Die Doppelregion Castilla-León (Kastilien und León), die aus neun Provinzen besteht, von denen wir die drei südlichsten, Segovia, Ávila und Salamanca, bei früherer Gelegenheit bereist hatten, ist die größte der sogenannten autonomen Gemeinschaften Spaniens. In diese gliedert sich das Land – seit dem Übergang zur parlamentarischen Demokratie nach dem Tod des Diktators Franco (1975) und einer entsprechenden Strukturreform. Kastilien, als Begriff seit etwa dem 10. Jahrhundert zunächst für die Gegend um Burgos geläufig und hergeleitet von den zahlreichen Burgen (castillos), die die Grenzlinie zu den weiter südlich gelegenen, maurisch beherrschten Gebieten schützten, wird auch als das Herz Spaniens bezeichnet. Denn keine Region bestimmte die Geschicke des ganzen Landes seit dem Mittelalter so wie diese. Doch León gebricht es deswegen nicht an Selbstbewusstsein; dort sagen sie: „León hatte 24 Könige, bevor es in Kastilien überhaupt Gesetze gab.“ Beide Regionen waren historisch lange Zeit selbstständig, bisweilen miteinander verbündet, periodenweise aber auch Gegner.
Die Stadt León wurde 68 nach Christus als Lager der römischen VII. Legion gegründet, doch ob der Name tatsächlich auf das Wappentier dieser Truppe, den Löwen (spanisch león) zurückgeht ist umstritten. Bis heute gilt die Stadt als eine Hochburg konservativer Kräfte. So war noch bis Ende der 1990er Jahre die Hauptstraße der Altstadt nach dem Caudillo Franco benannt.
Der Parador von León geht auf den Convento de San Marcos, ein Pilgerhospital – León liegt auf einem der bedeutendsten Jacobswege – aus dem 12. Jahrhundert zurück. Der heutige Bau eines früheren Klosters wurde größtenteils in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts errichtet und ist mit seiner über 100 Meter langen prachtvollen Renaissance-Fassade eines der herausragendsten Zeugnisse der spanischen Architektur jener Zeit. Und natürlich geprägt von dieser: über dem Hauptportal – der Apostel Jakobus zu Pferde, als Maurentöter.
Dem Bau war nach der Schließung des Klosters im Jahre 1836 eine wechselvolle Nutzung beschieden: Veterinärschule, Gefängniskrankenhaus, Gestüt, Kavalleriekaserne waren nur einige der Verwendungen. Gegen den zunehmenden Verfall geschah derweil nichts, so dass um 1875 herum sogar der komplette Abriss zur Debatte stand. Dagegen regte sich dann aber doch Widerstand. Sein finsterstes Kapitel erlebte der ehemalige Konvent zwischen Juli 1936 und Ende 1940 als campo de concentración (KZ) der Franquisten. Von den geschätzt 20.000 dort internierten Anhängern der spanischen Republik wurden zwischen 1300 und 3000 ermordet oder kamen während ihrer Haft anderweitig zu Tode. Darüber wird im heute museal gehaltenen Kapitelsaal des Konvents informiert.
Der Parador besteht seit 1964. Vor Jahren umfassend modernisiert ist er das einzige 5-Sterne-Hotel auf unserer Reise und sucht selbst in dieser komfortablen Hotel-Kette seinesgleichen. Von der Cafeteria im lichtdurchfluteten Innenhof aus kann man einen ersten Blick auf die sich über die Galerien dreier Etagen erstreckende Präsentation zeitgenössischer spanischer Malerei und Grafik der 1950er und 1960er Jahre werfen – mit Werken von Künstlern wie Lucio Muñoz, Vela Zanetti, Redondela, Álvaro Delgado, Ochoa, Macarrón und Vaquero Turcios. Im ersten Stock sind abstrakte Gemälde versammelt, im zweiten figürliche und im dritten solche der Maler-Schulen von Madrid und Vallecas.
Die Gästezimmer bestechen durch ihre stilvolle Einrichtung von unaufdringlicher Eleganz, moderne Kunst an den Wänden auch hier, XXL-Betten, matt verglaste, innen beleuchtete Kleiderschränke …
Die Kathedrale von León gilt als der schönste frühgotische und zugleich „französischste“ Bau Spaniens. Ihre Abmessungen inklusive der beiden jeweils über 60 Meter hohen Türme sind gewaltig und erstaunen umso mehr, als die Stadt zur Zeit des Baubeginns im 13. Jahrhundert lediglich 1300 Seelen zählte. Beschreibungen der Architektur verwenden gern die Feststellung, der Baukörper bestehe mehr aus Glas denn aus Stein. Dafür sorgten Baumeister im Barock, die größere Teile des äußeren Mauerwerks durch hohe Buntglasfenster ersetzten, so dass sich deren Flächen auf heute 1800 Quadratmeter addieren. Da kommt in Europa nur noch die Kathedrale in Reims mit. Leider litt unter diesen Eingriffen die Statik des Gotteshauses in desaströser Weise. Als im 19. Jahrhundert auch noch eine bauliche Restaurierung unsachgemäß in Angriff genommenen wurde, beschwor das die Gefahr eines kompletten Einsturzes herauf, und es brauchte nachfolgend 50 Jahre, um die angerichteten Schäden nachhaltig zu beheben.
In einer Kapelle hinter dem Hauptaltar ist die polychrome Marmorskulptur eines anonymen Meisters aus dem XIII. oder XIV. Jahrhundert zu bewundern – eine sehr ungewöhnliche Darstellung der Gottesmutter Maria: Mal nicht mit dem Jesusknaben auf dem Arm oder Schoß, sondern im Zustand der Schwangerschaft, die Rechte auf ihrem gewölbten Bauch und mit einer Miene sanften Insichgekehrtseins. Sehr menschlich. Betitelt ist die Skulptur als La Virgen de la Esperanza (Jungfrau der Hoffnung).
Direkt an der Rückseite des Altars befindet sich das steinerne Grabmal des Leóner Königs Ordoño II., der Anfang des 10. Jahrhunderts erfolgreiche Feldzüge gegen die Mauren führte und dabei bis Sevilla vordrang. Er soll seinen Palast aufgegeben haben, um stattdessen eine erste Kirche an jenem Platz errichten zu lassen, wo sich heute die Kathedrale erhebt. Dargestellt auf seinem Grabmal ist unter anderem Jesus am Kreuz. Gewöhnlich fällt dabei von dessen erlittenen Torturen insbesondere die Stichwunde an der rechten Brustseite ins Auge. So auch hier, doch ist in diesem Falle der römische Büttel Longinus mit der die Wunde verursachenden Lanze ebenfalls dargestellt, und er greift sich mit der freien Hand ans linke Auge. Dorthin, wo ihn der Legende nach ein Tropfen von Jesus’ Blut getroffen haben soll, der ihn erblinden ließ.
Ansonsten sollte der Tourist sich in der Frühe sputen, denn die Kathedrale, wiewohl eine der größten Sehenswürdigkeiten der Stadt, legt ab 12:30 Uhr eine mehrstündige Siesta ein.
Diese Zeit kann man auf der nahe gelegenen Plaza Mayor, dem repräsentativen Hauptplatz der Altstadt, oder in den umliegenden Gassen nutzen, um in einem der zahlreichen Restaurants Mittag zu essen. Dort allerdings mangels Sprach- und kulinarischer Kenntnisse in der Speisekarte einfach auf ein Gericht zu tippen in der Annahme, es müsste sich um etwas Ortstypisches handeln, kann total daneben gehen. Wie in diesem Magazin vor Jahren ein anderer Reisender seine Erfahrung in Lyon zum Besten gegeben hat (siehe Blättchen 14/2015). In unserem Falle entpuppte sich morchilla de Leon con patatas als frische Blutwurst mit Bratkartoffeln, scharf gewürzt, doch gut zu essen. Wenn auch nicht ganz an das von uns sehr geschätzte Produkt des legendären Fleischermeisters Benser vom Karl-Marx-Platz in Berlin-Neukölln heranreichend. Doch dieser wurde schließlich nicht umsonst in der Normandie zum Blutwurstritter geschlagen.
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Der Weg zu unserem nächsten Parador in Calahorra, Region La Rioja, führt über Burgos, dessen Kathedrale der nächste gotische Superlativ auf unserer Reise ist. Die Maße der Dame: 108-61-84. Besagt hier: 108 Meter lang, 61 Meter breit, 84 Meter hoch. Der Baubeginn ist auf den 20. Juli 1221 datiert, die Errichtung selbst stockte allerdings ab 1260 erst einmal für 200 Jahre.
Nachdem die Kuppel über dem Mittelschiff des Gotteshauses, von einem Kölner Baumeister errichtet, Jahre später eingestürzt war, weil die sie tragenden Säulen nicht hielten, wurde sie von einheimischen Meistern neu errichtet und gilt – in 50 Metern Höhe – seither als die schönste Renaissance-Kuppel in ganz Spanien.
Direkt darunter und damit praktisch am zentralsten Platz der Kirche befindet sich unter einer schlichten roten Grabplatte die letzte Ruhestätte des spanischen Nationalhelden schlechthin: Rodrigo Díaz de Vivar, der aus einem Ort nahe Burgos stammte, und als El Cid – abgeleitet vom arabischen as-sayyid (Herr) – zur Legende wurde. Als militärisch äußerst erfolgreicher Anführer der Reconquista im 11. Jahrhundert lehrte er die Mauren das Fürchten, war trotzdem ein fairer, auch vom Gegner geachteter Edler, der aber gerade deswegen ernstliche Probleme mit den eigenen Leuten bekam (Verbannung durch den König) und trotzdem seinem Land die Treue hielt. Gewissermaßen ein sprichwörtlicher Ritter ohne Fehl und Tadel. (Hollywoods Historienschinken von 1961 – mit Charlton Heston und Sophia Loren – galt den ideologischen Tempelwächtern in der DDR offenbar als unverfänglich genug, ihn auch in den Kinos zwischen Kap Arkona und Bad Brambach zu zeigen; dem DDR-Besucherandrang nach war’s ein Blockbuster, wie man heute zu sagen pflegt.) Im Vergleich zur Bedeutung des Mannes für die spanische Nation ist seine Grabplatte im Dom ausnehmend schlicht. Doch dafür haben sie in Burgos eine einleuchtende Erklärung: Die Platte markiere lediglich die letzte Ruhestätte des Ritters und seiner Angetrauten, das Grabmal als solches sei – die gesamte Kathedrale. Diese wiederum prunkt mit einer Überfülle an sakraler Kunst. Darunter befindet sich eine christliche Absonderlichkeit, die auch in Deutschland hin und wieder anzutreffen ist: ein Jesus am Kreuz – mit Echthaarperücke, hier der Santísimo Cristo („Christus von Burgos“).
Schließlich ist angesichts des Sachverhaltes, dass der Katholizismus von jeher in punkto Humor – mit Ausnahme von Fastnacht und Karneval im deutschsprachigen Raum – praktisch als klinisch keimfrei gilt, das Wahrzeichen der Kathedrale einer gesonderten Erwähnung wert: der Papamoscas (Fliegenschnapper). Das ist eine männliche Büste mit Schnauz- und Spitzbart und insgesamt wenig vertrauenerweckendem Antlitz, angebracht in einer Höhe von etwa fünfzehn Metern über einer Uhr. Zu den Glockenschlägen der vollen Stunde öffnet und schließt der Papamoscas den Mund. Die Einheimischen behaupten allerdings, die eigentlichen Fliegenschnapper stünden zu ebener Erde: die Touristen, denen ob des Schauspiels die Kinnladen herunterfielen.
Typisch für nordspanische Städte sind auf Plätzen, in Parks und entlang von Straßen sowie Alleen Platanenanpflanzungen, deren Geäst durch zielgerichtetes gärtnerisches Eingreifen so miteinander verbunden, ja verschlungen ist, dass sie mit ihren Blättern eine geschlossene Fläche gen Himmel bilden. Diese schattigen Bereiche bilden besonders an heißen Inseln erquickender Kühle – in Burgos in Gestalt regelrechter Arkaden auf der Uferpromenade des Río Arlanzón. Der allerdings ist einem murmelnden Bächlein weit ähnlicher denn einem Fluss.
Schlagwörter: Alfons Markuske, Burgos, Kastilien, Leon, Parador