28. Jahrgang | Nummer 1 | 13. Januar 2025

Die US-Raketenstationierung und das Schweigen im Walde

von Sarcasticus

Der betreffenden lapidaren deutsch-amerikanischen Erklärung vom 10. Juli 2024 zufolge werden ab 2026 landgestützte US-Langstreckenwaffen in Deutschland stationiert. Erwähnt sind drei Typen sogenannter „Long Range Fires“ (LRF): die Standardrakete SM-6 (Reichweite: 500 Kilometer), der Marschflugkörper Tomahawk (Reichweite: bis 2500 Kilometer) und die ballistische Hyperschallrakete (HLRW) Dark Eagle (Reichweite: 3000 Kilometer).

Unter dem Titel „Gefahr für das strategische Gleichgewicht“ hat sich der Sicherheitsexperte Wolfgang Richter* in einem ausführlichen Beitrag in der Berliner Zeitung vom 31.12.2024/01.01.2025 mit dieser Problematik befasst. Er leitet aus offiziellen US-Angaben ab, dass die entsprechenden Systeme „jeweils über Doppel- oder Quadrupelstartkanister verfügen“ würden und „in einer Serie ohne Nachladungen 40 bis 60 Raketen“ zu verschießen in der Lage wären. Insbesondere könnten die HLRW überdies „von Deutschland aus Moskau in zehn Minuten erreichen und in 15 Minuten den Ural“, was eine „Fähigkeit zum Überraschungsangriff gegen strategische Ziele in der Tiefe Russlands“ bedeute.

Die Aufstellung von US-LRF soll im Übrigen ausschließlich in Deutschland erfolgen. Richter: „Kein anderer europäischer Staat will derzeit US-Mittelstreckenraketen stationieren.“

Politiker hierzulande, soweit sie sich überhaupt zu diesem Stationierungsvorhaben äußern, betonen gern, dass es sich nicht um atomare, sondern nur um konventionelle Systeme handeln werde – Roderich Kiesewetter (CDU): „Es sind ja keine nuklearen Langstreckenwaffen, sondern es sind konventionelle Waffen, die hochpräzise sind.“ Mal abgesehen davon, dass mindestens die Trägersysteme der Typen Tomahawk und Dark Eagle sowohl konventionell als auch atomar bestückt werden können und dass für Russland im Angriffsfalle nicht erkennbar wäre, welche Variante eingesetzt würde, weshalb eine militärische Antwort sich mit hoher Wahrscheinlichkeit am Worst Case orientierte, gibt Kiesewetter zumindest einen essenziellen Hinweis. Dazu Richter: „Angesichts ihrer hohen Eindringfähigkeit, Präzision und Durchschlagskraft ist eine atomare Bewaffnung auch gar nicht nötig, um strategische Ziele zu zerstören.“

Zugleich würden speziell die geplanten HLRW-Systeme für Russland die Vorwarnzeit in einem solchen Maße verkürzen, dass Moskau, so Richter, sollte „es in einer Krise zu dem Schluss kommen, dass ein militärischer Konflikt unabwendbar ist, […] es nach militärischer Logik solche Systeme in ihren Stationierungsräumen [in Deutschland – S.] präventiv zerstören“ müsste.

Dies umso mehr, als eine Interpretation der beschlossenen US-Stationierung als flankierendes Element einer US-amerikanischen Erstschlagsfähigkeit, die Sieg im Atomkrieg ermöglichen soll (siehe dazu ausführlicher Blättchen, Sonderausgabe vom 08.01.2018), auf der Hand liegt: „Die regionale Vorwärtsdislozierung“, erläutert Richter, „präziser, eindringfähiger und durchschlagkräftiger Langstreckenwaffen […] könnte einen potenziellen ‚Erstschlag‘ verstärken. Dann blieben nur noch wenige ‚Zweitschlagwaffen‘ übrig, die von der Raketenabwehr mit höherer Wahrscheinlichkeit abgefangen werden könnten.“

Hinzu kommt, dass neue US-LRF in Deutschland Moskau in eine militärisch insgesamt noch weit unkomfortablere Situation bringen würden, als sie derzeit bereits besteht. Denn „die in Europa stationierten See- und Luftstreitkräfte der NATO“, wie Richter zutreffend vermerkt, sind „mit 2200 Kampfflugzeugen und mehr als 3000 weitreichenden Marschflugkörpern den russischen (etwa 1200 Kampfflugzeuge) weit überlegen, sowohl qualitativ als auch quantitativ.“ (Zum militärischen Kräfteverhältnis zwischen der NATO und Russland siehe ausführlicher Blättchen 15/2022.)

Mit anderen Worten: Da jegliches Vertrauen zwischen dem Westen und Russland (auf unabsehbare Zeit) irreparabel zerstört ist und rote Telefone für die Kommunikation im Ernstfall nicht mehr existieren, müsste Moskau Deutschland im Falle des Falles „vorwegnehmend“ angreifen und würde sich dabei wohl kaum auf den vorgesehenen Stationierungsort der US-LRF in Wiesbaden beschränken. Wahrscheinlicher ist vielmehr, dass die US-Basis in Ramstein (die weltweit wichtigste außerhalb der USA), das US-Kernwaffendepot in Büchel und alle weiteren europaweit relevanten Militäreinrichtungen auf deutschem Boden gleich mit erledigt würden.

Nach dem derzeitigen militärtechnischen Entwicklungsstand Russlands wäre das ohne Zuhilfenahme atomarer Gefechtsköpfe allerdings nicht zu bewerkstelligen. Doch auch an dieser Frage wird in Moskau mit Hochdruck gearbeitet – Stichwort Oreschnik, „offenbar“, so nimmt Richter an, „eine reichweitenverkürzte Variante der Interkontinentalrakete RS-26“.

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Exkurs: Am 21. November 2024 führte Russland mit einem ballistischen, im Westen bis dato unbekannten Mittelstreckenraketentyp mit der Bezeichnung Oreschnik („Haselstrauch“) einen demonstrativen Schlag gegen den ukrainischen Rüstungskomplex „Juschmasch“. Russische Medien zufolge soll es sich um einen Gruppenstart mit sechs Flugkörpern gehandelt haben: „Die […] Sprengköpfe mit Submunition trafen in erster Linie die alte Raketenwerkstatt von Juschmasch, die Werkstätten Nr. 2 und Nr. 58 […].“ Sie „durchschlugen […] mit absoluter Präzision verschiedene Objekte und zerstörten (oder beschädigten) unter Berücksichtigung der Fluggeschwindigkeit der Sprengkörper einige Objekte sowohl innerhalb der Werkstätten als auch unter der Erde gelegene Bereiche.“ Aufgrund ihrer außerordentlich hohen kinetischen Energie seien die Submunitionskörper „in der Lage, mehrere Dutzend Meter Boden zu durchdringen und die unterirdische Infrastruktur von Juschmasch zu treffen“, wodurch „der Hauptschaden an der Anlage im Inneren und nicht außerhalb entstanden“ sei.

In den Folgetagen äußerte sich der russische Präsident Wladimir Putin mehrfach öffentlich zu diesem Angriff sowie zu Oreschnik und erklärte unter anderem: Es sei ein Probeeinsatz unter Gefechtsbedingungen gewesen. Und: „Militärischen und technischen Experten zufolge wird im Falle eines massiven Gruppeneinsatzes dieser Raketen, das heißt mehrerer Raketen auf einmal, in einem Bündel, in einem Schlag, ihre Kraft mit dem Einsatz von Atomwaffen vergleichbar sein. Obwohl Oreschnik keine Massenvernichtungswaffe ist.“ Putin des Weiteren: „Eine ausreichende Anzahl dieser modernen Waffensysteme macht den Einsatz von Atomwaffen praktisch überflüssig.“ Das System verfüge über zehn Gefechtsköpfe, „die das Ziel mit Mach 10 [Geschwindigkeit: über 12.000 Stundenkilometer – S.] angreifen“. Westliche Raketenabwehrsysteme seien machtlos. Die Reichweite der Oreschnik liege bei bis zu 5000 Kilometern. Zugleich verkündete Putin, dass er die Aufnahme der Serienproduktion veranlasst habe.

Russische Medien verbreiteten darüber hinaus: „Anstelle von Sprengköpfen für den Probeeinsatz kann ein Gefechtskopf für sechs [atomare – S.] Sprengköpfe mit einer Kapazität von jeweils 150 Kilotonnen für einen echten Schlag eingesetzt werden […]. Die Explosionsparameter eines 150-Kilotonnen-Sprengkopfes sind so bemessen, dass das NATO-Hauptquartier in Brüssel und der gesamte umliegende Komplex im Umkreis von einigen Kilometern fast augenblicklich zerstört würden. Ein gezielter Treffer mit zwei oder vier einzeln gelenkten Sprengköpfen würde die gesamte Bunkerinfrastruktur der Einrichtung einschließlich der Kommunikationszentren, der Lebenserhaltungssysteme und dergleichen vollständig außer Gefecht setzen. Jede der NATO-Einrichtungen in Europa könnte denselben Schaden erleiden: Aegis Ashore (Redzikowo, Polen), NATO Joint Forces Command (Brunssum, Niederlande), NATO Southern Headquarters (Neapel, Italien), NATO Multinational Corps Northeast (Szczecin, Polen), Mildenhall Air Base (Mildenhall, Vereinigtes Königreich). Die Anflugzeit zu den verschiedenen Standorten in Europa würde zwischen fünf (Kiew) und 17 Minuten (London) betragen.“ Die Anflugzeit „vom Raketenstützpunkt Kapustin Jar im Gebiet Astrachan“ bis Ramstein betrage 15 Minuten.

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Nach dem sogenannten NATO-Doppelbeschluss von 1979, der die Stationierung erstschlagsfähiger nuklearer US-Raketensysteme vom Typ Pershing II in der alten BRD vorsah – die Dislozierung erfolgte mit Zustimmung einer Mehrheit des Bundestages ab 1983 – und damit das bereits bestehende atomare Vernichtungsrisiko für beide deutsche Staaten im Kriegsfall potenzierte, regte sich auch in Westdeutschland massenhafter Widerstand. Hunderttausende gingen aus Protest auf die Straße, im Bonner Hofgarten versammelten sich bis zu einer halben Million Menschen …

Und heute?

Ist das Schweigen im Walde deutlicher vernehmbar.

Dazu nochmals Wolfgang Richter: „Angesichts […] der Tragweite der Entscheidung [zur LRF-Stationierung – S.] für die Sicherheit Deutschlands und Europas erstaunt es, dass eine breite Diskussion in Deutschland bisher ausbleibt.“

Das ist allerdings sehr verhalten formuliert. Statt Erstaunen wäre blankes Entsetzen angebrachter. Zumal von Unmut der Deutschen gegenüber einer unverantwortlichen Aufrüstung im eigenen Land praktisch nichts zu spüren ist.

 

* – Wolfgang Richter ist Oberst a.D. der Bundeswehr und Sicherheitsexperte – bis Ende 2022 bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), aktuell beim Austrian Institute for European and Security Policy (AIES).