Die Provinz Asturien im Nordwesten Spaniens erstreckt sich vom Kantabrischen Meer, einem Randgewässer des Atlantiks, bis zu den Kantabrischen Kordilleren, einem Ausläufer der Pyrenäen, und umfasst eine Fläche von lediglich 10.600 Quadratkilometern. Und doch wurde in diesem kleinen Winkel der iberischen Halbinsel der europäischen und globalen Geschichte eine Wendung gegeben, wie sie sich nicht gar so viele Weltgegenden aufs Panier schreiben können: Von Asturien aus begann 720 die sogenannte Reconquista, die katholische Rückeroberung Spaniens von den dort nach 711 allmählich über nahezu das gesamte Land herrschenden muslimischen Mauren, und schuf die Voraussetzung für den späteren Aufstieg Madrids zur ersten Weltmacht der Neuzeit.
Die Reconquista zog sich bekanntlich bis 1492 hin. Spanien selbst bescherte sie einen Jahrhunderte währenden Rückfall ins finsterste Mittelalter. Die bisherige Blütezeit von Wissenschaft, Kunst, Architektur und vor allem auch die Epoche religiöser Toleranz, in der – von der maurischen Obrigkeit gewährleistet – Mohammedaner, Christen und Juden friedlich miteinander auskamen, waren vorbei. Dominiert wurde die Rückeroberung vom Heiligen Offizium – der allerchristlichsten Inquisition zur Verfolgung ungenügend konformer Christen und anders Gläubiger, insbesondere Juden – sowie allenthalben begleitet von öffentlich stattfindenden Autodafés, Ketzerverbrennungen. Denen ein denunziatorisch äußerst aktives Volk, so der spanische Bestsellerautor Arturo Perez-Reverte, willfährig Opfer zuführte, deren Abfackelung wiederum Gegenstand allgemeiner Erbauung war. Zum in Madrid Anfang des 17. Jahrhunderts bei derartigen Anlässen üblichen Andrang sowie zum Volksfestcharakter dieser Veranstaltungen, die häufig auf dem zentralen Platz der Stadt, der Plaza Mayor, stattfanden, schreibt Perez-Reverte in seinem Roman „Limpieza des sangre“ („Reinheit des Blutes“): „Zweitausend Schaulustige waren nachts aufgeblieben, um sich einen Platz zu sichern. Um sieben Uhr morgens konnte auf der Plaza Mayor keine Stecknadel zu Boden gehen.“ Es „strömten ganze Familien herbei, selbst mit Kindern. Für Mittagessen und Vesper brachten sie Proviant und Getränke in Körben mit, während Honigwein-, Wasser- und Naschwerkhändler bereits ihren Schnitt machten.“ Verbrannt wurde übrigens, weil nach damaligem katholischen Kanon kein Blut vergossen werden durfte. Und wenn die Verbrennung bei lebendigem Leibe erfolgte, dann häufig langsam, aus Barmherzigkeit – um den Opfern mehr Zeit zur finalen Reue zu geben. In jenen Zeiten konnte, wer Maure oder schlimmer Jude war, wirklich bloß von Glück reden, wenn er nur außer Landes getrieben wurde. Was unter dem wiederhergestellten katholischen Regiment mit nahezu allen Mauren und nicht verbrannten Juden auch tatsächlich geschah.
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Ziemlich im gebirgigen Herzen Asturiens, und das heißt in diesem Falle soweit jwd, dass in der Umgebung ein Teil einer der letzten Braunbärenpopulationen Europas sein heute geschütztes Rückzugsgebiet gefunden hat, liegt der Parador de Corias, ein wuchtiges dreigeschossiges Klostergeviert, auch asturischer Escorial genannt. Noch immer belegt der dort seit 150 Jahren ansässige Dominikanerorden einen Bereich um die Kirche innerhalb der ehemaligen Klosteranlage, deren Ursprünge bis ins 11. Jahrhundert zurückreichen. Der in den im 18. Jahrhundert errichteten heutigen Gemäuern geschaffene moderne Hotelkomplex der Parador-Kette – mit allem Komfort und äußerst großzügig dimensionierten Zimmern – ist jüngsten Datums; er wurde erst 2013 von der spanischen Königin Sofia eingeweiht. In einem der Innenhöfe der Anlage beeindruckt eine Chilenische Araukarie, deren Gattung fossilen Funden zufolge seit über 90 Millionen Jahren existiert und somit zu einer der ältesten Baumfamilien der Erde gehört. Diese Gewächse erreichen ein Alter von bis zu 2000 Jahren. Die kokosnussgroßen kugeligen weiblichen Blütenzapfen – spanisch: cabezas (Köpfe) – hatten wir erstmals im vergangenen Jahr in einem Vorgarten im Spreewald gesehen. Doch dort hatte der „Bonsei“ eine Höhe von vielleicht drei Metern. In Corias überragt die geschätzt über 200 Jahre alte Araukarie die Firsthöhe der Gebäude um etliche Meter.
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Der nächste Parador erwartete uns im galicischen Dorf Cambados, direkt am Atlantik. Auf dem Weg dorthin wollten wir einen Abstecher nach Lugo einlegen, einem Ort mit über 1800-jähriger Geschichte. Das Navi zeigte eine Distanz von knapp 160 Kilometern an, prognostizierte aber eine Fahrtzeit von dreieinhalb Stunden. Kurz darauf wussten wir warum: Durchs Gebirge schraubte sich die Straße in teils engen Serpentinen bis auf 1100 Meter Höhe, mit Anstiegen von bis zu 14 Prozent; anschließend ging es ähnlich mäandernd ins Tal, worauf erneute Höhe … und so weiter und so fort. Für Begegnungen mit Fahrzeugen ab Busgröße war die Piste durchgängig nicht wirklich ausgelegt. Dafür wiesen Verkehrsschilder, die vor Wildwechsel warnten, statt des üblichen springenden Hirsches schon mal zwei trottende Petze auf. – In den Dörfern und stets nahe bei den Wohnhäusern immer wieder die landestypischen, hier hölzernen, auf steinerne Stützen „aufgebockten“ Getreidespeicher, die bereits seit dem 13. Jahrhundert gebräuchlich sind. An den Straßenböschungen blühten Ginster und üppig Wildblumen und -kräuter. Ein über den Asphalt sprintender Nerz (vielleicht auch nur ein Edelmarder) war schnell genug, um uns gar nicht erst zum Bremsen zu veranlassen …
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Lugo ist die älteste Stadt Galiciens; sie geht auf die römische Expansion unter Kaiser Augustus zurück und zählt heute knapp 100.000 Einwohner. Damit wäre sie als solches allerdings nun nicht gleich einen touristischen Abstecher wert. Doch legten die Römer im dritten Jahrhundert eine massive Stadtbefestigung in Gestalt einer bis zu zwölf Meter hohen und bis zu acht Meter dicken Ringmauer mit insgesamt 85 halbkreisförmigen Türmen an, die sich als so standfest erwies, dass sie später den Attacken der Mauren und nach Ausbesserungen und Verstärkungen im 14. Jahrhundert auch allen künftigen Angriffen widerstand. Erst die Invasionstruppen Napoleons zu Beginn des 19. Jahrhunderts vermochten die Stadt zu nehmen. Trotzdem blieb die Wehranlage komplett erhalten, ist heute Weltkulturerbe der UNESCO und bietet Besuchern der Stadt ganzjährig die Möglichkeit, den historischen Stadtkern Lugos auf der Mauerkrone – Breite zwischen knapp fünf und sieben Metern – zu umwandern. Dabei kann es passieren, dass man von der Stadtreinigung überholt wird, in unserem Fall einer freundlichen Dame auf einem Funktionsfahrrad, die immer wieder anhielt, um das Kulturerbe von Unrat zu befreien, den banausische Kulturerben dort hinterlassen hatten. Mit einer Länge von 2100 Metern umschließt diese Stadtmauer ein Areal von circa 35 Hektar. Zu beiden Seiten des Bauwerkes – zahlreiche Wohngebäude in einem Zustand, für den in der deutschen Immobilienbranche der Begriff „Handwerkerobjekt“ geläufig ist. Ein Euphemismus, der gewöhnlich verklausuliert, dass das betreffende Haus nur noch mit sehr viel gutem Willen und noch mehr Geld eventuell vorm endgültigen Verfall bewahrt werden könnte. In Lugo möglicherweise ein Indiz dafür, dass Galicien immer noch zu den ärmsten Landesteilen Spaniens zählt. Ein Sachverhalt, der seit dem 19. Jahrhundert und bis in die Gegenwart eine so starke Auswanderung zur Folge hatte, dass in manchen lateinamerikanischen Ländern alle Spanier summarisch als gallegos (Galicier) bezeichnet werden.
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Deren Heimatregion ist die nordwestlichste Provinz Spaniens. Nach den Römern war dieser Landstrich noch den germanischen Sueben – auf sie wird der für Spanien ungewöhnlich hohe galicische Bevölkerungsanteil an blonden und blauäugigen Menschen zurückgeführt – und den Westgoten regelrechte Eroberungen wert. Den Mauren ab 711 dann schon nicht mehr: zu abgelegen, zu bergig, zu unwirtlich.
Von Santiago de Compostela, dem katholischen Wallfahrtsort, an dem angeblich die Gebeine des Apostels Jacobus des Älteren ruhen sollen und in dem die diversen, in verschiedenen Gegenden Europas ihren Anfang nehmenden Jacobswege enden, haben die meisten wohl schon mal gehört. Dass es sich dabei auch um die Hauptstadt Galiciens handelt, ist weit weniger bekannt. Von Jahr zu Jahr strömen mehr Wallfahrer in die Stadt, über 430.000 waren es 2022. Und längst kaum noch zur Freude der Einheimischen, denn um Andacht geht es häufig nicht mehr. DIE WELT berichtete im November 2022 unter der Überschrift „Wie am ‚Ballermann’ […]“: „Im Zentrum der Hauptstadt Galiciens ist es tagsüber schon sehr laut. Abends dann noch um einiges mehr. Vor allem in der Rua do Franco [der faschistische Diktator stammte aus Galicien – A.M.]. Die Bars und Restaurants an der 400 Meter langen Partymeile unweit der Kathedrale sind […] noch um Mitternacht alle voll. Vor den Lokalen bilden sich zum Teil sehr lange Schlangen.“
Unsere Reiseroute machte um Santiago, wiewohl es auf unserem Wege lag, einen Bogen. Doch rucksackbepackte Wanderer, die sich diesem Ziel von Norden, Osten oder Süden (westlich vom Wallfahrtsort gibt es ja nur noch den Atlantik) näherten – junge wie ältere, in Grüppchen oder auch einzeln – begegneten uns in Galicien immer wieder. Nicht alle frönten der mit den Jacobswegen im allgemeine assoziierten Askese; etliche übernachteten in denselben Paradores wie wir …
Schlagwörter: Alfons Markuske, Asturien, Corias, Galicien, Lugo, Parador, Santiago de Compostela