26. Jahrgang | Nummer 23 | 6. November 2023

Bemerkungen

Alarmglocken

 

Bereits im September 2023 hatte die taz ein Interview mit dem Politologen Philipp Rhein – er arbeitet an der LMU München und an der Uni Tübingen – veröffentlicht, in dem dieser über die Ergebnisse seiner Befragungen von Wählerinnen und Wählern der AfD berichtet. Zu Rheins Verblüffung spielten Abstiegsängste und Furcht vor Deklassierung weniger eine Rolle, als er selbst erwartet hatte. Statt dessen führten seine Gespräche zur Zeichnung eines erschreckenden Psychogramms: „Auf narzistisch hohle Weise begreifen sie sich als Teil einer Elite, die als vermeintlich auserwählte Gruppe den Untergang der Gesellschaft durchschaut. Das lesen sie vor allem daran ab, dass sie glauben, beständig Opfer von Ausgrenzungen und Anfeindungen zu werden, nur weil sie nonkonformistisch unterwegs seien. Gerade dieses Erleben aber ist es, das sie als eine Art Vorherbestimmung dafür deuten, nach dem erwarteten Untergang als auserwählte Elite das Ruder an sich reißen zu können. Streng genommen passt deshalb der Begriff des Populismus nicht mehr. Denn meine InterviewpartnerInnen verstehen sich nicht als ‘schweigende Mehrheit’, sondern als Elite inmitten einer Endzeit.“

Das deckt sich mit dem Weltbild der Anhänger der „Konservativen Revolution“ der 1920er Jahre – so absichtsvoll-diffus dieser Begriff vom Möchtegern-SS-Krieger Armin Mohler auch gesetzt wurde. Von Jünger- und Niekisch-Fans werden diese Figuren noch immer gerne durch die Weichzeichner-Linse betrachtet. Diese Leute stellten wenige Jahre später wirklich eine „Elite“, die des Dritten Reiches. Ernst Niekisch und etwas später auch Ernst Jünger waren da allerdings kalt gestellt worden. Die Mohren hatten ihre Schuldigkeit getan.

Gäbe es so etwas wie gesellschaftliche Alarmglocken – in Deutschland würden die derzeit ununterbrochen läuten. So viel „Elite“, wie am 8. Oktober in zwei (West-) Bundesländern erfahrbar war und im nächsten September in drei (Ost-) Bundesländern zu befürchten ist, macht Angst.

GH

Brandstifter Medwedew

 

Wenn er denn nur ein x-beliebiger Lohnschreiber wäre. Wenn er denn nur ein drittklassiger Truppengeneral wäre, der frustriert eine Niederlage nach der anderen kassiert. Wenn er denn meinetwegen eine durchgeknallte subalterne Charge des Außenministeriums wäre … Das ist er alles nicht. Er ist Vizevorsitzender des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, Chef der Präsidentenpartei „Einiges Russland“ und gilt manchen als designierter Zarewitsch. Jetzt hat Dmitri A. Medwedew unverhohlen in einem von nationalistischen Ausfällen nur so strotzenden Artikel „Russland und Polen: Anmerkungen zum 4. November“ (Rossiyskaya Gazeta) der Republik Polen mit einem Ende ihrer Eigenstaatlichkeit gedroht: „Die Geschichte hat gegenüber den anmaßenden Polen mehr als einmal ein unbarmherziges Urteil gesprochen: Wie ehrgeizig die revanchistischen Pläne auch sein mögen, ihr Scheitern könnte zum Tod der polnischen Staatlichkeit in ihrer Gesamtheit führen.“

Am 4. November 1612 beendeten Kusma Minin und Dmitri Poscharski mit dem Einzug in Moskau die polnisch-litauische Fremdherrschaft und die (Bürgerkriegs-) „Zeit der Wirren“, die Smuta. 2005 löste dieser Tag als Nationalfeiertag den „Tag der Oktoberrevolution“ ab. Nur zur Erinnerung für Menschen, die im Putinschen Russland noch immer eine im Kern irgendwie „sozialistische“ Post-Sowjetunion sehen…
Man könnte das alles als Polit-Folklore abtun, wenn der Mann, wie gesagt, irgendwo in der Steppe dem Wind predigen würde. Er hat jedoch Macht und Einfluss. Und mit solchen Sprüchen sät er Drachenzähne … Ob Russland sich dazu hinreißen lässt, Polen militärisch zu attackieren, ist derzeit eine (hoffentlich…) rein hypothetische Frage. Medwedew liefert mit seinem scharfmacherischen Text allerdings weitere Argumente, die erstens den NATO-Strategen nützlich sind – und zweitens liefert er die Gründe, weshalb auch die letzten noch wankenden Osteuropäer froh sein werden, diesem Bündnis anzugehören.

Der Schlaf der Vernunft gebiert tatsächlich Ungeheuer.

W. Brauer

 

Wolken

 

von Renate Hoffmann

Sie ziehen und fliehen,

sie rasten und hasten

und wandern bedächtig.

Sie formen sich mächtig

zu Bergen und Türmen

und trotzen den Stürmen.

Sie bleiben und treiben,

sie wallen und fallen

begleiten und leiten

die scheidende Stunde.

 

Doch nachts in der Runde

sind sie ganz verschwiegen

zu fernen Sternen

gestiegen.

 

Russland im Visier

 

Steadfast Defender ist das größte Manöver der NATO. Es findet alle drei Jahre statt, das nächste Mal im Frühjahr 2024. Dann werden 40.000 Heeressoldaten, mehr als 50 Kampfschiffe und etliche Staffeln Kampfflugzeuge wieder Krieg spielen. Aber dieses Mal anders als in der Vergangenheit. Denn bisher ging es stets gegen einen Fantasiegegner. Der hatte zwar auch schon Ähnlichkeit mit Russland – eine Scheindemokratie, die Mitglieder der Allianz bedroht, vorzugsweise an deren östlicher Flanke. Doch im Übrigen waren die Straßen, Häfen, Grenzen der Manöverlage fiktiv. 2024 wird der Feind klar erkennbar sein – „Russland und Belarus in ihren realen Grenzen“, wie die FAZ kürzlich berichtete: „Das gegnerische Bündnis greift die NATO an ihrer schwächsten Stelle an, der Suwalki-Lücke an der nur 60 Kilometer breiten Landgrenze zwischen Polen und Litauen. Die Angreifer rücken Richtung Weichsel vor. Die NATO aktiviert ihre Eingreifkräfte […] Über den Atlantik kommt Verstärkung aus Amerika. Drei Flugzeugträgergruppen machen sich auf den Weg zu den europäischen Häfen. Von dort müssen die Gefechtsverbände so schnell wie möglich in das Einsatzgebiet verlegen und dabei zwei Flüsse queren. Der Höhepunkt der Übung soll Anfang März sein, wenn die Soldaten aus zwei Stoßrichtungen die Weichsel erreichen.“ Der verantwortliche NATO-Manöverplaner, Bundeswehr-Brigadegeneral Gunnar Brügner, nennt dieses Szenario „alle Kräfte, die wir in Übungen testen, in die schiere Wirklichkeit [werfen]“.

Apropos Wirklichkeit – zu der hatte die FAZ noch mitzuteilen: „Ob Russland derzeit überhaupt in der Lage wäre, die Allianz konventionell zu bedrohen, ist zweifelhaft. Das russische Heer hat in der Ukraine schon etwa die Hälfte seiner Ausrüstung verloren. Auf dem Schlachtfeld tauchen Panzer aus den fünfziger Jahren auf. Es wird nach dem Krieg Jahre dauern, bis die Russen ihre Armee wieder aufgebaut haben.“

sarc

Live-Dokumente eines verrückten Künstlers

 

Es ist ein schwieriges Unterfangen, dem Menschen und Künstler Kevin Coyne im Rahmen dieser CD-Rezension gerecht zu werden. Die Doppel-CD „Shangri-La“ bietet die Gelegenheit, zwei Konzerte von ihm in unterschiedlichen Bandkonstellationen im Abstand von einem Vierteljahrhundert, beide in Bremen aufgenommen, in vorzüglicher Tonqualität zu hören.

In den 1970er Jahren gelang es Kevin Coyne, mit einem Plattenvertrag beim ambitionierten Label Virgin Records im Rücken, speziell in England Resonanz zu finden. Es wurde ihm sogar das ehrenvolle Angebot unterbreitet, als Sänger bei den „Doors“ Nachfolger des verstorbenen Jim Morrison zu werden. Doch er wollte sich lieber auf seinen eigenen musikalischen Weg konzentrieren. In seinen Musiktexten tauchen immer wieder Randständige der Gesellschaft auf. Dabei zeigt er durchaus Sympathien für die „Fools“ oder „Lunatics“. Sicherlich prägten ihn hier seine Jahre als Sozialarbeiter in der Psychiatrie. Er selbst kämpfte mit massiven psychischen und Alkoholproblemen, was auch dazu führte, dass seine erste Ehe scheiterte. In den 1980er Jahren siedelte er dann nach Deutschland über, wo er nach einem „Rockpalast“-Konzert eine kleine, aber treue Fangemeinde hatte.

Die personelle Besetzung seiner Band wechselte dadurch. Gleichzeitig widmete er sich vermehrt der Malerei und ließ sich auch durch die massiven Einschränkungen nach seiner Erkrankung an Lungenfibrose nicht zum Schweigen bringen. Auf dem 1975 aufgenommenen Konzert wurde er u.a. von dem späteren „Police“-Gitarristen Andy Summers und dem Keyboarder Zoot Money begleitet. Das Konzert 2001 erfolgte nur in Triobesetzung, ohne Tasteninstrumente, mit dem Gitarristen Keili Keilhofer und dem Schlagzeuger Werner Steinhauser.

Es ist ein schwieriges Unterfangen, Kevin Coyne musikalisch zu schubladisieren. Sicherlich trifft es Rhythm’n’Blues als stilistische Kategorie am besten, doch er nimmt auch Anleihen beim Jazz und beim Rock’n‘Roll. Und hin und wieder fließen auch ganz harte Rockrhythmen ein. Seine Stimme ist rau, aber voller Pathos. Sie dringt ins Ohr und mit dieser Stimme dringen all die Verrückten und Verrücktheiten dieser Welt sowie die tief empfundene Sehnsucht nach Liebe mit ein. Von seiner Statur her war Kevin Coyne sicherlich ein kleiner Mensch, aber in seinem künstlerischen Wirken war ein Großer.

Eines der Schlussstücke auf dem 1975er Konzert war der Dylan-Klassiker „Knockin´ on Heaven’s Door“. Im Dezember 2004 verstarb Coyne viel zu früh. Er hat hoffentlich einen passenden Platz im Musikhimmel gefunden …

Thomas Rüger

Kevin Coyne: Shangri-La (lvie in Bremen 1975 & 2001), Doppel-CD, Label MIG 2023, 20,00 Euro.

 

Blätter“ 11/2023

 

In der November-Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik analysiert Richard C. Schneider das strategische Dilemma Israels nach dem brutalen Angriff der Hamas. Ella Müller zeigt, wie die Weltsicht der Klimawandelleugner in den USA zum Markenkern der Republikanischen Partei avancierte. Arundhati Roy beschreibt die Zerstörung der indischen Demokratie unter dem Hindu-Nationalisten Narendra Modi. Peter Reif-Spirek legt die langen Linien des Thüringer Faschismus offen. Und Asha Hedayati erklärt, warum Familiengerichte gewalttätige Väter begünstigen – und Mütter wie Kinder damit großer Gefahr aussetzen.

Weitere Themen sind u.a.: Der Angriff der Hamas und die Machtverschiebung in Nahost, Verrückt nach rechts: Die Republik nach Bayern und Hessen, Irrweg Brückenstrompreis, Marine Le Pen: Weichgespült und präsidiabel? USA: Die Republikaner im kalten Bürgerkrieg, X: Musks Plattform für Desinformation, Entrechtet und verfolgt: Gewerkschaften in Belarus.

Zu beziehen über das Internet.

 

Aus anderen Quellen

 

Zum aktuellen Krieg im Nahen Osten schreibt der israelische Journalist Haggai Matar: „[…] Militärhilfe und Flugzeugträger bieten keine langfristige Sicherheit, genauso wenig wie Mauern, Panzer und die modernsten Überwachungssysteme der Welt – wie wir Israelis alle schmerzlich erfahren mussten, als die Hamas Anfang des Monats aus dem Gazastreifen ausbrach. Nach Beileidsbekundungen und Sympathiebekundungen sollte sich Biden – wie übrigens jeder einflussreiche Freund Israels – auf drei grundlegende Aufgaben konzentrieren: Israel für seine eigenen Kriegsverbrechen gegen die Palästinenser zur Rechenschaft zu ziehen; darüber nachzudenken, wie diese Verbrechen zum Mangel an Sicherheit für die Israelis selbst beitragen; und von Israel zu verlangen, dass es wieder Friedensverhandlungen aufnimmt, diesmal mit dem Ziel, den Palästinensern eine gleichberechtigte Stellung zu sichern, die wirklich ein Ende der Apartheid garantieren würde.“

Haggai Matar: A real friend of Israel would be making it face up to some uncomfortable truths, theguardian.com, 19.10.2023. Zum Volltext hier klicken.

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Ebenfalls zum Krieg im Nahen Osten vermerkt Raphael S. Cohen, Programmdirektor bei der RAND-Corporation: „[…] wenn das Töten erst einmal vorbei ist, wird Israel etwas noch Schwierigeres tun müssen, wenn es eine Hoffnung haben will, den nächsten und übernächsten Krieg zu verhindern: Es muss den Gazastreifen in etwas Besseres umwandeln, als er war. Das bedeutet, den Einwohnern des Gazastreifens eine Chance auf wirtschaftlichen Wohlstand zu geben, möglicherweise sogar auf die Gefahr hin, dass die Blockade gelockert wird. Das bedeutet, den Bewohnern des Gazastreifens politische Alternativen zur Hamas und der korrupten und gefügigen Palästinensischen Autonomiebehörde zu bieten. Und es bedeutet, das soziale Gefüge des Gazastreifens wieder aufzubauen, das nach einem möglicherweise verheerenden Krieg, der die Enklave noch feindseliger gegenüber Israel machen könnte, wahrscheinlich noch mehr gespalten sein wird als schon jetzt.“

Selbst die „RAND Corporation“ erklärt Israels Strategie in Gaza für falsch und gescheitert, globalbridge.ch, 26.10.2023. Zum Volltext hier klicken.

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„Weil man über Jahre die Sicherheitsinteressen Russlands nicht berücksichtigt und die Bitten Gorbatschows, Jelzins und Putins nach einer gemeinsamen europäischen Sicherheitsarchitektur unter Einbeziehung Russlands auf Druck der USA brüsk zurückgewiesen hat, haben wir jetzt den Krieg in der Ukraine“, so Oskar Lafontaine. „Dieser Krieg begann daher nicht, man kann es nicht oft genug sagen, mit dem Einmarsch der russischen Armee am 24. Februar 2022, sondern viel früher. Spätestens mit dem von Joe Biden und Victoria Nuland organisierten und finanzierten Putsch 2014 in Kiew, der ukrainische Nationalisten und Faschisten an die Macht brachte und zur ‚Anti-Terror-Operation‘ gegen die russischsprachigen Ostukrainer mit 14.000 Todesopfern führte.“

Oskar Lafontaine: Deutschlands natürlicher Partner heißt Russland, nicht Amerika. Wann merkt es die Bundesregierung?, nachdenkseiten.de, 17.10.2023. Zum Volltext hier klicken.

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„Der aktuell wieder dramatisch entflammte Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern im Gazastreifen wirft einen langen Schatten auf den Rest der Welt“, beginnt Leo Ensel und fährt fort: „Im Windschatten der durch andere Krisen und Konflikte abgelenkten Weltöffentlichkeit hat Aserbaidschans Diktator Alijew schon mehrfach erfolgreich gegen die Armenier operiert. Er könnte es nach der Einverleibung Berg-Karabachs bald schon wieder versuchen. Dieses Mal gegen die Republik Armenien.“

Leo Ensel: Landschaft nach der Schlacht – oder: Armeniens düstere Zukunft, russlandkontrovers.com, 17.10.2023. Zum Volltext hier klicken.

Zusammengetragen von Wolfgang Schwarz.