibt ein anderer – sein Chefstratege Steve Bannon. Die Journalisten Gwynn Guilford und Nikhil Sonnad rekonstruieren anhand von dessen O-Tönen der letzten Jahre die Vision jenes Amerikas, das dieser nun zu verwirklichen hofft. Gemäß Bannons Philosophie braucht Amerika im Kern drei Dinge, um erfolgreich zu sein: Kapitalismus, Nationalismus und „judäo-christliche Werte“.
Dank Martin Schulz erlebt die SPD derzeit einen Höhenflug. Tatsächlich aber sind die Sozialdemokraten so schwach wie lange nicht mehr, und das europaweit. Das ist nicht nur ein Ergebnis ihres neoliberalen Kurses, so Blätter-Redakteur Steffen Vogel, sondern verweist auch auf eine Spaltung ihrer Anhängerschaft. Dabei stehen sich national gesinnte und global orientierte Milieus gegenüber. Daher muss die Sozialdemokratie wieder eine verbindende, europäische Erzählung entwickeln.
Dazu weitere Beiträge – unter anderem: „Das Geschäft mit der Wohnungsnot, „Der Ausverkauf der Autobahn“ und „Die Rechte auf dem Vormarsch: Von Reichsbürgern bis AfD“.

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Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, März 2017, Einzelpreis: 9,50 Euro, Jahresabonnement: 79,80 Euro (Schüler & Studenten: 62,40 Euro). Weitere Informationen im Internet.

Aus anderen Quellen

„Für Myanmars Demokratisierung ist die Ermordung des prominenten Rechtsanwalts Ko Ni am 29. Januar in Yangon ein Rückschlag“, konstatiert Sven Hansen und fährt fort: „Das Attentat war auch ein Warnschuss für Aung San Suu Kyi. Doch die inzwischen 71-Jährige, die jahrelang dem Militär mutig getrotzt hatte, duckt sich jetzt weg. Das passt leider zu einem Muster, das sie schon die letzten Monate zeigte. Denn kritische Worte zu dem weiter sehr mächtigen Militär hat es aus ihrem Mund nicht mehr gegeben. So schwieg die Friedensnobelpreisträgerin etwa zu der mit Menschenrechtsverletzungen verbundenen Militäroffensive im nördlichen Kachin- und im östlichen Shan-Staat. Mindestens 100.000 Menschen wurden hier im letzten Jahr vertrieben.“
Sven Hansen: Ein Nobelpreis macht noch keine Demokratie. In Myanmar wachsen die Zweifel an Aung San Suu Kyi, die in wichtigen Momenten schweigt, IPG. Internationale Politik und Wirtschaft, 13.02.2017.
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„Als der damals 79-jährige Salman nach dem Tod von König Abdullah im Januar 2015 die Macht (in Saudi-Arabien – die Red.) übernahm“, schreibt Alain Gresh, „machte er schnell deutlich, dass er eine andere Außenpolitik vertritt als sein vorsichtiger Halbbruder. Er wollte zeigen, dass das Königreich bereit war, seine Interessen zu verteidigen – zumal die USA seit dem Nuklearabkommen mit Teheran und ihrer vergleichsweise passiven Haltung im Syrienkrieg nicht mehr als verlässlicher Verbündeter galten.“
Die Intervention im Jemen war eine Folge dieses Paradigmenwechsels, der zugleich aber auch in einer fixen Idee der saudischen Führung wurzelt: „Die saudische Führung sei geradezu besessen von der ‚iranischen Bedrohung‘, lautet die einhellige Einschätzung der in Riad stationierten Diplomaten: ‚Überall soll Teheran die Hand im Spiel haben. Selbst wenn sich die iranische Presse damit brüstet, ihr Land habe schon vier arabische Hauptstädte, nämlich Bagdad, Sanaa, Beirut und Damaskus, unter seiner Kontrolle, nehmen sie es für bare Münze‘, berichtet ein Diplomat. ‚Wenn die Saudis so weitermachen, werden sie noch vergessen, dass der Iran ein Nachbar ist, der sich nicht von heute auf morgen in Luft auflösen wird.‘“
Alain Gresh: Unruhe im Hause Saud, Le Monde diplomatique, 09.02.2017. Zum Volltext hier klicken.

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Nunmehr besitze mit dem Palais Barberini auch „Potsdam ein Kunstmuseum von Weltrang, erbaut und zum Großteil ausgestattet mit der Sammlung von Hasso Plattner“, beginnt Susan Geißler: „Der Mitgründer des Software-Unternehmens SAP hat die Potsdamer von ihrem ewigen Vorstadttrauma erlöst, […] hilflos hinter Berlin herzudackeln.“
Wie jede Medaille hat aber auch diese mindestens zwei Seiten.
Nämlich noch diese: „Wie Stadtgestaltung in Potsdam funktioniert, lässt sich am Palais Barberini gut studieren. Ursprünglich sollte das ehemalige Interhotel (heute Hotel ‚Mercure‘) für Plattners Kunsthalle abgerissen werden. Nach zäher Diskussion, in der ein großer Teil der Bürger den Standpunkt vertrat, hässlich sei nicht gleich überflüssig, wollte Plattner am Jungfernsee am Stadtrand bauen. Es folgte ein großes Bitten und Locken der Politik, die es sich mit dem großen Geld ungern versaut. 2013 bekam der Milliardär schließlich das Palais auf dem Silbertablett präsentiert […].“
Und schließlich diese: Das „konzentrierte Wahrnehmen“ der ausgestellten Gemälde werde „allerdings empfindlich gestört durch die Erklärungen, die neben den Gemälden hängen. Sie gehen zum Teil weit über kunsthistorische Einordnungen hinaus. Besonders eklatant ist der Erklärimpetus in der 20 Bilder umfassenden Vorschau auf die kommende Ausstellung mit DDR-Kunst. Hier wird nahezu jedes Werk als Widerstand gegen Repressalien im Arbeiter- und Bauernstaat gedeutet. Nur für den Fall, dass man sich ein paar eigene Gedanken machen wollte. […] Vor der für Herbst geplanten Ausstellung ‚Hinter der Maske. Künstler in der DDR‘ mit Werken aus Plattners Sammlung darf einem angst und bange werden.“
Susan Geißler: Auf dem Silbertablett. Kunstmarktkunst trifft Totalitarismustheorie: Potsdam und sein Museum Barberini, junge Welt, 25.01.2017. Zum Volltext hier klicken.