18. Jahrgang | Nummer 8 | 13. April 2015

Verantwortungsgemeinschaft mit Moskau und Washington

von Egon Bahr

Erwarten Sie nicht, dass ich mich an den täglichen neuen und durchaus beunruhigenden Meldungen zum Thema Ukraine beteilige. Ich gehe davon aus, dass ein unberechenbarer Gewaltausbruch vermieden werden kann, also Minsk II bis zum Ende des Jahres eine verlässliche Stabilität erreicht. Für die dann folgende Phase halte ich Überlegungen für angebracht zu einer europäischen Verantwortungsgemeinschaft mit Moskau und Washington.

I.

Die Historiker haben es gut. Sie betrachten die Vergangenheit und sind sich selbst dabei nicht immer einig, welche Fehler vermeidbar gewesen wären. Die Politik muss in der Gegenwart entscheiden, ohne zu wissen, was in der nächsten Woche passiert oder zu ahnen, welche Folgen ihr Kurs in einem halben Jahr haben wird. Meine Anmerkungen mit Anregungen reklamieren das Recht auf Irrtum. Diese Einschränkung muss am Anfang stehen.
Das verlässlichste Fundament der Außenpolitik bietet die Geographie. Amerika bleibt ein unentbehrlicher Faktor, Russland ist unverrückbar und Europa mit Deutschland in der Mitte bildet den Kern unserer Interessen. Die vielen Krisen, die sich überlappen, können eskalieren, schwer beherrschbar sogar zur Gefahr für den Frieden werden. Es würde wenig helfen, nach den Ursachen zu forschen oder gar Schuldzuweisungen vorzunehmen.
Ohne Amerika säßen wir heute nicht im Adlon, das bekanntlich im sowjetisch besetzten Sektor lag. Berlin ist die Wiege, in der aus dem Sieger ein Freund wurde. Nachdem Kennedy sich zwei Jahre nach dem Bau der Mauer zum Berliner erklärte, gab es keine Krise mehr für die Stadt. Und als er Brandt während der Kuba-Krise warnte, es könne zu sowjetischen Vergeltungen kommen, antwortete ihm Brandt: Er müsse handeln, wie es seine globale Verantwortung verlange. Dabei blieb es.
Nach seiner Wahl zum Bundeskanzler wurde Washington über das Konzept unserer Ostpolitik informiert, noch vor dem Bundestag und der deutschen Öffentlichkeit. Ohne amerikanische Rückendeckung hätte es die deutsche Entspannungspolitik nicht gegeben. Deutschland und Amerika – das wurde zu einer festen Bank, auch emotional. Wer auch immer dort und hier regierte. Das gegenseitige Vertrauen bewährte sich, als die Deutsche Einheit möglich wurde. Auf dieser Seite des großen Teiches, zu dem der Atlantik geschrumpft ist, ist nichts passiert, was zu den Vorgängen in den Vereinigten Staaten geführt hat. Seit Monaten reißen die alarmierenden Berichte nicht ab, von amtlichen Verfehlungen, Folterungen, außenpolitischen Unberechenbarkeiten. Es ist schrecklich, wie zerstörerisch mit Vertrauen und Neigungen umgegangen wird. Ich leide darunter.
Nach seiner ersten Wahl zum Präsidenten hat Obama erklärt, die amerikanische Außen- und Sicherheitspolitik, die seit dem Ende des Krieges auf Konfrontation zur Sowjetunion angelegt war, auf Zusammenarbeit auszurichten. Alle großen Aufgaben des neuen Jahrhunderts verlangten Kooperation. Damit wurde er zum Hoffnungsträger und mit dem Friedennobelpreis ausgezeichnet. Sein erster Erfolg wurde die Vereinbarung mit Putin, die Zahl der strategischen Atomwaffen um ein Drittel auf je 1.500 zu verringern. Das ist inzwischen fast in Vergessenheit geraten. Immerhin wies der Weg in die Richtung, über die bloße Abschreckung mit dem unausrechenbaren Untergang beider Seiten das Prinzip der Vernunft zu etablieren. Sie vereinbarten deshalb, die vermeintlich relativ kleinen Hindernisse zu regeln, wie die amerikanischen Pläne einer Raketenabwehr in Polen und die 20 Atombomben in Deutschland.
In dieser Situation veröffentlichte Edward Snowden amerikanische Geheimberichte. Das war mehr als peinlich; denn sie stimmten und konnten nicht dementiert werden. Obama fühlte sich gelähmt, sagte seine Reise nach Moskau ab und kündigte begrenzte amerikanische Luftschläge gegen Syrien an. Putin half ihm, gesichtswahrend, zu einem Aufschub der militärischen Aktionen gegen Syrien. Beide trafen sich dann für rund 20 Minuten. Das reichte zu der Vereinbarung, keinen Krieg gegeneinander zu führen. Da waren sie wieder, die beiden Großen, die souverän Weltpolitik machen konnten, ohne Europa oder China fragen zu müssen. Beide Länder brauchen ihr Zusammenwirken im Nahen Osten, im Irak, für den Iran, um die Atomenergie auf garantierte friedliche Nutzung begrenzen zu können, im Kampf gegen den islamischen Terrorismus, auch für die amerikanische Nutzung der russischen Weltraumstation. Dabei wird es mehr um Interessen als um Werte gehen. Der Irrglaube einer Wertegemeinschaft mit Amerika ist schon während des Kalten Krieges zerbrochen.
Die Unterschiede der Werte sind teils zugedeckt worden, teils nicht ins Bewusstsein gerückt. Das nationale Interesse der USA ist von der moralischen Gewissheit durchdrungen, das auserwählte Volk Gottes zu sein. Nationalbewusstsein und Sendungsbewusstsein sind unlöslich verschmolzen. Es wäre sinnlos das zu kritisieren, weil es von europäischen Vorstellungen abweicht. Die amerikanische Position stellt einen moralischen Maßstab dar, der nicht verhandelbar ist.
Das entspricht auch der amerikanischen Haltung, sich nicht durch fremde Ordnungen binden zu lassen. Das hat mit Macht und weniger mit Werten zu tun. Die Globalmacht USA wird sich nur binden, wo ihr Interesse das rät. Sie wird insgesamt ihre Politik der freien Hand verfolgen, um ihren Einfluss zu vergrößern.
Nachdem Georg W. Bush im Jahr 2001 das Amt des Präsidenten übernommen hatte, ließ er im Frühsommer ein gigantisches Rüstungsprogramm vorlegen, das alle Welt davon abhalten sollte, sich überhaupt auf einen Wettlauf einzulassen. Es schloss Laserwaffen im Weltraum ein, die jeden Punkt auf dem Globus treffen sollten und Raketenabwehrsysteme, um unverwundbar zu werden, aber schlagen zu können. Das ist definitiv die Definition der Überlegenheit.
Es kam der 11. September. Die Brutalität des internationalen Terrors demütigte das mächtigste Land der Welt. Das politische Erdbeben veränderte die politische Landschaft. In der Wut nicht zurückschlagen zu können, wurde das Aufrüstungsprogramm praktisch ohne Diskussion in Kraft gesetzt. Seine Wellen liefen um den Globus. Viele Länder rüsteten auf, soweit es ihre Finanzen gestatteten.
Die politischen Auswirkungen waren fundamentaler. Sie reichen bis heute. Von den geleugneten Vorbereitungen eines Krieges gegen den Irak hatte Berlin schon vorher erfahren. Dennoch reagierte der Bundeskanzler unter dem Eindruck des 11.09. unmittelbar mit der Zusicherung der uneingeschränkten Bündnispflicht. Der amerikanische Verteidigungsminister Rumsfeld lehnte freundlich ab: Die USA würden künftig zwischen dem Alten und dem Neuen Europa unterscheiden und bei Aktionen, die es für notwendig erachtete, zwischen Willigen und Unwilligen.
Erstmalig lehnte Deutschland die Beteiligung am Krieg gegen den Irak ab, zusammen mit Frankreich, Russland und anderen, nicht zuletzt mit dem Papst. Die NATO verlor ihren Charakter als Bündnis, das nur im Falle eines Angriffs aktiv wird. Zum ersten Mal war bewiesen, dass Deutschland „Nein“ sagen kann, ohne seine internationalen Verpflichtungen zu verletzen.
Mit Rumsfeld hatte die Distanzierung Amerikas von Europa begonnen. Eine Supermacht lässt sich auch nicht durch eine schwerfällige Organisation wie der UN von der Verfolgung ihrer Interessen abhalten.
Der alte Gegner Sowjetunion wurde Partner gegen den neuen globalen Gegner des Terrorismus. Moskau gab den USA Überflugrechte und Stützpunkte für seinen Krieg gegen Afghanistan. Ein NATO-Russland-Rat wirkte entspannend. Die Sorge vor einem Land wich, das seine Hypermacht einsetzt, ohne Landesgrenzen zu achten, auch präventiv, ohne dass ein Land oder eine Gruppe von Ländern das verhindern kann.
Damals begann die Erkenntnis zu wachsen, dass die Selbstbestimmung Europas, nach dem Ende der Sowjetunion nur noch als Emanzipation von Amerika stattfinden kann.
1997 beschrieb Zbigniew Brezinski unter der Überschrift „Die einzige Weltmacht Amerika“ „Strategie der Vorherrschaft“ und definierte nach einem globalen Überblick Westeuropa als Protektorat seines Landes. Das war korrekt, zumal sich keinerlei Widerspruch erhob.
Unsere Emanzipierung von Amerika wird selbstverständlich und unabweisbar. Unsere Selbstbestimmung steht neben und nicht gegen Amerika. Sie hindert nicht die wirtschaftlichen Verflechtungen, die Pluralität der Demokratie, die kulturelle Verflochtenheit. Kurz: Zwischen keinen anderen Kontinenten gibt es eine vergleichbare Enge der Beziehungen. Die Realität verbietet Antiamerikanismus. Er ist dumm.

II.

Die Deutsche Entspannungspolitik hatte zwei Voraussetzungen:
Die erste: Sie begann in Washington. Ohne die Rückendeckung, die Henry Kissinger mit seinem außenpolitisch begabten, aber menschlich schwierigen Präsidenten Nixon uns verlässlich zusicherte, hätte es die Ostpolitik nicht gegeben. Sie wäre ein Abenteuer gewesen.
Die zweite: Sie konnte nur mit Moskau stattfinden. Wir haben uns sofort auf die Verbesserung der Beziehungen zwischen unseren beiden Staaten konzentriert und ideologische Fragen ausgeklammert. Die Russen haben keine Sekunde versucht, mich zu einem Kommunisten zu machen, und ich wollte sie nicht zu einem Sozialismus sozialdemokratischer Prägung bekehren. Humanitäre Angelegenheiten kamen nicht auf offener Bühne auf den Tisch. Die ganz unvergleichbaren sowjetischen Vorstellungen waren nicht verhandelbar. Aber es gab Ergebnisse. Menschliche Erleichterungen in hoffnungslosen Fällen wurden durch Ausreisen erreicht. Gewissermaßen auf dem Gnadenweg. Darüber hat die deutsche Seite geschwiegen, um Vertrauen wachsen zu lassen. Menschenrechte als Keule sind von jeher nicht überzeugend erfolgreich gewesen, besonders wenn sie zuhause innenpolitisch wirken sollen. Zwei Wochen nachdem Bundespräsident Joachim Gauck seine Teilnahme an den Olympischen Spielen in Russland abgesagt hatte, holte Hans-Dietrich Genscher den prominentesten politischen Häftling Michael Chodorkowski aus dem Gefängnis.
Mit der gleichen Offenheit wie in Washington wurde dargelegt, was wir wollen und was wir nicht können. Die gegenseitige Verständigung funktionierte und hat später eine vertrauliche und enge Zusammenarbeit zwischen Moskau, Washington und Bonn gestattet, die auch die innerdeutschen Verhandlungen begleitete.
Auf der Krim konnten dann schon vor dem Inkrafttreten des Moskauer Vertrages Grundlagen für eine stabile Sicherheit beider Seiten erarbeitet werden. Wer mehr hatte sollte mehr reduzieren. Man verstand sich: Das Vertrauen gestattete, Strukturen eines Vertrages zu formulieren, der zwei gegeneinander gerichtete Bündnisse zur Koexistenz ihrer konventionellen Streitkräfte, kontrollierbar und ohne Nachteile für die Beteiligten, bringen sollte. Die Formel MBFR wurde geläufig und hat zur größten Waffenreduktion der Weltgeschichte geführt, später abgeschlossen von einem Menschen auf sowjetischer Seite, dessen Namen, Gorbatschow, wir noch nicht kannten.
So wuchs zwischen Russland und uns eine strategische Partnerschaft. Sie galt von Brandt über Schmidt, Kohl, Schröder bis Merkel, fünf Kanzler mit unterschiedlicher Statur und sehr verschiedenen Charakteren. Die Zahl der Herren im Kreml war größer. Ich nenne nur die wichtigen: Breschnew, Chruschtschow, Andropow, Jelzin und Putin. Ungleiche Menschen auch, aber mit starkem Führungswillen begabt. Sie haben praktisch 40 Jahre lang strategische Partnerschaft gelebt, mit dem Höhepunkt des Freundschaftsvertrages zwischen Kohl und Jelzin, der nicht gekündigt worden ist. Das Konzept war, auf unserem Kontinent eine Stabilität zu schaffen, die unabhängig von aktuellen Schwierigkeiten Frieden garantiert, unter Einbindung Amerikas. Diese Politik kann nicht so schlecht gewesen sein, was ihre Dauer und ihre Ergebnisse ausweisen. Jedenfalls auch nicht für die großen, die mittleren und die kleineren Staaten.
1991 nach dem Ende der Sowjetunion und des Warschauer Paktes, wollten viele der alten und neuen Staaten Mitglieder der NATO werden. Das versprach Sicherheit vor Russland. Und für den neuen Brocken des vereinigten Deutschlands erfüllte die NATO maßgeschneidert Sicherheit vor Deutschland mit Sicherheit für Deutschland.
Dieses Bündnis ist Amerika im multilateralen Gewand, also ohne die USA nicht kriegserklärungsfähig, auch nicht kriegsführungsfähig. Gleichzeitig behielt Washington die freie Hand, ob, wann und wie es sich an einem Konflikt beteiligt. Das stellte die Frage nach der Rolle Europas schärfer denn je.
Seine Emanzipation von den USA, die Rumsfeld ausgelöst hatte, fand erst 2013 eine Antwort. Die Europawahl gab Parlament und dem Chef der Kommission eine demokratische Kompetenz, mit der sich die Regierungen arrangieren müssen. Bis dahin führten die beiden Institutionen praktisch die Wünsche aus, auf die sich die Regierungen verständigt hatten. Seit dem letzten Jahr entstand die Chance, Europa neu zu denken.
Dafür möchte ich auf ein Wort von Willy Brandt zurückgreifen, das er 1966 formuliert hat. „Kein Volk kann auf die Dauer leben, ohne sein inneres Gleichgewicht zu verlieren, wenn es nicht ‚Ja‘ sagen kann zum Vaterland.“ Charles de Gaulles hat die Formulierung vom Europa der Vaterländer geprägt. Sie findet aktuell statt. Selbst im Zeitalter der supranationalen Organisationen bleibt der Nationalstaat von Bedeutung. Er ist der Raum, in dem sich Menschen zuhause und geborgen fühlen. Selbst der Vertrag, den Adenauer noch unterschrieben hat, konnte trotz vieler guter Einsichten von Jugendwerk über Städtepartnerschaften bis zu Sitzungen der Regierungen nicht das Interesse der Menschen füreinander auf beiden Seiten schaffen, sich für die Innenpolitik des Nachbarn zu interessieren. Das offenbarte sich erschreckend bei den terroristischen und antisemitischen Überfällen in Paris mit den 12 Toten. Da erst fühlten wir uns verletzt und solidarisch.
Der Nationalstaat wird noch lange unentbehrlich sein. Gleichzeitig hat er sich überlebt, weil er die Sicherheit seiner Menschen nicht mehr allein garantieren kann und seine Souveränität zunehmend mit internationalen Organisationen teilen muss. Für die globalen Probleme wie Klima oder Umwelt ist kein Staat mehr groß genug. Nationalstaat und übernationale Bindungen schließen sich nicht aus.
Es wird geraume Zeit vergehen, ehe die europäischen Parteien und Gewerkschaften Beschlüsse fassen können, die für ihre nationalen Organisationen gelten. Noch immer kann niemand ein Datum nennen, wann Europa mit einer Stimme spricht. Optimisten hoffen auf 10 Jahre. Aber darauf wartet die Welt nicht, ihren Interessen zu folgen. Sie muss Europa als Lachnummer empfinden und ist höflich genug, nur hinter verschlossenen Türen den Kopf zu schütteln.
Was ist Europa und woran liegt es, dass es sein Ziel, Pol in der interpolaren Welt zu werden, akademisch wiederholt, aber praktisch nicht verfolgt? Willy Brandt war stolz auf den Erfolg seiner ersten Konferenz, noch im Dezember 1969. Er hatte mit Pompidou vereinbart, grünes Licht für den Betritt Großbritanniens zur EU zu geben. Das Mutterland der Demokratie gehöre zu Europa wie die skandinavischen Länder auch.
England trat bei, aber die britische Politik bremste und sprang dann auf den Zug, um besser bremsen zu können. Sie ging schließlich nach Brüssel um besser kontrollieren zu können. Die britische Diplomatie arbeitet bewundernswert. England übernahm weder den Euro, noch trat es dem Schengener Abkommen bei.
Der Höhepunkt wurde die förmliche Erklärung, dass England in der Außen- und Sicherheitspolitik seinen Interessen folgen und nicht durch Beschlüsse der EU zu binden sei. Es denkt vorrangig nach Washington und nach Brüssel und weniger nach Moskau.
Die Sonderbeziehungen zwischen London und Washington sind dominant geblieben. Die special relationship bietet beiden Ländern Vorteile. Washington kann beruhigt sein: England garantiert ihm, statt mit einem Bund der europäischen Staaten mit vielen Ländern einzeln verhandeln zu können. Dank des Einstimmigkeitsprinzips in wichtigen Fragen der EU kann England dafür sorgen, dass die EU keine Entscheidung trifft, die amerikanischen Interessen widerspricht. Diese Lage ist für beide Länder komfortabel. Sie ist die Ursache, dass die EU praktisch gelähmt ist, ihren Beschlüssen zur globalen Handlungsfähigkeit folgen zu können. Wer diese Lage ändern will, darf Großbritannien nicht vor die Wahl zwischen Europa und den USA stellen. Die bestehenden Verträge müssen unverändert bleiben. Seine atomare Souveränität ist wie die Frankreichs unantastbar. Die Realitäten haben die besonders engen Beziehungen der Zusammenarbeit der Geheimdienste zwischen London und Washington entwickelt. Sie haben einen Grad von Integration erreicht, der europäische Unabhängigkeit praktisch gegenstandslos gemacht hat. Auch die deutschen Dienste sind, was binäre grenzüberschreitende Aktivität angeht, de facto zu einem Teil des amerikanisch-europäischen Netzes geworden. Die deutsche Idee eines no-spy-Vertrages wurde still beerdigt. Das wird wohl so bleiben.
Das alles hängt davon ab, ob England erklärt, seine opting-out-Regeln nicht mehr anzuwenden. Seine konventionellen Mittel würden Stärke und Glaubwürdigkeit für die baltischen und andere Staaten erhöhen, die Sorge vor Russland haben. Amerika behält seine dominante NATO Rolle in Europa.
Wenn England das ablehnt, stünde die EU vor der Lage, entweder seine Beschlüsse aufzugeben, Pol in der interpolaren Welt zu werden oder souverän zu handeln, ohne sich künftig durch britisches opting-out hindern zu lassen. Das wäre schade.
Denn unser Ziel muss bleiben, Europa gemeinsam mit England eine gewichtige Stimme in der Welt zu verleihen. Ich bin sicher, Willy Brandt würde solche Überlegungen als zeitgemäße Fortsetzung seiner Überzeugung sehen: England gehört zu Europa.
Die politische Szenerie hat sich in kurzer Zeit beunruhigend verschlechtert. Aus Partnerschaft mit Russland ist Konfrontation geworden. Wenn beide Seiten fortfahren, militärische Aufmärsche zu organisieren, mit den Waffen zu klirren und das Wort Abschreckung aus den Zeiten des Kalten Krieges wieder belebt wird, dann sind Sorgen erklärbar, ob diese Entwicklung beherrschbar bleibt. Wenn amerikanisches Verhalten den Eindruck erwecken kann, Russland in die Knie zwingen zu wollen, dann teile ich die Meinung von Horst Teltschik, es sei blanker Irrsinn; das hätten schon Napoleon und Hitler versucht. Auf die Gegenwart bezogene Warnungen haben Kissinger und Gorbatschow, Kohl und Schmidt ausgesprochen.
Der Blick in die Medienlandschaft legt es nahe, einige Realitäten in Erinnerung zu rufen.
Zunächst: Russland ist nicht Mitglied der NATO, die Ukraine auch nicht. Wie beide Länder miteinander umgehen, kann uns nicht gleichgültig lassen; auch wenn keine Aktion gemeldet worden ist, durch die das Territorium des Bündnisses auch nur um einen Zentimeter verletzt worden ist. Der Ausgangspunkt westlicher Entrüstung ist die russische Annexion der Krim. Sie stellt auch nach meiner Auffassung eine Verletzung internationaler Verträge dar, die nicht anerkannt werden kann.
Ich habe eine solche Forderung aus Moskau übrigens nicht gehört. Das war 1970 anders. Bonn hat eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR abgelehnt. Brandt hat sie als Staat bezeichnet, der für uns nicht Ausland sein kann. Das bedeutete de facto die Respektierung der DDR als Staat. Diese Respektierung war 20 Jahre lang der völkerrechtliche Rahmen der gesamten Ostpolitik für viele Verträge und internationale Abkommen. Die Respektierung der russischen Krim wäre eine Analogie auch ohne zeitliche Begrenzung.
Die Rivalität zwischen Washington und Moskau in Europa ist das Grundthema seit dem Ende des zweiten Weltkriegs. Es hat viele Variationen gegeben, vom Kalten Krieg und unterschiedlichen Arten von Koexistenz blieb das übergeordnete Interesse bestehen: Kein unberechenbar offener Krieg. Beide brauchen ihr Zusammenwirken für die globalen offenen Probleme.
Obama hat in seiner Rede in Westpoint formuliert, militärische Macht nur einzusetzen, wenn seine lebenswichtigen Interessen unmittelbar bedroht sind. Das ist eine neue Phase der Rivalität. Man könnte das als „friedlichen Krieg“ bezeichnen. Amerika fühlt sich stark genug, aus der zweiten Linie zu führen. Das erhöht die Verantwortung seiner Verbündeten, aber auch den Grad ihrer Lasten und Gefährdungen, die für Amerika geringer werden.
Das ist zunächst beruhigend. Es soll keinen großen Krieg geben. Schon Stalin hat gewarnt, Marschällen politische Macht zu geben, und Eisenhower hat als ehemaliger militärischer Oberbefehlshaber vor dem militärisch-industriellen Komplex auf beiden Seiten gewarnt. Den gibt es immer noch.
Im „friedlichen Krieg“ können sich Obama und Putin mit dem Blick auf China und andere heranwachsende Großmächte, heute noch mehr als vor zwei Jahren, auf ihr Zusammenwirken für große Probleme stützen. Aber Obama und wer immer ihm nachfolgt, kann sich bequem zurücklehnen und beobachten, wie Russland schwächer wird.
Seit Obama Russland zur Regionalmacht abgewertet hat, verstehe ich natürlich die Schwierigkeit, das zu revidieren. Aber ich verstehe eben auch Putin, nun erst recht zu beweisen, was alles nicht gegen ihn und ohne ihn möglich ist. Dabei ist Putin zu intelligent, um nicht zu wissen, dass er der Schwächere ist, was Waffen, Streitkräfte und Energiepreise angeht. Umso mehr muss er darauf bestehen, auf Augenhöhe behandelt zu werden. Das sind im „friedlichen Krieg“ zwei gegeneinander gerichtete Rechnungen, die nicht aufgehen.

III.

Die Menschheit steht an einem historischen Wendepunkt, stellt Henry Kissinger fest und fordert eine neue „Weltordnung“. Ihre Grundsätze leitet er von den Regeln des Westfälischen Friedens ab, der Souveränität der Staaten und der Nicht-Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten. Frieden verlangt danach auch den Respekt vor Staaten, die nach westlicher Auffassung keine Demokratie sind, und den Respekt, dass jeder Staat über seine innere Ordnung entscheidet. Für Saudi-Arabien und China ist das Realität. Das als globales Denken in globalen Fragen zu verallgemeinern, fällt schwer.
Die Mehrheit der Länder und Erdteile lebt mit anderen Kulturen und Werten, und sie erwarten Achtung dafür.
Das gilt auch zu den veränderten Beziehungen zwischen Europa und Amerika. Man könnte es eine berechenbare Unabhängigkeit nennen, die den Kitt der gemeinsamen Interessen nicht verletzt. Washingtons Führungswillen ist ungebrochen, gerade im „friedlichen Krieg“. Wir können Russland nicht aufgeben, weil es Amerika nicht gefällt.
Wir sollten uns darauf konzentrieren, zu Russland verlorenes Vertrauern wieder herzustellen. Diese Phase könnte man als kooperative Existenz bezeichnen. Dieses über bloße Koexistenz hinausgehende Konzept gestattet den gezielten Ausbau unserer Zusammenarbeit. Das gilt auch für das Thema von Energielieferungen. Sie treffen die Interessen beider Seiten und fördern Stabilität in Europa.
Nach Erfüllung der Minsker Abmachungen sollten deutsche Initiativen den Nato-Russland Rat wieder beleben, um permanente Abstimmungen über Sicherheitsfragen zu gestattet. Merkel und Hollande haben sich gegen Mehrheiten in den USA und wohl auch in Russland gewendet, die für schärfere Gangarten in der Art des Kalten Krieges sind. Sie setzen dagegen Putins frühere Idee eines wirtschaftlich gemeinsamen Raumes zwischen Lissabon und Wladiwostok. Wenn Putin nach dem europäischen Modell Russland und die ehemaligen Staaten der Sowjetunion zu einem Organismus formen will, dann eröffnet sich eine Perspektive des stabilen Friedens für einen Raum zwischen den Ozeanen. Praktische Vorbereitungen, wie aus der Idee ein Programm wird, sollten beginnen, sobald die Ukraine-Krise dauerhaft entschärft ist, vielleicht schon parallel dazu.

Zum Schluss:

Rücksichtslosigkeit und Maßlosigkeit, mit der sich der „Islamische Staat“ mit dem Anspruch des Kalifats von der zivilisierten Welt abgekoppelt hat, machen einen Konflikt unausweichlich. Obama hat mit Recht erläutert, dass der Westen nicht gegen den Islam kämpft, aber sich im Krieg gegen den IS befindet. Dieses Problem hat nicht nur Europa bis an seine Ostgrenze, sondern auch Russland über seine Grenzen hinweg. Tschetschenien hat eine islamische Mehrheit seiner Bevölkerung. Alle Staaten der ehemaligen Sowjetunion bis an die chinesische Grenze haben unterschiedlich starke Gruppen von Moslems, die sich zum IS bekennen und Kämpfer des Kalifen werden wollen. Die Zahl derer, die nach Syrien und in den Irak streben, ist mindestens gleich groß, wahrscheinlich größer als die Zahl dieser Aktivisten aus Westeuropa. In diesem unausweichlichen Krieg wird Putin zum potentiellen Verbündeten.
Den 70. Jahrestag des Kriegsendes wird am 9. Mai die Welt in Moskau begehen. Wer die Seele Russlands erreichen will, wird dabei nicht fehlen dürfen. Darum werden Putin und Merkel nach der Vergangenheit am 10. Mai die besondere deutsche und russische Verpflichtung für die Zukunft unterstreichen.

Egon Bahr hielt diese Rede anlässlich seiner Auszeichnung mit dem Dr. Friedrich Joseph HaassPreis 2015 am 26. März dieses Jahres.
Die Laudatio hielt der Botschafter der Schweiz in Deutschland, Tim Guldimann.