17. Jahrgang | Nummer 16 | 4. August 2014

Der Westen & Russland – zum Diskurs*

von Wolfgang Schwarz

„Russland ist derzeit kein Partner“, ließ Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen via Interview mit einem Hamburger Nachrichtenmagazin wissen. Implizit teilte sie also zugleich mit, zuvor sei es einer gewesen. Zu bezweifeln, dass sie tatsächlich meinte, was sie sagte, besteht kein Anlass. Andererseits war der Ministerin vielleicht nicht bewusst, dass seit Ende des Kalten Krieges für Russland dabei allenfalls von einer nachgeordneten Juniorpartnerschaft nach praktisch ausschließlich westlichem Gusto die Rede sein konnte – siehe dazu den historischen Überblick von Ottfried Nassauer im ersten Teil dieses Beitrages – und dass Moskau nun von genau dieser Art Partnerschaft die Nase offenbar voll hat.
Zur Exkulpierung Frau von der Leyens könnte angeführt werden, dass die meisten der relevanten Ereignisse und Vorgänge im Verhältnis zu Russland seit 1990 stattfanden, als ihr strategischer und politischer Horizont noch auf Niedersachsen und später auf die Bundesministerien für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie anschließend für Arbeit fokussiert war.
Aber als kluge Frau hat sie sich vor dem in Rede stehenden Interview natürlich informieren lassen. Dass sie sich dabei hätte besser nicht auf den ihr derzeit zur Verfügung stehenden Apparat verlassen sollen, wäre angesichts ihrer bisherigen Erfahrungen im neuen Amt anzuraten gewesen. Der Rat ist wohl unterblieben. Und so geriet neben dem Partner-Satz auch noch dieses ins Interview: Die Philosophie der NATO sei, „aus der Position der Stärke einen Dialog führen zu können. Die ausgestreckte Hand zu Russland muss aus der Position der Stärke kommen.“ Genau diese Philosophie ist nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems.

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„20 Jahre lang haben sich die NATO und die europäische Sicherheitspolitik von vier fehlerhaften strategischen Annahmen leiten lassen“, schreibt Michael E. Brown, Dekan der Elliott School of International Affairs der George Washington University, in einem Essay für die Mai-Ausgabe von Foreign Affairs. Zwei davon sind für den vorliegenden Beitrag besonders relevant: „Erstens nahmen westliche Führer an, dass Russland eine freundliche Macht geworden sei und dass zwischenstaatliche Bedrohungen der europäischen Sicherheit daher kein Grund zur Besorgnis mehr seien. […] Drittens nahmen westliche Führer an, dass die Expansion der NATO keine Reaktion seitens Russlands provozieren würde. Die NATO-Führer glaubten ihrer eigenen Rhetorik über die gutartige Natur der NATO-Expansion, und sie gingen davon aus, dass Moskau dies ebenso sehen würde. […] Das war Wunschdenken.“
Dem ersten Teil dieser Einschätzung muss insofern widersprochen werden, dass die Sowjetunion unter Gorbatschow, also seit Mitte der 80er Jahre, und nach 1990 Russland unter Jelzin eine dem Westen über Jahre immer freundlicher gesonnene, weil von dort entscheidende Unterstützung bei der Lösung ihrer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen, aber auch sicherheitspolitischen Probleme erwartende Macht geworden war – die Zustimmung Gorbatschows zur NATO-Mitgliedschaft des vereinigten Deutschland und Jelzins zur ersten NATO-Erweiterung inbegriffen.
Nur wartete Moskau halt vergeblich auch auf die sicherheitspolitische Rendite für seine Haltung. Das blieb nicht ohne Auswirkungen auf das Bild in der russischen Bevölkerung, wie Brown selbst konstatiert: 1991 hätten nach Umfragen annähernd 80 Prozent der Russen ein positives Bild von den USA gehabt; bereits 1999 aber hatte fast der gleiche Prozentsatz ein negatives Bild.
Vielleicht war ja mit dem wechselnden außen- und sicherheitspolitischen Personal in der chaotischen Ära Jelzin wirklich keine nachhaltig konstruktive Politik zu machen. Substanziell versucht worden seitens des Westens ist allerdings auch nicht wirklich. Aber dann kam, als die Stimmung im Volke offenbar bereits gekippt war, eine Zäsur – mit der Wahl Putins im Jahr 2000. Mit Putin kam, da sind Beobachter sich einig, ein „Sapadnik“ an die Macht, also einer, der dem Westen aufgeschlossen gegenübersteht. Putin machte rasch deutlich, dass er sein Land wirtschaftlich fest mit Westeuropa verbinden wollte (Stichwort: Modernisierungspartnerschaft). Deutschland bot er an, Drehscheibe für russische Energielieferungen nach Zentral- und Westeuropa zu werden. Und er setzte auch sicherheitspolitische Signale. So bot er dem Westen zwei Wochen nach 9/11 in seiner damaligen viel beachteten Rede vor dem Bundestag eine weitreichende Kooperation an. Diese Offerte wurde von Deutschland wie vom Westen allerdings ebenso ignoriert wie das Angebot in Sachen Gas und Jahre später die Initiative seines zwischenzeitlichen Amtsnachfolgers Medwedjew, der – wiederum in Berlin – den Vorschlag unterbreitete, einen „gemeinsamen euroatlantischen Raum von Vancouver bis Wladiwostok zu gestalten“.
Ein „Sapadnik“ ist Putin heute längst nicht mehr. Nach seinem legendären Auftritt vor der Münchner Sicherheitskonferenz im Jahre 2007, der unüberhörbare Warnsignale aussandte, war das möglicherweise noch nicht so. Spätestens damals hätte aber das von Michael E. Brown konstatierte Wunschdenken des Westens im Hinblick auf den „gutartigen Charakter“ der Expansion der NATO, sollte es dieses Selbstbetrug tatsächlich gegeben haben, enden müssen: Putin hatte erklärt, diese Expansion sei „ein provozierender Faktor, der das Niveau des gegenseitigen Vertrauens senkt“. Doch außer überraschten bis empörten Reaktionen im Westen – nichts.
Die jetzt eingetretene Situation scheint Strategen wie Michael E. Brown nicht unlieb zu sein, da geeignet, die seit langem in einer Sinnkrise steckende NATO als antirussisches Bollwerk zu revitalisieren: „Europa sieht sich noch immer mit zwischenstaatlichen Sicherheitsbedrohungen konfrontiert, in Gestalt russischer Aggression. Die Kernaufgabe der NATO – kollektive Verteidigung – ist immer noch lebenswichtig.“ (Zum letzteren Punkt etwas ausführlicher im nachfolgenden Abschnitt.)
Brown hat seinen Essay „NATO’s Biggest Mistake“ betitelt. Die mit Putin gegebene Chance, mit Russland Schritte in Richtung Sicherheitspartnerschaft zu gehen, nicht genutzt oder auch gar nicht erst begriffen zu haben, könnte mit Fug und Recht als solcher bezeichnet werden.

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„Interessanterweise werden in Ihrem Artikel (gemeint ist mein Beitrag in der Ausgabe 13/2014W.S.) die westlichen Nachbarn Russlands mit keinem Wort erwähnt“, erwiderte ein geschätzter Kollege in einem Leserbrief und fuhr fort:„Und auf die Interessen und Ängste dieser Staaten hat Russland so gut wie keine Rücksicht genommen. Deshalb sind es vor allem diese Staaten, die auf eine Mitgliedschaft in der NATO drängten und drängen. Es sind vor allem diese Staaten, die den Deutschen vorwerfen, russische Interessen zu sehr und ihre Interessen zu wenig zu berücksichtigen.Eine deutsche und europäische Sicherheitspolitik muss aber auch eine konstruktive Antwort auf die Interessen dieser Staaten, die zugleich östliche Nachbarn Deutschlands sind, geben. Auf dieses Problem gehen Sie überhaupt nicht ein. Dass Russland – wie wir gegenwärtig wieder in der Ukraine erleben – nach dem Ende des Kalten Krieges bis zum gegenwärtigen Tag die Interessen und Ängste dieser Staaten nicht ausreichend berücksichtigt hat, sehe ich als die Ursache der gegenwärtigen Krise und als die Ursache der zunehmenden Isolierung Russlands an.“ (Auf die „Isolierung Russlands“ soll hier nicht weiter eingegangen werden. Das hat Wolfgang Kubiczek in der vorangegangenen Ausgabe bereits getan.)
Mit den „westlichen Nachbarn Russlands“ dürften in erster Linie die baltischen Staaten und Polen gemeint sein. Deren sicherheitspolitischen Problemen hatte ich mich jedoch in einem etwas früher erschienenen Beitrag ausführlich gewidmet. Dazu hier nur einige Ergänzungen.
„Polen, Balten und Rumänen sähen es am liebsten, wenn die Nato dauerhaft Soldaten in Osteuropa stationieren würden“, berichtete Nikolas Busse Anfang Juni für die FAZ aus Brüssel. „Lehnt das Bündnis ab“, orakelte Nikolaus Blome im Spiegel, „entsteht eine Zweiklassengesellschaft.“
Gegen den Wunsch der neuen NATO-Staaten, so Busse weiter, gäbe es allerdings neben politischen Einwänden – etwa dass man den Konflikt um die Ukraine „nicht militarisieren solle“ – auch andere: Selbst „die Militärs sind nicht begeistert von der Aussicht, wie im Kalten Krieg wieder Großverbände an den östlichen Außengrenzen des Bündnisses zu binden. Dafür hat die Allianz einfach nicht mehr genug Soldaten.“
Die Bundeswehr zum Beispiel hat nach ihren diversen Umstrukturierungen und Personalreduzierungen in den vergangenen zwei Jahrzehnten heute einen Betreuungsschlüssel von mehr als dreißig zu eins – das heißt, auf jeden Soldaten im Auslandseinsatz kommen mehr als dreißig (inklusive Zivilbeschäftigte), die in Deutschland diesen Einsatz vor- und nachbereiten sowie sicherstellen (Ausbildung, Ausrüstung, Versorgung mit Lebensmitteln, medizinische Betreuung, Ein- und Ausfliegen et cetera). Mit derzeit etwa 260.000 Soldaten und Zivilbeschäftigten, von denen rund 4.700 Anfang Juni in Auslandsmissionen unterwegs waren, hätte die Bundeswehr also nur noch knapp weitere 4.000 Mann, die sie nahe russischen Grenzen dislozieren könnte. Theoretisch, denn die Soldaten auf Auslandsmissionen rotieren in regelmäßigen, nicht sehr langen Abständen …
Wenn Ursula von der Leyens und NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen auf die ihnen vom Spiegel fast wortgleich gestellte Frage, ob die NATO in ihrer jetzigen Aufstellung das Baltikum konventionell verteidigen könne, trotzdem nassforsch antworteten – von der Leyen: „Ja.“, Rasmussen: „Das können wir.“ – so erinnert dies an das bekannte Pfeifen im dunklen Wald.
Die Lage der baltischen Staaten und Polens sicherheitspolitisch auf den Punkt gebracht hat Blättchen-Leserin Franka Haustein. Sie argumentierte im Blättchen-Forum an die Adresse von Karsten Voigt, der einerseits für sicherheitspolitische Kooperation mit Moskau plädiere, „angesichts der Krim-Ukraine-Vorgänge aber auch ein Streben nach Sicherheit vor Russland für erneut angeraten“ halte, dass Sicherheit vor Russland, die nicht auf Kooperation mit Russland beruht und die Möglichkeit militärischer Konflikte nicht ein für alle Mal ausschließt, wegen der voraussichtlichen Folgen derartiger Konflikte für die mittelosteuropäischen ‚Frontstaaten‘ und der ihnen immanenten existenziellen Bedrohung dieser Staaten eine Schimäre ist“. Auch wenn die Führungen dieser Staaten, wäre hinzuzufügen, von dieser Erkenntnis noch Lichtjahre entfernt sind.
So gesehen schließt ein Plädoyer für Sicherheitspartnerschaft mit Russland sehr viel tragfähigere Sicherheitsgarantien für die baltischen Staaten und Polen, als sie deren heutige bloße NATO-Mitgliedschaft bietet, perspektivisch immer mit ein. Auch wenn diese Staaten in einem Beitrag zum Thema einmal nicht expressis verbis erwähnt werden.

* – Der erste Teil dieses Beitrages erschien in Ausgabe 15/2014. Damit wird die Auseinandersetzung des Autors mit aktuellen Herausforderungen, Erscheinungsformen und Defiziten der westlichen Russland-Politik sowie mit der russophoben Berichterstattung deutscher Medien weitergeführt, der bereits Beiträge in den Ausgaben 9/2014, 11/2014 und 13/2014 gewidmet waren.