19. Jahrgang | Nummer 6 | 14. März 2016

Bemerkungen

Medien-Mosaik

Seit dem März-Heft des MOSAIK sehen die Abrafaxe wieder so aus, wie sie vor 40 Jahren erstmals erschienen – mit ordentlichen mittelalterlichen Wämsern. Denn die Römerkluft war zu schäbig, so dass die drei Gnome sie gegen die abgelegten Kleider eines Halbwüchsigen namens Michael eintauschten. Seine Eltern haben mit Michael ein Problem. Er kann keine freie Fläche sehen, ohne sie zu verzieren. Auch der Hokuspokus der ansässigen Mönche kann ihn nicht heilen. Schließlich erbarmen sich die Eltern, Betreiber einer kleinen Mine in Mansfeld, und schicken den missratenen Sohn zu dem Maler Lucas Cranach, der gerade in Mode ist und Schüler annimmt. Die Abrafaxe begleiten Michael auf seinem Weg zu Stätten, von denen einst gesagt werden wird, dass hier die Reformation begann.
Kurz vor dem magischen Jahr 1517 machen sich die Helden des MOSAIK mit der Situation vertraut, in der Martin Luther seine 95 Thesen entwarf. Seinerzeit war er noch ein schmaler Mönch, aber das wird sich im Verlauf der Handlung ändern.
Eben noch im alten Rom, sind die Abrafaxe durch Zauberei ins Spätmittelalter gelangt. Weil ihnen solche Zeitsprünge schon seit vier Jahrzehnten gelingen, haben sie als längster Fortsetzungs-Comic der Welt Eingang ins Guinness-Buch der Rekorde gefunden. Die Schöpfer – Autor der neuen Geschichte ist wieder Jens U. Schubert – recherchieren die jeweilige historische Situation gründlich, verbinden Weiterbildung mit viel Spaß an witzigen Bildern und spannenden Geschichten und gewinnen damit Fans in Ost und West. Diesmal sitzt die Staatliche Geschäftsstelle „Luther 2017“ mit im Boot. Somit werden die Abenteuer der Abrafaxe, in denen auch der Ablass-Mönch Tetzel und der Wittenberger Professor Philipp Melanchthon eine Rolle spielen, einerseits Geschichtskenntisse vermitteln und andererseits für regen Touristenverkehr in den fraglichen Städten der Reformation sorgen.

MOSAIK Nr. 483: „Der den Teufel an die Wand malt“, 3,40 Euro, seit wenigen Tagen am Kiosk.

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Zu den unbestrittenen Meistern des deutschen Stummfilms zählt der vor allem in der Weimarer Republik wirkende Österreicher Fritz Lang. Darum genießt er auch den Vorzug, dass seine Werke nach und nach in restaurierten Fassungen wiederaufgeführt werden. Damals war er mit der Deutschnationalen Thea von Harbou doppelt liiert – sie war seine Frau und, was schlimmer ist, seine Drehbuchautorin. Lang verstand es, mit Hilfe talentierter Kameramänner und genialer Filmausstatter Bilder zu schaffen, die unvergesslich sind. Die Aussagen seiner Filme hingegen sind oft fragwürdig. Herrenmenschen bei den „Nibelungen“, eine dumpfe Arbeiterklasse, die auf eine Erlöserin wartet in „Metropolis“, die beinahe obsiegende Verbrechermoral in „M“, all das ist auf Harbou zurückzuführen.
Um die alten, nur bruchstückhaft erhaltenen Filme wieder aufführbar zu machen, ist viel Arbeit erforderlich: Suche in Archiven in aller Welt, digitale Restaurierung des beschädigten Filmmaterials, Einfärbung der Filmsequenzen, die ursprünglich nicht schwarzweiß waren, und die Einspielung einer Filmmusik, wenn die historischen Kompositionen nicht mehr vorhanden sind. Die Bertelsmann-Stiftung hat nun schon zum wiederholten Mal die Restaurierung eines deutschen Stummfilm-Klassikers durch die Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung unterstützt. Fritz Langs „Der müde Tod“ erschien 1921 und erzählt in einer orientalischen, einer venezianischen und einer chinesischen Episode, wie eine junge Frau des 19. Jahrhunderts mit dem Tod eine Vereinbarung zur Rettung ihres Geliebten eingeht. Die Aussage, die Harbou und Lang treffen, ist jedoch fatal: Versuche nicht, gegen das Schicksal anzukämpfen. Eine höhere Macht weiß besser, was für dich gut ist!
Lang und seine Mitarbeiter gaben dem Film eine bestechende Optik, mit Lil Dagover, Bernhard Goetzke und Walter Janssen agierten eindrucksvolle Schauspieler. Stilistisch schuf der Regisseur jedoch keine Einheit. Die chinesische Episode mit den Komikern Paul Biensfeld und Karl Huszar-Puffy ist wesentlich parodistischer angelegt als die restliche Handlung.
Die nun vorliegende Fassung ist durch neue Archivfunde wesentlich umfangreicher als bislang bekannt. Durch die digitale Bearbeitung sind die Bilder kontrastreicher, klarer geworden, wenn auch nicht alle Spuren der Zeit getilgt wurden. Da die Originalmusik verschollen ist, komponierte Cornelius Schwehr eine neue Begleitung und widerstand der Versuchung zum Experiment. Er lehnte sich an den Stil der Entstehungszeit an, ohne ihn zu kopieren. Bei allen Einschränkungen zählen Langs Filme zum Kanon der deutschen Filmgeschichte, und man kann dem „Müden Tod“ nun mit einigem Genuss bei der Arbeit zusehen. Ein Filmbericht über die Restaurierung des Films und ein Booklet komplettieren die DVD-Edition.

Der müde Tod, Universum Film, DVD, 14,95 Euro.

bebe

„Der Mönch ist zurück“

Und das ist durchaus wörtlich zu nehmen, denn wer in der Alten Nationalgalerie auf der Berliner Museumsinsel in früheren Jahren je vor Caspar Davids Friedrichs „Mönch am Meer“ verweilt hatte, der musste schon dicht an die Leinwand herantreten, um unter mehreren Schichten „vergilbter“ Firniss auf dem insgesamt schmutzig-dunklen Gemälde den Mönch auf dem Strand überhaupt noch auszumachen. Das Bild wies „nach zweihundert Jahren großflächige Schäden auf, die den Gesamteindruck stark verunklärten“, wie es auf der Museums-Website heißt. Das galt nicht minder für CDFs ebenfalls in der Alten Nationalgalerie verwahrte „Abtei im Eichwald“.
Beide Werke gelten, so nochmals die Museums-Website, als „das wohl berühmteste Bilderpaar der deutschen Romantik“, und man könnte meinen, CDF habe nichts weniger als diese Klassifizierung durch die Nachwelt zum Ziel gehabt, denn er schuf beide Gemälde (zwischen 1808 und 1810) als absolute Höhepunkte seiner Könnerschaft und überdies beide in genau demselben Format und auf genau demselben Malgrund, Leinwand von ein und demselben Ballen.
Seit 2013 sind beide Werke aufwändig restauriert worden, und welches Wunder dabei bewirkt wurde, kann der Betrachter nicht zuletzt deshalb staunend bis atemlos nachvollziehen, weil der Zustand vor der Restaurierung wie auch die einzelnen Arbeitsschritte in einer kleinen Sonderschau anlässlich der Wiederausstellung beider Juwelen auf eine auch dem Laien verständlichen Weise dokumentiert sind. Der „Mönch am Meer“ präsentiert sich nun als Sinfonie in Blau – von düster-elementar bis sanguinisch-zart.

tf

„Der Mönch ist zurück“ – die Sonderschau zur Restaurierung läuft noch bis 22. Mai; Museumsinsel Berlin, Alte Nationalgalerie, Dienstag Sonntag 10:00 – 18:00 Uhr, Donnerstag 10:00 20:00 Uhr, Montag geschlossen; Eintritt 10,00 Euro, ermäßigt 5,00 Euro; kein Katalog.

Der Osten ein Klischee?

Neulich erhielt ich von einem Verlag ein Kinderbuch mit der Bitte um eine kurze Rezension. Es war ein sogenanntes Wimmelbuch. Diese großformatigen Pappbücher erfreuen sich großer Beliebtheit bei den Kleinen, vor allem bei Vorschulkindern. Auf den großformatigen Bildern mit den unzähligen kleinen Szenen gibt es stets viel zu entdecken. Und mit den Eltern (oder Großeltern) kann man dabei auf die Suche gehen: „Ich sehe was, was du nicht siehst.“’
Nun drücken meine Enkelkinder zwar längst die Schulbank, aber da sie früher diese Wimmelbücher liebten, war ich der Bitte des Verlages gern nachgekommen. Außerdem handelte es sich nicht um eines der üblichen Wimmelbücher, sondern war eher eine bildliche Entdeckungsreise von der Küste bis zu den Alpen, quasi ein Vorschul-Atlas.
Auf den sechs doppelseitigen Abbildungen wurden die verschiedenen Regionen Deutschlands vorgestellt (auch mit kurzen Texten). Für die neugierigen Kleinen gab es dabei bekannte Sehenswürdigkeiten (wie das Lübecker Holstentor, den Kölner Dom oder die Dresdner Frauenkirche) und andere regionale Details zu entdecken. Dazwischen viele Alltagsszenen – vom Ostseebadestrand über den Kölner Fasching bis zum Münchner Oktoberfest. Außerdem bevölkerten Dutzende von Figuren das Riesenwimmelbuch.
So weit, so gut. Dann entdeckte ich jedoch, dass die ostdeutsche Region im Vergleich zu den anderen Landesteilen mit düsteren Farben dargestellt war, dazu Graffiti an den Wänden, qualmender Trabi oder Hooligans mit Baseballschlägern. Während auf anderen Abbildungen fröhliche Ausflügler unterwegs waren, tummelte man sich am Brandenburger Tor vor dem Food-Truck. Selbst auf dem Weimarer Goethe-Schiller-Denkmal hatte der Illustrator zwei graue „Hungerhaken“ verewigt – aber zwei Seiten weiter, bei der Vorstellung der Region Hessen-Franken, tauchten die Dichterfürsten noch einmal am Bildrand auf. Dieses Mal schauten sie allerdings wesentlich freundlicher drein.
Die klare Botschaft: der Westen bunt und offen – der Osten düster und trostlos. Ein Klischee, das nun schon in einem Bilderbuch für Vier- oder Fünfjährige bedient wurde. Aber zwei Tage nach meiner kritischen Rezension musste ich die Meldungen von Clausnitz und Bautzen lesen. Der Osten doch kein Klischee?

Manfred Orlick

Jeder bete für sich allein …

Zeugt es von Mut oder von Provokation, in Zeiten wie diesen ein Album mit dem Titel „Deutschland“ zu veröffentlichen?
In seiner gut 35-jährigen musikalischen Karriere hat sich Heinz Rudolf Kunze des Öfteren dieses Land vorgenommen. So gab es von ihm noch in den Jahren der beiden deutschen Teilrepubliken den Liedtitel „Deutschland“ mit dem Untertitel „Verlassen von allen guten Geistern“.
Das Cover seiner CD-Neuerscheinung macht stutzig: Es zeigt eine reparaturbedürftige Straße, von Baustellen gesäumt, in einer bürgerlichen Vorstadtsiedlung. Symptomatisch für das Deutschland im Jahre 2016?
Kunze liefert jedenfalls keine einfachen Antworten. Der intellektuelle Welterklärer bietet unterschiedliche Botschaften an und verpackt sie mit seiner Band „Verstärkung“ in rockige Töne, die auch mal in Richtung Blues, Funk oder Pop tendieren.
Am klarsten positioniert er sich im Lied „Jeder bete für sich allein“ – mit einem eindeutigen Plädoyer gegen religiöse Monopole.
Die Single-Auskopplung „Das Paradies ist hier“ ist keine naive Anbetung Kohlscher Wohlstandsoasen. Kunzes Credo: Trotz aller Katastrophenmeldungen gilt es, sich Lebensfreude zu bewahren und „etwas aus dem Leben zu machen“. Eher philosophisch angehaucht ist der Song „Zu früh für den Regen“. Harmonische Gitarrenklänge kontrastieren zu einer existentialistisch anmutenden Ortsbeschreibung – Camus lässt grüßen.
Die Lebenserinnerungen eines alten Zauberers münden dagegen in die finale Erkenntnis: Das Leben ist „ein fauler Trick“.
Am Rande des Kalauers befindet sich das dem Küssen gewidmete Lied „Mund-zu-Mund-Beatmung“. In Zeiten von Pegida & Co. ist Kunze die geistig wie musikalisch belebende und herausfordernde Alternative für Deutschland…
Wie reimt er so schön treffend im Titelsong:
„Jeder gute Deutsche hat sich an Dir gerieben –
denn so einfach ist es nicht, dieses Land zu lieben.“

Heinz Rudolf Kunze: Deutschland, CD 2016, Label: RCA/Sony Music, 17,00 Euro.

Thomas Rüger

Kurze Notiz zu Kemberg

Kemberg ist eine sehr, sehr unbedeutende Stadt, nämlich eine Ackerbürgerstadt, die wenig mehr als ein paar Pestjahre und noch weniger unter Denkmalschutz stehende Bauernhöfe vorzuweisen hat. Zwar wurde dieser kleine Flecken an der Elbe und der Kleinen Donau wie aus dem Kommentarband zum fünften Buch Mose hervorgeht, schon kurz nach der Sintflut besiedelt, doch haben die Ureinwanderer darauf verzichtet, am Sportplatz ein Stonehenge zu errichten oder die Höhlen unterhalb der Dübener Heider zu verzieren. Und in den Friedhöfen aller Ortsteile hat sich bislang auch keine Schnurkeramik gefunden. Deshalb lässt sich nur, wenn die Kemberger die Stirn runzeln, erkennen, dass ihre Stadt tatsächlich seit den Neandertalern durchweg besiedelt wurde.
Kemberg ist beschaulich, gerade weil hier nichts Besonderes ist. Die Stadt repräsentiert den unverfälschten Durchschnitt, das Mittelmaß. Vielleicht wohnen hier sogar „die Leute im Land“, von denen die Politiker im gar nicht so weit entfernten Berlin gern reden. Trotz seiner Nähe zur großen Hauptstadt liegt das kleine Kemberg ganz weit draußen. Das Städtchen, ziemlich mittig im Landkreis Wittenberg gelegen, verschwindet zwischen der namensgebenden Lutherstadt und Wörlitz mit seinem Gartenreich – beides Weltkulturerbe-Stätten. Kemberg hingegen hat nur ein paar Taubenhäuser in Backstein-, Fachwerk- und Klinkerbauweise.
Aber eben auch Bergwitz – zum Glück! Früher ein Drecksloch mit Tagebau, seit sechzig Jahren aber, seit der Flutung des Braunkohlelochs, ein Naherholungsgebiet mit See. Dort lässt es sich gut zelten und campen und schwimmen und essen und angeln. Die Ortschaft hat es zu überregionaler Bekanntheit gebracht. Und wer es erst einmal durch die innerstädtischen Wälder von Kemberg bis zum See geschafft hat, kann hier Ostseeromantik inklusive Stranddisko, Lagertoilette und deutscher Campingkost genießen. Hier kommen sicherlich nicht die größten Gefühle und die derbsten Sonnenbrände auf. Umgekehrt fängt man sich auch nicht die schlimmste Langeweile und auch nicht die hartnäckigste Geschlechtskrankheit ein. Denn auch in Bergwitz ist Kemberg vor allem eins: durchschnittlich hübsch.

Thomas Zimmermann

Film ab

Mit ihrem jüngsten Opus servieren die kongenialen Film-Brüder Ethan und Joel Cohen eine zwar liebevoll-persiflierende Hommage an Hollywood-Studio-Schinken aus den 50er Jahren (vom Sandalenfilm über den Klischeewestern und Liebesschmalz bis zu Steppeinlagen und Synchronschwimmen), doch die künstlerischen Ambitionen jener Produktionen als seicht einzustufen, wäre eine charmante Übertreibung. Was die Coens daraus machen, ist ganz hübsch, recht nett, handwerklich perfekt und – belanglos. Nur in einer Szene, die für Joel Coens Frau Frances McDormand auf deren Bitte hin extra ins Skript hineingeschrieben wurde, blitzt kurz der makaber-schwarze Humor der Coens auf. Und wenn man die für Blood Simple, Miller’s Crossing, Fargo, No Country For Old Men, True Grit oder auch Barton Fink, Hudsucker und The Big Lebowski liebt, dann kann man Hail, Caesar getrost auslassen.
„Hail, Caesar!“, Regie: Ethan und Joel Cohen. Derzeit in den Kinos.

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Enkel Felipe, Erstklässler, möchte hin und wieder ins Kino gehen, und da die berufstätigen Eltern nicht immer wissen, wann sie das nun auch noch auf die Reihe kriegen sollen, springt der lichtspielaffine Großvater gern ein. Und wenn der Enkel, der in der Freizeit gern im Fußballtor steht und bisweilen ein berüchtigter Fünfmeterkiller (oder wo immer sich der Strafstoßpunkt bei den Jüngsten befindet) ist, dann einen Streifen auswählt, der sich ums runde Leder dreht, suche ich natürlich nach keiner faulen Ausrede, nur weil mir Fußball herzlich egal ist.
Vor diesem Hintergrund geriet ich in „Die Legende lebt“, bereits Teil 6 der „Die wilden Kerle“-Reihe. Zum Verständnis muss man die fünf Vorgänger nicht gesehen haben. Und da der Film ein paar ewige Wahrheiten, die jede nachwachsende Generation möglichst früh begreifen und verinnerlichen muss („Freunde sind wichtig“, „Versprechen werden gehalten“, „Mannschaft macht stark“, „Mädchen sind auch nicht ausschließlich doof“ und weitere mehr), hier speziell für Knaben aufbereitet, höchst unterhaltsam, nahezu gewaltfrei und partiell nicht unkomisch in Szene setzt, kann ein Kino-Besuch auch anderen Großeltern mit ihren Enkeln ohne Einschränkung empfohlen werden.
„Die wilden Kerle – Die Legende lebt“, Regie: Joachim Masannek. Derzeit in den Kinos.

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Als das Spotlight genannte Investigativteam von The Boston Globe Anfang 2002 den jahrzehntelangen systematischen sexuellen Missbrauch von Kindern und dessen Vertuschung durch Angehörige des katholischen Klerus in der Erzdiözese Boston öffentlich machte, löste dies einen Aufklärungstsunami aus, der um die Welt ging. Dessen Vorgeschichte zeigt der ebenso sachliche wie spannende Journalistenthriller „Spotlight“ – unter Verzicht auf Pathos und übliche Hollywood-Klischees. Und wenn unmittelbar vor dem Anspann sämtliche Großstädte und Staaten weltweit eingeblendet werden, in denen nach der Initialzündung durch The Boston Globe vergleichbares katholisch-priesterliches Unwesen aufgedeckt wurde, darunter Deutschland (bis zu 700 Opfer allein bei den Regensburger Domspatzen), dann verschlägt es einem endgültig die Sprache.
Allein in Boston wurden fast 80 Priester-Täter aktenkundig, die sich an nahezu 1.000 Opfern vergangen hatten. Die katholische Obrigkeit bis zum amtierenden Erzbischof, Kardinal Bernard Francis Law (makabre Ironie: Law = Gesetz, Recht), hatte seit Anfang der 1960er Jahre Bescheid gewusst und alle Register gezogen, um den Skandal durch Bagatellisierung, Beschwichtigung, Druck auf die Opfer sowie außergerichtliche Vergleiche immer wieder zu deckeln. Derweil wurden die Täter im Ornat jeweils nur von einer Gemeinde in die nächste versetzt, wo sie ihr Treiben häufig wieder aufnahmen. Als das System dann aufflog, wurde der örtliche Oberhirte nicht aus dem Verkehr gezogen oder auch nur in den Ruhestand, sondern nach Rom versetzt, an die Papstbasilika Santa Maria Maggiore, eine der wichtigsten Kirchen des Katholizismus, und entging so der bereits vorliegenden staatsanwaltlichen Vorladung. Die Versetzung erfolgte mit Billigung, wenn nicht auf direkte Veranlassung seines damaligen Dienstherrn: Papst Johannes Paul II., heiliggesprochen von seinem Nachfolger im Jahre 2014.
Diese vatikanischen Verstrickungen und Weiterungen bleiben in „Spotlight“ zwar ausgeklammert, dass macht diesen Ausnahmefilm aber nicht weniger sehenswert, und der Gewinn des diesjährigen Oscars als Bester Film des Jahres geht völlig in Ordnung.
„Spotlight“, Regie: Tom McCarthy. Derzeit in den Kinos.

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„Wer niemals etwas Neues wagt, kann nicht scheitern“, versuchen die besorgten Haseneltern Hopps ihrer Tochter Judy das eigene selbstgenügsame Dasein als Obst- und Gemüsefarmer auf dem Lande (Hauptprodukt: Möhrchen!) im doppelten Sinne schmackhaft zu machen. Doch gottseidank vergebens: Judy will die Welt zu einem besseren Ort machen – ausgerechnet als erster Hasen-Cop in der Megametropole Zoomania, wo das Police Department vom Kaffernbüffel bis zu Nashörnern nur aus schwergewichtigen Machos besteht. Doch immerhin – in Zoomania haben Raub- und Beutetiere ein stressfreies Miteinander gefunden. Also im Prinzip, wenn da nicht … Halt, von Filmhandlungen wird in Blättchen-Besprechungen ja grundsätzlich nur wenig bis nichts preisgegeben. Also nur noch so viel: Auch vor den Erfolg von Cop-Azubine Judy haben die Götter außer Schweiß noch Pleiten, Pech und Pannen sowie reichlich andere Stolpersteine gesetzt. Ohne treuen Freund, und sei es ein Fuchs von der normalerweise anderen Seite der Nahrungskette, ist da kein Durchkommen. Ein tierischer und (ohne jede pädagogische Attitüde) lehrsamer Kinospaß der Extraklasse für die ganze Familie. Die uramerikanische Lehre, dass man sich im Kampf für das Gute notfalls auch mit der Mafia verbündet, muss man ja im eigenen Leben nicht unbedingt beherzigen. Für die Zoomania-Macher allerdings Gelegenheit zu einem Highlight für Cineasten – einer höchst gelungenen parodistischen Verbeugung vor Coppolas „Der Pate I“ und dessen Darsteller Marlon Brando.
„Zoomania“, Regie: Byron Howard und Rich Moore. Derzeit in den Kinos.

Clemens Fischer

Aus anderen Quellen

Von der Rede des russischen Ministerpräsidenten Dmitri Medwedew auf der Münchner Sicherheitskonferenz wurde dem hiesigen Publikum von den Leitmedien vor allem übermittelt, dass er seinen Auftritt genutzt habe, „um seine Sicht auf die Welt herauszuschreien“ (Focus), dass er „einen aggressiven Ton“ angeschlagen (Die Zeit) sowie „ein düsteres Bild […] der Beziehungen zwischen EU und Russland“ gezeichnet habe (Süddeutsche Zeitung) und dass es ihm letztlich „um die Wiederherstellung der Konstellation des Kalten Krieges“ ginge (FAZ). Gar: „Wir sind in einem neuen Kalten Krieg.“ So zitierte die Tagesschau auf ihrer Website.
Letzteres Zitat passt zwar nahtlos in das Vorgehen meinungsführender Medien, den Konflikt mit Russland zielgerichtet weiter anzuheizen, aber es musste dafür verfälscht werden. Denn wörtlich gesagt – und nicht abschließend konstatiert – hatte Medwedew: „Wir rollen rasend schnell auf eine Phase des neuen Kalten Krieges zu.“ Überdies hat er nichts „hinausgeschrien“, sondern russische Auffassungen ausdrücklich zur Diskussion gestellt: „Ich biete Ihnen fünf Thesen für die Sicherheit […] an […].“ Er befasste sich dabei tiefgehend mit dem Phänomen des internationalen Terrorismus und stellte unter Punkt 4 („Regionale Konflikte und Terrorismus hängen eng mit der beispiellosen unkontrollierten Migration zusammen“) unter anderem fest: „Gescheiterte Versuche westliche Demokratiemodelle in sozialen Umfeldern zu verbreiten, die nicht dafür geeignet sind, haben zum Untergang ganzer Staaten geführt und haben riesige Gebiete in Zonen der Feindseligkeit verwandelt.“

Vollständige Rede des russischen Premierministers Medwedew auf Münchner Sicherheitskonferenz, RT deutsch, 17.02.2016. Zum Volltext hier klicken.

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Am 28. Februar hielt Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo in der Reihe „Dresdner Reden“, die in Kooperation mit der Sächsischen Zeitung seit mehr als zwei Jahrzehnten am dortigen Staatsschauspiel stattfindet, einen sehr ausführlichen Vortrag zum Thema „Alles Lüge? Warum Deutschlands Medien so stark – und manchmal doch so angreifbar sind“. Sein Diktum: „Die deutschen Medien gehören zu den besten, unabhängigsten Medien der Welt.“ Und Die Zeit gehört natürlich dazu: „Gerade im Gegensatz zur anonymen Parallelwelt des Internets verstehen wir bei der ZEIT unseren Auftrag […] darin, unsere Leserinnen und Leser nicht zu indoktrinieren, sondern ihnen das Material an die Hand zu geben, dass sie benötigen, um sich ihre eigene Meinung bilden zu können.“
Di Lorenzo ging dabei durchaus ins journalistische Detail: „Viele Menschen heute kennen den Unterschied zwischen verschiedenen journalistischen Formaten nicht mehr. So zum Beispiel, dass eine Nachricht Informationen zusammenfasst, ein Kommentar aber ein Meinungsstück ist, das ruhig polarisieren und nicht Allwissenheit demonstrieren soll! Diese Formate gilt es auseinanderzuhalten […].“
Es könnte allerdings nicht schaden, wenn der Chefredakteur damit im eigenen Hause begänne, denn so lange Zeit-Lesern zur Krise im Verhältnis zu Russland Beiträge mit dem überschriftlich ausgewiesenen Tenor „Ist er [Putin – die Redaktion] so perfide … oder sind wir so dumm?“ angeboten werden, ist „nicht […] indoktrinieren“ allenfalls ein nobler Vorsatz.
Giovanni di Lorenzo: Dresdner Rede. Unser Ruf steht auf dem Spiel, Die Zeit (online), 29.02.2016. Zum Volltext hier klicken.
Bernd Ulrich: Ist er so perfide … oder sind wir so dumm?,
Die Zeit (online), 11.02.2016. Zum Volltext hier klicken.

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„Der Gewaltausbruch von Köln“, schreibt der Autor und Filmemacher Samuel Schirmbeck, „war […] derart heftig, dass sich die ‚giftige Mischung aus Kultur und Religion‘ […] nicht länger leugnen oder verdrängen lässt, auch wenn das von linker und muslimischer Seite […] jetzt wieder versucht wird.“ Die „Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor“, so Schirmbeck weiter, „befand: ‚Beim Oktoberfest in München und beim Kölner Karneval kommt es gehäuft vor, dass stark alkoholisierte Männer Frauen sexuell bedrängen und belästigen. Das wird dann gern als Kollateralschaden dieser Veranstaltungen abgetan. Es gibt keinen Unterschied zwischen der einen sexuellen Gewalt und der anderen.‘ Wirklich nicht? Der Unterschied liegt darin, dass die sexuelle Gewalt in Nordafrika und im Nahen Osten zum Alltag gehört und dass in dieser Hinsicht dort permanent ‚Oktoberfest‘ und ‚Karneval‘ ist, denen sich keine Frau entziehen kann, indem sie diese Veranstaltungen meidet.“
Samuel Schirmbeck: Muslimisches Frauenbild. Sie hassen uns, FAZ.NET, 11.01.2016. Zum Volltext hier klicken.

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Im Zentrum der EU-weiten Proteste gegen das von Brüssel verhandelte Freihandelsabkommen mit den USA (TTIP) steht die sogenannte Schiedsgerichtsbarkeit, mit der – nach bisheriger Praxis – Großkonzerne von Staaten erfolgreich Schadenersatz für entgangene Profite einklagen können. Zum derzeitigen Verhandlungsstand in dieser Frage äußern sich Maude Barlow und Raoul Marc Jennar: „In einigen Ländern (der EU – die Redaktion) hat das Parlament die – rechtlich allerdings folgenlose – Forderung verabschiedet, die Schiedsgerichte ganz aus den TTIP-Verhandlungen herauszunehmen. Deshalb hat die EU-Kommission aus Angst, dass manche nationalen Parlamente eben deswegen die TTIP-Vereinbarung nicht ratifizieren könnten, im September 2015 ein neues Modell von Investitionsgerichtsbarkeit vorgeschlagen. Das revidierte Konzept sieht ein Gericht erster Instanz und ein Berufungsgericht vor, deren Beschlüsse nicht von Schiedsgerichten, sondern von besonders qualifizierten und spezialisierten Richterinnen und Richtern gefällt werden, ähnlich wie beim Internationalen Gerichtshof (IGH). Investoren sollen nur unter genau festgelegten Bedingungen die Möglichkeit haben, einen Streitfall vor das Gericht zu bringen. Auch bliebe das Regelungsrecht der Staaten erhalten. An dem prinzipiellen Machtgefälle würde sich damit jedoch nichts ändern: Klage können nur die Investoren erheben und nicht die staatlichen Institutionen.“
Maude Barlow / Raoul Marc Jennar: Parteiische Schiedsrichter, Le Monde diplomatique, 11.02.2016. Zum Volltext hier klicken.