von Hans-Peter Götz, z. Z. Ozon (Département Ardêche)
Speisen wie Gott in Frankreich – das kann auch bedeuten, in einem Restaurant in der südostfranzösischen Metropole Lyon à la carte eine unbekannte regional typische Spezerei zu ordern und dabei voll auf Überraschung zu setzen, weil gerade mal wieder kein Wörterbuch zur Hand ist. In unserem Fall befand sich das Restaurant im Altstadtviertel Le Vieux-Lyon, und bei der Kulinarie handelte es sich um Andouillette du Lyon.
Die war auf der Speisekarte mit einem „5A*“ versehen, und der Text zum Sternchen verriet, dass eine Vereinigung namens Association amicale des amateurs d’andouillettes authentiques über deren Rezeptur und Qualität wacht. Kulinarisches Wagnis sieht anders aus. Dachten wir.
Serviert wurde eine mittelgroße, gedrungene Bratwurst im Naturdarm, die ein eigentümlich-strenger Duft nach, mit Verlaub, nur leicht gereinigtem Schweinedarm umwehte. Dieser Hautgout nahm nach dem Anschnitt der Andouillette nicht nur auch noch kräftig zu, sondern fand überdies seine kongeniale optische Entsprechung in dem, was dem Darm entquoll – grobe, leichenfahle Fleischstücke, Kutteln nicht unähnlich.
Die Blöße, das Gericht als verdorben zurückgehen zu lassen, gaben wir uns zwar nicht, aber auf den Verzehr verzichten wir nach einem Probebissen gleichwohl. Zur Erkenntnis dessen, worum es sich gehandelt hatte, verhalf uns nach Rückkehr ins Urlaubsquartier Wikipedia: um einen „Bestandteil der französischen Kochkultur“, hergestellt „aus dem Darm sowie dem Magen von Schweinen“ und „weniger kräftig gewürzt, so dass der Innereien-Geschmack (und Geruch) stärker hervortritt“. Das muss man halt mögen…
Lyon selbst, Lugdunum zu Römerzeiten und bereits damals ein pulsierender Knotenpunkt erst für die Eroberung, dann die Beherrschung Galliens und immerhin Geburtsstadt auch eines römischen Kaisers (Claudius), ist allemal einen Besuch wert.
Wer sich, wie wir, dem historischen Zentrum von Süden her nähert – vorbei am futuristischen, gerade erst eröffneten Musée des Confluences, das vor allem den Naturwissenschaften gewidmet und direkt am Zusammenfluss der Ströme Rhône und Saône gelegen ist, die das Stadtbild von Lyon prägen –, der findet auf der Uferpromenade der Saône großzügig dimensionierte mehrgeschossige Tiefgaragen vor. Parken – kein Problem. Hat allerdings seinen Preis: knapp 13 Euro für dreieinhalb Stunden. Gnadenlos auch sonntags.
Mit etwas Glück entsteigt man den neuzeitlichen Katakomben ziemlich genau am Justizpalast, hinter dem sich die wuchtige gotische Kathedrale St.-Jean aus dem späten 12. Jahrhundert mit ihren vier Türmen erhebt, zwei davon nur wenig höher als das Hauptschiff. Ein guter Ausgangspunkt für einen Streifzug durch Le Vieux-Lyon. Dieses Viertel zwängt sich in einen schmalen Landstreifen zwischen dem Ufer der Saône und einem Hügel, dem Colline de Fourvière, auf dessen Kuppe eine mächtige Basilika thront, die das Weichbild der Stadt beherrscht.
Typisch für die Bausubstanz von Le Vieux-Lyon sind vier- bis sechsgeschossige Profanbauten aus der Spätgotik und der Renaissance, die in den engen und engsten Gässchen als solche durchaus zu erkennen sind – an ihren typischen steinernen Fensterrahmen zum Beispiel und bisweilen auch an ihren Hauseingängen. Etliche schlanke, turmartige Treppenhäuser, zum Teil offen, sind ebenfalls erhalten. Ansonsten sind viele dieser Gebäude, deren Fassaden irgendwann zeitlos nüchtern verputzt wurden, eher weniger beeindruckend. – Räumliche Enge macht im Übrigen erfinderisch, wovon in Le Vieux-Lyon zahlreiche Durchgänge, sogenannte traboules, zeugen. Da in diesem Viertel schlicht kein Platz für ein größeres Straßennetz war, wurden Wohnblöcke und ihre Innenhöfe (häufig mit Renaissancegalerien) durch Passagen so miteinander verbunden, dass sich die Wege zwischen den Gässchen erheblich verkürzten. Viele traboules sind mit Spitzbögen überwölbt oder weisen verzierte Balkendecken auf. Da es sich um private Durchgänge handelt, sind sie normalerweise abgeschlossen. Doch den Touristen zuliebe gibt es auch allgemein zugängliche – zum Beispiel mehrere in der Rue St-Jean: etwa in Haus Nummer 54; dort beginnt die längste traboule von Le Vieux-Lyon, die durch fünf Höfe führt, bis sie in Nummer 27 der Rue du Bœuf endet.
Den Aufstieg zur Basilika Notre Dame de Fourvière bewältigt man unter anderem über die Montée des Chazeaus, einen engen, 228 Stufen zählenden gassenartigen Weg. Nichts für Kurzatmige, allerdings kann man auf diversen Absätzen verschnaufen und sich für die Kraxelei durch Blicke auf Le Vieux-Lyon, die Kathedrale und später die Saône entschädigen. Wer pseudobyzantinischen Sakralkitsch aus dem 19. und dem beginnenden 20. Jahrhundert à la Notre-Dame de la Garde in Marseille (1864) oder Sacré-Cœur de Montmartre in Paris (1914) mag, wird hernach von dieser Basilika (1896) schwer beeindruckt sein – nicht zuletzt wegen des von ebenso bunten wie üppigen Mosaiken bestimmten Interieurs.
Auf dem Vorplatz der Basilika boten uns höfliche Knaben in Pfadfinder-Outfit Gebäck an, um mit dem dafür allfälligen Salär ihre kollektive Ferienkasse aufzubessern. Wir griffen flugs in die unsere …
Um von Le Vieux-Lyon ins Viertel La Presqu’île – das pulsierende Herz Lyons, gelegen auf einer Halbinsel zwischen Rhône und Saône – zu gelangen, muss man letztere über eine ihrer Brücken queren. Wir hielten uns hernach zunächst an die von gravitätischen Platanen gesäumte Uferpromenade stromaufwärts, um – vorbei an zahllosen Ständen ambulanter antiquarischer Buchhändler – zu einem der heutigen Wahrzeichen der Stadt zu gelangen, zum direkt am Quais Saint-Vincent gelegenen Fresque des Lyonnais. Dieses Fresko, 1995 von der Künstlergruppe Cité de la Création geschaffen, erstreckt sich über sieben gemalte Stockwerke und nimmt eine ganze Häuserfront und eine zugehörige schmalere Seitenfassade ein. Es zeigt 31 Persönlichkeiten aus der Region – darunter die Brüder Lumière, den Kochpapst Paul Bocuse und den fliegenden Dichter Antoine de St-Exupéry samt seinem „Kleinen Prinzen“.
Danach wandten wir uns ins Innere der Presqu’île. Das Straßenbild ist hier weiträumig von vier- bis fünfgeschossigen Bürgerhäusern und anderen Bauten unterschiedlicher Epochen vom Barock bis zum Jugendstil geprägt, überwiegend historisch gut erhalten und sehr gepflegt. Unvermittelt öffnete sich der Blick auf die Place des Terreaux mit dem imposanten Hôtel de Ville und seiner prall-barocken, von einem überlebensgroßen Reiterstandbild Heinrich IV. bestimmten Fassade.
Linkerhand, am Rande des Platzes – ein gigantischer Brunnen mit einer barbusigen Meeresgöttin auf einem Gespann, das von vier schnaubenden Rössern gezogen wird, deren Nüstern (Wasser-)Dampf entsteigt. Der Gewinn der Ausschreibung der Stadt Bordeaux für diesen Brunnen brachte seinem Schöpfer, dem aus Colmar im Elsass stammenden Frédéric-Auguste Bartholdi, 1857 den künstlerischen Durchbruch. Bekannter ist Bartholdi heute durch ein späteres Werk – die Freiheitsstatue vor Manhattan. Bordeaux war das Brunnen-Projekt im Endeffekt dann zu teuer. Daher verkaufte man den Entwurf später an Lyon, wo er schließlich im Jahre 1892 in Blei realisiert wurde.
Rechterhand vom Hôtel de Ville befindet sich das aus dem 17. und 18. Jahrhundert stammende Palais St-Pierre, das einst eine der ältesten Benediktinnerinnenabteien Lyons beherbergte und heute Domizil des Musée des Beaux-Arts ist. Ein kühler, lauschiger grüner Innenhof lädt dort an heißen Tagen ebenso zum Verweilen ein wie das Terrassencafé im ersten Stock, das auch ohne Museumsbesuch zugänglich ist.
Danach waren wir an diesem Nachmittag, zumal bei hochsommerlicher Temperatur und ohne auch nur einen Hauch von Wolken am Himmel, fußläufig „fertig auf der Bereifung“. Und hatten anderes Sehenswerte von Lyon noch nicht einmal touchiert – etwa das Viertel La Croix-Rousse, von dem unser Reiseführer behauptet, es zeichne sich besonders an Markttagen durch seine nachgerade dörfliche Atmosphäre aus. Aber vielleicht ergibt sich ja andermal eine weitere Gelegenheit …
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