von Alfons Markuske
Ávila, nach Cuenca und Segovia die nächste Bergfeste auf unserer Reise, ist in knapp 1200 Metern die höchstgelegene Stadt Spaniens. Nach der Rückeroberung Toledos von den Mauren durch König Alfonso VI. im Jahre 1085 ließ dieser Ávila wegen seiner strategischen Lage befestigen. Die rund 2500 Meter lange Stadtmauer in Gestalt eines Trapezoids – zwölf Meter hoch, mit 88 Halbrundtürmen und neun Toren versehen – wurde in nur zehnjähriger Bauzeit errichtet und ist komplett erhalten.
Dort, wo früher die Wachen hinter den Zinnen Ausschau nach allem, was sich annäherte, hielten, ist die Muralla genannte Mauer heute großenteils touristisch begehbar. Der Zufall wollte es, dass wir für den (kostenpflichtigen) Einstieg jenen neben der unvermeidlichen Kathedrale wählten, was denen, die nicht so gut zu Fuß sind, sehr zu empfehlen ist. Dann sind zwar immer noch etliche steile Treppenstufen zu bewältigen, aber ansonsten führt der Weg fast durchgängig sanft abwärts. Der Panoramablick entschädigt für den Aufstieg allerdings allemal.
Während ich dies morgens um 6:30 Uhr im Vestibül des Paradors von Ávila niederschreibe, setzt die heute offenbar unvermeidliche Hintergrundbeschallung ein – mit Mozarts Kleiner Nachtmusik …
Apropos Parador: Das hiesige Hotel ist wieder ein Klassiker. Die Rezeption befindet sich im trutzigen, zinnengekrönten Turm des Palacios Piedras Albas, einem typisch kastilischen Palast aus dem XVI. Jahrhundert. Dort soll in ihrer Kindheit Teresa Sánchez de Cepeda y Ahumada gespielt haben, drittes von zwölf Kindern einer adeligen Familie und in der Stadt heute als heilige Theresa von Áivila allgegenwärtig. Ihre Tante war, dem Vernehmen nach, im Palast beschäftigt. Dass allerdings im Garten des heutigen Paradors, der direkt bis an die Stadtmauer heranreicht, ein uralter Maulbeerbaum stehe, auf dem das quirlige Kind herumgeturnt sein soll, erweist sich als Marketingente. Aber gut flanieren, sitzen und lesen unter hohen, Schatten spendenden Bäumen ist dort ohne weiteres.
Dass Ávila die „Stadt der Ritter und Nonnen“ genannt wird, hat sie klosterschwesterseitig natürlich dieser Theresa zu verdanken, von der das Statement überliefert ist: „Nichts lag meinen Gedanken ferner, als Nonne werden zu wollen.“ Doch manchmal kommt es halt anders, und dann avanciert man nolens volens sogar zur Schutzpatronin von ganz Spanien. Und praktisch gab es ja zu Theresas – geboren am 28. März 1515 – Lebzeiten, wenn frau nicht als weitgehend fremdbestimmtes und rechtloses Anhängsel eines Mannes enden wollte, nur zwei Möglichkeiten – eine starke Königin wie Isabela I. von Kastilien zu werden (siehe den Beitrag zu Alcalá den Henares in Das Blättchen 13/2018) oder ins Kloster zu gehen. Wenn man darüber hinaus noch mystische Anwandlungen hatte – mal einen Meter über dem Boden schwebte, mal Christus persönlich begegnete – und nicht nur offen darüber redete, sondern auch schrieb, dann bot das Kloster wenigstens die Chance, nicht als geistesgestört weggesperrt zu werden, sondern als Theresa von Jesus (Ordensname) Eingang in die Heerscharen der katholischen Heiligen zu finden.
Als Ordensgründerin (Teresianischer Karmel) und Reformerin des Glaubens machte Theresa sich ebenfalls nicht nur Freunde, wurde aber gleichwohl bereits 1622, nur 40 Jahre nach ihrem Tode, heiliggesprochen. Zu späten akademischen Ehren gelangte sie schließlich 1970, als Papst Paul VI. sie als erste Frau im katholischen Weltkreis zur „Lehrerin des geistlichen Lebens“, zur Kirchenlehrerin also, erhob.
Wir besichtigen im Convento de la Santa, das als Theresa-Museum fungiert, die ihr gewidmete Geburtskapelle, mit der Iglesia de San Juan ihre Taufkirche und werden ihr als Statue während unserer Erkundungen der Stadt noch an verschiedenen Plätzen begegnen.
Einer der interessantesten Sakralbauten, auf die wir stoßen, ist die Basilica de San Vicente, die älteste, bereits auf das 11. Jahrhundert zurückgehende romanische Kirche Ávilas. Sie liegt knapp außerhalb vor deren Mauern, unmittelbar vor dem Stadttor gleichen Namens, und wurde zu Ehren der Geschwister Vicente, Sabina und Cristeta errichtet, die unter dem römischen Konsul Dacian im Jahre 307 an dieser Stelle einen frühchristlichen Märtyrertod erlitten haben sollen. Ihre Leichen überließ man ihrem Schicksal, nachdem man sie über einen Felsabhang in die Tiefe geworfen hatte.
Der frei gestellte Fuß dieses Felsens ist heute in der Krypta der Kirche zu besichtigen. Darüber, im Kirchenschiff, befindet sich ein prachtvoller Kenotaph, also eine Grabstätte ohne sterbliche Überreste. Hier in Gestalt eines steinernen Sarkophages von 1160 mit einem gewaltigen, später hinzugefügten gotischen Baldachin. Ein Umlauffries auf dem Sarkophag zeigt auf farbigen Tafeln und mit erkennbarer Freude am Detail – dem seinerzeit lesensunkundigen Volk wurden Botschaften gern bildhaft übermittelt – unter anderem die barbarische Tortur, mit der die Geschwister zu Tode gequält worden sein sollen, sowie die nachfolgende nicht weniger abstoßende Schändung der Leichname. Dazu kommentiert unser Audioguide in akzentfreiem Deutsch: „Doch die Peiniger konnten nicht ahnen, dass sie mit jedem Tropfen vergossenen Blutes den fruchtbaren Boden des Glaubens gossen.“ Ist das nicht ein schönes, nachgerade ein Lehrbuchbeispiel dafür, wie man, versehen mit dem richtigen Glauben – oder einer allein selig machenden Ideologie – auch noch größte Sauereien dem höheren Zwecke dienstbar machen kann?
Dass der Verrat der Geschwister an die Römer später einem Juden in die Schuhe geschoben wurde und die Geschichte damit den Instrumentenkasten des katholischen Antisemitismus bereicherte, war nur folgerichtig. Und dass die Basilika lediglich dem männlichen der MärtyrerInnen geweiht ist, versteht sich bei einer Religion, in der die Frau a priori zum Gefäß der Sünde abgestempelt war, sowieso von selbst.
Wenige Schritte neben dem Kenotaph befindet sich die Kapelle mit dem Grab des heiligen San Pedro del Barco, der in der Umgebung von Ávila ein Eremitendasein führte und ganz seinem Glauben und dem Ackerbau lebte. Nach seinem Dahinscheiden hinterließ er der Nachwelt überdies ein Beispiel dafür, wie man dem Erbgeschacher der Hinterbliebenen einen Riegel vorschieben kann. Schon seinerzeit war die Endlagerung von Heiligen ein einträgliches Geschäft: Solche Grabstätten zogen Gläubige an, die nicht nur übernachteten und sich verköstigen, sondern sich auch noch durch Devotionalienhandel das Geld aus der Tasche ziehen ließen. So stritten denn gleich mehrere Ortschaften darum, San Pedro zur letzten Ruhe zu betten. Der, des Geschachers überdrüssig, sprach durch den Mund eines Säuglings, man solle ihn gefälligst auf den Rücken seines Esels binden und diesem den Laufpass geben, auf dass der ihn zur rechten Grabstelle trage. Der Esel nahm Kurs auf San Vicente und stampfte dort im Kirchenschiff mit einen Huf so heftig auf, das der Abdruck im Granit direkt vor der Kapelle noch heute zu sehen ist …
Neben diesen deftigen Geschichten beherbergt die Basilika noch ein auch Atheisten wie uns anrührendes Kleinod von nur etwa 80 Zentimetern Höhe: eine an einer der Säulen des Kirchenschiffes angebrachte Madonna mit Kind. Es handelt sich um das Werk eines anonymen Künstlers aus dem XIV. Jahrhundert in frühgotischer Ikonographie. Während in der Romanik die Gottesmutter stets sitzend und mit dem eigentlichen Protagonisten, dem König des Universums, auf dem Schoß, also quasi als bloßer Thron für denselben, dargestellt wurde, begegnet uns hier eine Mutter, die ihr Kind liebevoll im Arm hält. In nahezu naturalistischer Darstellung. Beide schauen sich an, und der Knirps greift der Mama unter das Kinn.
Vor der Weiterreise nach Salamanca schließlich machen wir noch einen Abstecher zum Humilladero de los Cuatro Postes, einem Wegkreuz auf einem der Altstadt gegenüber liegenden Hügel. Das wurde 1566 als Denkmal für dramatische Ereignisse im Jahre 1157 errichtet, als sich fast die gesamte Bevölkerung der Stadt auf eine Wallfahrt begeben hatte und die Mauren dies ausnutzten, um Ávila anzugreifen und zu plünderten. Von diesem Denkmal aus ist die gesamte Altstadt zu überblicken.
Und auch die heilige Theresa kommt hier ein letztes Mal ins Spiel: Laut Überlieferung wurde sie als Kind an eben dieser Stelle zusammen mit einem ihrer Brüder von ihrem Onkel aufgegriffen, als die beiden sich gerade anschickten, ins Land der Ungläubigen aufzubrechen, um dort den Märtyrertod zu sterben.
Nachsatz: Gar nicht zu verstehen ist, dass Ávila nicht längst zum Wallfahrtsort aller Männer dieser Welt geworden ist, die – im gängigen Jargon der Political Correctness – vertically challanged sind, was man böswillig durchaus als knappwüchsig übersetzen könnte. War es doch just in Ávila, wo Alonso Fernández de Madrigal, Geistlicher, Gelehrter und Schriftsteller sowie kurzzeitig Bischof von Ávila (1554 bis 1555) und körperlich von äußerst kurzer Statur das ultimative Wort zum männlichen Flachwuchs gesprochen haben soll: „Die Größe eines Mannes misst sich vom Haaransatz bis zu den Augenbrauen.“
Wird fortgesetzt.
Schlagwörter: Alfons Markuske, Ávila, Kathedrale, Parador, Spanien, Stadtmauer, Theresa von Ávila