Sicherheit und Frieden – durch Abschreckung?

von Sarcasticus

Spätestens seit dem russischen Überfall auf die Ukraine wird auch von deutschen Verantwortungsträgern wieder das Hohelied der militärischen Abschreckung Russlands gesungen. Jüngst stimmte auch Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) in den Chor ein. Auf die Frage, ob er für die ab 2026 ausschließlich in Deutschland vorgesehene Stationierung US-amerikanischer Mittelstreckenraketen mit Reichweiten bis tief nach Russland (Blättchen 1/2025) sei, antwortete er: „Wir müssen mit Abschreckung arbeiten, ja. Wenn Russland in Kaliningrad Waffen [nuklear bestückbare Iskander-Raketen – S.] stationiert, müssen wir darauf reagieren.“ Dem ist nicht zu widersprechen. Doch die Art der von Kretschmar befürworteten Reaktion verlangt nach Widerspruch.

Der Leitgedanke militärischer Abschreckung besteht darin, einen aggressiven Feind durch Demonstration der eigenen mindestens gleichwertigen, besser überlegenen militärischen Stärke von einem Überfall abzuhalten, indem ihm eine Niederlage angedroht wird. Idealtypisch verzichtet der potenzielle Aggressor daraufhin auf den Angriff. Sobald Kernwaffen ins Spiel kommen, verlieren aufgrund der schieren Vernichtungskraft atomarer Sprengmittel Begriffe wie Sieg oder Niederlage zwar ihre herkömmliche Bedeutung, doch das Grundschema bleibt: Einem nuklearen Angreifer wird für den Angriffsfall ein unakzeptabler Schaden durch atomare Vergeltung, gegebenenfalls durch einen sogenannten Zweitschlag, angedroht. Wiederum: Idealtypisch verzichtet … siehe oben!

Soweit die Theorie. Sie verleitet kurzschlüssige Strategen wie Roderich Kiesewetter (MdB-CDU) zu der Behauptung: „Abschreckung ist eine Sicherheitsgarantie [Hervorhebung – S.], die vor Angriffen von Aggressoren schützt.“ In der Praxis allerdings hat das Konstrukt grundlegende Macken: Damit Abschreckung in der skizzierten Weise funktionieren könnte, brauchte es in jeder Situation rational denkende und handelnde Gegner, die überdies in der Lage sind, das militärische Kräfteverhältnis – sowohl die eigene Stärke als auch die des potenziellen Gegners – richtig einzuschätzen. Wohin es führen kann, wenn auch nur Letzteres nicht gegeben ist, hat der russische Überfall auf die Ukraine gezeigt: Gleich zu Beginn wurde mit dem Scheitern des Vormarschs auf Kiew das Ausmaß der Moskauer Fehlkalkulation offensichtlich. Seither findet ein langwieriger Verschleiß- und Zermürbungskrieg mit immensen menschlichen und materiellen Verlusten statt.

Selbst im Koordinatensystem ihrer Befürworter ist Abschreckung darüber hinaus allein dazu geeignet, einer vorsätzlichen Kriegsauslösung entgegenzuwirken. Gegen andere Möglichkeiten, durch die es zum Krieg kommen könnte – etwa Eskalation einer internationalen Krise (Kuba 1962), Fehlalarm in einem Frühwarnsystem (Sowjetunion, 26.09.1983), militärische Zwischenfälle (Abschuss eines russischen Kampfjets durch die Türkei, 24.11.2015) und anderes mehr – bietet Abschreckung keinerlei Handhabe. Die Hauptkritikpunkte an Theorie und Praxis militärischer Abschreckung jedoch sind grundsätzlicher:

  • Es handelt sich um eine sicherheitspolitische Doktrin, die Krieg nicht mit Sicherheit ausschließt, nicht ausschließen kann, weil ihre condicio sine qua non darin besteht, die Mittel der Kriegführung zum entscheidenden Instrument der Kriegsverhütung zu erklären und auf eine Weise zu handhaben, die zu quasi immerwährenden Rüstungswettläufen führt.
  • Und: Wenn Abschreckung unter Atommächten im Allgemeinen und zwischen der NATO und Russland im Speziellen versagt, dann findet Krieg direkt zwischen diesen Akteuren statt. Gegebenenfalls also über das gesamte Spektrum land-, see- und luftgestützter atomarer Trägermittel und wahrscheinlich mit final katastrophalen Folgen für die Menschheit (Stichwort: nuklearer Winter).

Genau die letztere nicht auszuschließende letale Pointe nuklearer Abschreckung hatte der US-amerikanische Publizist Leon Wieseltier offenbar vor Augen, als er Anfang der 1980er Jahre formulierte: „Die Abschreckung ist wahrscheinlich das einzige politische Konzept, das total versagt, wenn es nur zu 99,9 Prozent erfolgreich ist.“

Heute sollte man auch beachten, dass Russland wegen der zugespitzten Konfrontation mit dem kollektiven Westen und seiner eigenen konventionellen Unterlegenheit gegenüber der NATO (Blättchen 15/2022) gerade erst seine Nukleardoktrin verändert hat, die für den Kriegsfall nun auf einen frühzeitigen Ersteinsatz von Atomwaffen durch Moskau hinauslaufen könnte (Blättchen 21/2024 und 22/2024).

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Exkurs: Zu den Mythen von Abschreckungsbefürwortern gehört der Hinweis darauf, dass Abschreckung während des Kalten Krieges doch wohl funktioniert habe. Fakt ist: Ein evidenzbasierter Beweis für die Wirksamkeit der Abschreckungsdoktrin zwischen 1945 und 1990 ist bisher nicht erbracht worden. Zwar fand keine direkte militärische Konfrontation zwischen den USA und der NATO auf der einen, der Sowjetunion und der Warschauer Vertragsorganisation auf der anderen Seite statt, doch den entscheidenden Grund dafür beweiskräftig der Wirksamkeit der gegenseitigen militärischen Abschreckung zuzuschreiben, setzte den Nachweis voraus, dass bei den jeweiligen politischen Führungen definitive Angriffsabsichten bestanden hätten und wegen zu befürchtender militärischer, vor allem nuklearer Vergeltung nicht realisiert worden wären. Dieser Beweis fehlte, was Michael McGwire, einen britischen Abschreckungskritiker bei der Brookings Institution, bereits in den 80er Jahren zu dem Schluss kommen ließ: „[…] wir sollten völlig klar sehen, dass der Erfolg der letzten 40 Jahre darin besteht, den Frieden trotz [Hervorhebung – S.] der negativen Folgen einer auf Abschreckung beruhenden Politik erreicht zu haben, und dass der Hort des Friedens nicht in dieser Richtung liegt.“ Ein entsprechender Beweis wurde auch nach dem Ende des Kalten Krieges und der Öffnung östlicher Archive nicht erbracht.

Während also die Behauptung, Abschreckung habe zwischen Ost und West bis 1990 friedenssichernd gewirkt, bestenfalls eine unbewiesene Glaubensfrage bleibt, können Kontexte des Versagens der Abschreckung eindeutig benannt werden: Im Korea-Krieg etwa (1950 bis 1953) wären allein die USA zu atomaren Angriffen (gegen sowjetisches und chinesisches Territorium) in der Lage gewesen. Moskau und Peking ließen sich davon jedoch nicht von massiver militärischer und sonstiger Hilfe für Nordkorea abhalten, ebenso wenig wie von öffentlichen Forderungen des US-Oberbefehlshabers in Korea, MacArthur, den Konflikt durch Kernwaffeneinsatz zu entscheiden.

Zur Kuba-Krise 1962 kam es, weil sich Moskau von US-amerikanischen nuklearen Jupiter-Mittelstreckenraketen in der Türkei und in Italien sowie von Thor-Raketen in Großbritannien nicht abschrecken ließ, sondern sich geradezu veranlasst sah, mit der Verbringung vergleichbarer Atomwaffensysteme nach Kuba zu reagieren. (Gelöst wurde die Krise durch den Wiederabzug sowohl der sowjetischen wie der US-Systeme.) Dieter Senghaas, ein früher Pionier der westdeutschen Abschreckungskritik, war daher in seinem Buch „Abschreckung und Frieden. Studien zur Kritik organisierter Friedlosigkeit“ (1969) zu der grundsätzlichen Feststellung gelangt: „Frieden wird es nur jenseits von Abschreckung geben.“

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Was militärische Abschreckung, zumal mit nuklearer Komponente, im besten Fall zu liefern vermag, ist ein etwa gleichhohes Maß an beiderseitiger Unsicherheit zwischen militärischen Antipoden, das im Falle eines Systemversagens allerdings zur gegenseitigen Vernichtung führen kann. Abschreckung zur Grundlage der eigenen Sicherheitspolitik zu machen, stellt insofern eine intellektuelle Fehlleistung dar. Vor diesem Hintergrund gleicht die zitierte Zustimmung Michael Kretschmers, russischen Iskander-Raketen in Kaliningrad ab 2026 US-amerikanische Langstreckenwaffen in Deutschland gegenüberzustellen, der Beipflichtung zu einem Versuch, einen Schwelbrand mit Benzin zu löschen.

Wer sich mit diesen Gegebenheiten unwohl fühlt, der müsste wohl oder übel über eine Entfeindung des Verhältnisses zwischen dem Westen und Russland durch einen Wechsel von Konfrontation zu Kooperation, durch vertragliche vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen sowie Rüstungsbegrenzung und Abrüstung nachdenken und über eine künftige Sicherheitsarchitektur für den Großraum von Wladiwostok bis Vancouver unter gleichberechtigter Beteiligung Russlands, durch die die gegenseitige militärische und insbesondere nukleare Abschreckung schrittweise ad acta gelegt werden könnte …

 

PS – Dieter Senghaas meinte auch: „Abschreckung wird politisch erst glaubhaft, wenn die betroffenen Gesellschaften in quasi einsatzbereite militärische Kollektive umgebildet werden und die Toleranzschwelle für Schäden und Opfer relativ hoch angesetzt wird.“ Damit sind die derzeit zahlreichen Bestrebungen von Politik, Staatsapparat, Medien, Rüstungsindustrie und anderen Wirtschaftsbereichen sowie diversen gesellschaftlichen Organisationen, Gremien und Vereinen nach einer möglichst durchgängigen Militarisierung Deutschlands zumindest folgerichtig. Man sei, so Boris Pistorius im Dezember 2024, „auf einem guten Weg“; im zurückliegenden Jahr seien allein für die Bundeswehr 97 Großvorhaben im Wert von 58 Milliarden Euro in Gang gesetzt worden. Und da auch Russland sich seinem Verteidigungsminister Andrei Beloussow zufolge „auf einen potenziellen Militärkonflikt mit der NATO in den nächsten zehn Jahren vorbereitet“, bietet der neue Kalte Krieg erkennbar zunehmende Voraussetzungen dafür, nicht auf Dauer kalt zu bleiben …