26. Jahrgang | Nummer 16 | 31. Juli 2023

Durch Spaniens Norden (VII)

von Alfons Markuske

Nicht wenige nordspanische Städte spielten geschichtlich weit früher als etwa Berlin eine in den Annalen bis heute vermerkte, mehr oder weniger bedeutsame Rolle. Lleida im westlichen Katalonien, unser vorletztes für diese Reisenotizen ausgewähltes Ziel und aktuell mit etwas über 140.000 Einwohnern, gehört ganz gewiss dazu. Bereits während des zweiten Punischen Krieges (218 bis 201 vor Christus) stellten sich die damals hier siedelnden Ilergeten, deren Hauptstadt Llerda, das heutige Lleida, war, zusammen mit Karthago gegen Rom. Erfolglos. 150 Jahre später belagerte Caesar im Zuge seines Bürgerkriegs gegen Pompeius bei Llerda dessen Legaten Lucius Afranius und Marcus Petreius und zwang sie zur Kapitulation.

Der Parador von Lleida – Convent del Roser, erst 2017 eröffnet und ein weiterer erster Vertreter dieser Hotelkette – fügte unserer „Sammlung“ keinen weiteren Porkpie hinzu, denn diese Herberge befindet sich mitten im Herzen der Altstadt, in den Mauern eines früheren Dominikanerklosters aus dem 17. Jahrhundert. Das Hotel besteht aus zwei Gebäuden, einer Kirche, in der sich jetzt das Restaurant des Paradors präsentiert, und dem Wohnkomplex. In diesem sind die 53 Gästezimmer um einen wunderschönen dreistöckigen Kreuzgang angeordnet, der seinerseits das großzügige überdachte Atrium mit Cafeteria und Bar umschließt.

In der Calle Sant Martí, direkt am Fuße des Aufstieges zur Zitadelle und zur alten Kathedrale der Stadt, einem allein durch den über 60 Meter hohen Kirchturm imposanten Ensemble, das die „Skyline“ Lleidas beherrscht, nahmen wir in der Bodega El Barri ein vorzügliches Mittagsmahl zu uns. Als wir das Restaurant – mit zahlreichen Tischen auch auf dem vorgelagerten Trottoire für vielleicht 200 Gäste ausgelegt – gegen 12:30 Uhr betraten, war es praktisch leer. Trotzdem platzierte uns ein Kellner nur an einem etwas abseitigen Katzentisch. Eine dreiviertel Stunde später wussten wir warum. Da war der Laden brechend voll und die Lautstärke wurde ohrenbetäubend. Offenbar alles Reservierungen, denn jetzt noch nachfragende Durstige und Hungrige hatten keine Chance mehr. Das Essen selbst erklärte den Andrang – es war schlicht ein Gedicht. Das Tataki de tonyina, rotes Thunfisch-Tataki, ist zwar eine (handwerkliche Könnerschaft erfordernde) japanische Zubereitungsart – vergleichbar mit gelungenem Roastbeef: schmaler, durchgegarter Rand, der das zubereitete Stück quasi versiegelt, ansonsten roh –, doch die beherrschen sie im El Barri perfekt. Das Ganze zerging auf der Zunge. (Und war so köstlich, dass wir das Restaurant 24 Stunden später gleich noch einmal aufsuchen wollten. Leider Ruhetag.) Anschließend postre, Nachtisch: Crema Catalana – ebenfalls zum Niederknien!

Beim Streifzug durch die Stadt stießen wir unter anderem auf die neue Kathedrale. In diesem Gotteshaus überraschten uns einige bildliche Darstellungen, die die Heilige Familie mal nicht in einem der üblichen, totgekulteten Arrangements wie der im Stall zu Bethlehem oder der von der Anbetung der drei Könige zeigen. Auf einem Bild Maria, erkennbar nicht schwanger, bei ganz normaler Handarbeit, einer Stickerei. Auf einem anderen zwar die gesamte Heilige Familie, doch Joseph beim Arbeiten an der Hobelbank und Maria mit dem vielleicht vier- oder fünfjährigen Jesusknaben auf dem Schoß, auf dessen einer Hand ein Stieglitz sitzt.

Beim Streifzug durch die Stadt stießen wir des Weiteren auf eine Ausgrabungsstätte jüngeren Datums, wo Überreste eines früheren jüdischen Viertels der Stadt, genannt La Cuirassa, freigelegt worden sind. Infotafeln ist zu entnehmen, dass hier am 13. August 1391 ein frühes Pogrom stattfand, bei dem etwa 600 Einwohner Lleidas ihre Mitbürger mit dem Ruf „Konvertiert oder sterbt!“ attackierten. Etwa 80 Juden kamen zu Tode; das Viertel wurde anschließend abgerissen und die Synagoge zur Kirche umfunktioniert. Diese Örtlichkeit ist zugleich Erinnerung daran, was die katholische Reconquista – Lleida wurde 1149 endgültig von den Mauren zurückerobert – für Spanien auch mit sich brachte: das Ende der religiösen Toleranz während der arabischen Herrschaft.

Am späteren Nachmittag dieses sonnigen Sonntags konnten wir auf der Plaza de Sant Joan, dem schönsten Platz der Stadt und nur wenige Fußminuten vom Parador entfernt, in einem der zahlreichen Straßencafés ein kühles Bier genießen und einer Band lauschen, die auf einem Bühnenpodest bei der Tonprobe für ihr abendliches Konzert war. Wir fühlten uns in sehr viel jüngere Jahre zurückversetzt, als Musiker und Sängerin plötzlich erst „Proud Mary“ (Ike & Tina Turner) anspielten und wenig später „Hey, Jude“ (Beatles) folgen ließen.

Apropos kühles Bier: In Deutschland ist es eisgekühlt ja verpönt, doch in Spanien wird es zu wärmeren Jahreszeiten praktisch nur in beschlagenen Gläsern serviert, und da ist es einfach ein durstlöschendes Labsal.

*

Damit neigte sich unsere Reise durch Spaniens Norden ihrem Ende zu. Es folgte noch eine Übernachtung im weniger spektakulären Parador von Seu d’Urgell. Der Ort in den Pyrenäen liegt bereits auf 640 Metern Höhe und dürfte Wildwasserenthusiasten möglicherweise noch von den Olympischen Spielen in Barcelona 1992 in Erinnerung sein. Der künstlich angelegte und gut erhaltene Strömungskanal, in dem damals die Kanuten um Edelmetall paddelten, schließt sich direkt ans Zentrum des Kleinstädtchens an.

Auf der Anfahrt nach Seu d’Urgell hatten wir dann doch noch zwei Déjà-vus. Bereits am zweiten oder dritten Tag in Spanien war uns aufgefallen: auf den Autobahnen und Straßen keine PKWs vom Typ Tesla. Nirgends. Auch Ladesäulen für Fahrzeuge mit E-Antrieb begegneten uns so gut wie überhaupt nicht. Und das blieb so. Bis uns kurz vor unserem Tagesziel Seu d’Urgell in den Bergen erst doch noch ein Tesla entgegenkam. Wenn auch mit ausländischem Kennzeichen, aus dem benachbarten Andorra. Aber dann bei Ankunft am Parador der Hammer: in einer eher ruhigen Nebenstraße – gleich acht Ladesäulen. Wie Exerziersoldaten in einer Reihe. Alle mit der Aufschrift „Tesla“, und jede war gerade frei …

So fuhren wir denn am nächsten Morgen mit dem bangen Ahnen gen Heimat, dass sich der automobile Fortschritt wohl auch vom Sperrriegel der Pyrenäen nicht wird aufhalten lassen.

Schluss.

Die bereits erschienenen Teile dieser Reisenotizen finden sich in folgenden Ausgaben: 10/2023, 11/2023, 12/2023, 13/2023, 14/2023 und 15/2023.