26. Jahrgang | Nummer 10 | 8. Mai 2023

Unterwegs nach Spaniens Norden

von Alfons Markuske, zz. Corias, Asturien

Wenn einer eine Reise tut, dann … Das begann dieses Mal bereits auf dem Wege zu unserem eigentlichen Ziel, Spaniens Norden, den wir von der Atlantikküste Galiziens bis fast zum Mittelmeer zu durchqueren gedenken. Wieder von Parador zu Parador. (Zu diesen spanischen Herbergen der besonderen Art siehe Das Blättchen 11/2022.)

Unsere erste Station – zwecks Übernachtung und Besichtigung – war die in der Champagne gelegene, von der Seine lieblich durchströmte Kleinstadt Troyes, einst Hauptort des Keltenstammes der Tricassen und nachmals bereits seit dem 4. Jahrhundert Bischofssitz. In der Nähe von Troyes soll 451 nach Christus die Schlacht auf den Katalaunischen Feldern stattgefunden haben, in der die mit den Westgoten verbündeten Weströmer den Hunnenhäuptling Attila (Ostgote) vernichtend schlugen. Davon ist heute nichts mehr zu sehen, wohl aber architektonische Zeugnisse der Renaissance in Troyes, insbesondere Profanbauten. Der Ort genießt den Ruf, über eine besonders pittoreske Altstadt mit zahlreichen Fachwerkhäusern und -ensembles zu verfügen.

Doch als wir nach elfstündiger Fahrt von Berlin (knapp 1100 Kilometer) am mittleren Nachmittag unser Hotel in der Nähe des Stadtzentrums betraten, erwartete uns zunächst eine böse Überraschung. Im System des Hauses war keine Reservierung vermerkt. Ich hatte diese – sich dem technischen Fortschritt selbst in begründeten Fällen zu verweigern, hält denselben bekanntlich auch nicht auf – online vorgenommen. Nicht bei Booking.com, aber bei einem vergleichbaren, womöglich noch bekannteren Dienst. Ein Rückruf in dessen Kölner Zentrale ergab die überraschende Auskunft, dass ich selbst die Reservierung nur zwei Minuten nach deren Tätigung wieder storniert hätte. Was ich, da mir Senilität bisher nicht bescheinigt worden ist, vehement zurückwies. Nach einigem Hin und Her bequemte sich der Vertreter des Dienstes zu dem Eingeständnis, es könne unter Umständen auch ein error of the system (der Wortwechsel fand auf Englisch statt) im Spiel gewesen sein. Doch der Mann am anderen Ende der Leitung hatte gleich einen Tipp parat: Wir sollten einfach eines der übrigen freien Zimmer des Hotels in Anspruch nehmen. Gute Idee, nur leider war das Haus ausgebucht. Auch dies brachte unseren Mann keineswegs in Verlegenheit: Über die Homepage seines Arbeitgebers fänden wir sicher ganz schnell ein anderes Hotel. Darauf verzichteten wir allerdings, weil wir ein solches kaum binnen zwei Minuten hätten erreichen können. Bevor der error of the system gegebenenfalls ein weiteres Mal zugeschlagen hatte.

Aus der Patsche half uns mittels einiger Telefonate die freundliche Rezeptionistin im bis unters Dach belegten Kyriad Hotel in Troyes, die in einem Nachbarort ein freies Doppelzimmer für uns auftat. Ein herzliches merci beaucoup noch einmal!

Das Ganze verzögerte unseren Stadtrundgang zwar, verunmöglichte ihn aber glücklicherweise nicht. Er wurde begleitet von der schrillen Kommunikation der aus ihren Winterquartieren zurückgekehrten flinken Schwalben am Himmel sowie durch hin und wieder prachtvolle Farbtupfer setzende blaublühende Glyzinien am Boden. Und das Stadtbild? Pittoresk ist fast ein wenig untertrieben. Wen’s in die Nähe von Troyes verschlägt, der sollte unbedingt einen Abstecher machen.

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Nächster Zwischenstopp: Bordeaux. Dort verbrachte Friedrich Hölderlin 1801 eine vergleichsweise knappe Zeit als Hauslehrer, die gleichwohl in „Andenken“, einer Hymne seines Spätwerkes, in der er „Die schöne Garonne, / Und die Gärten von Bordeaux“ besang, zu einer der unsterblichen Zeilen des Genius’ gerann: „Was bleibet aber, stiften die Dichter“.

Die Stadt behauptet gern von sich, nächst Paris die zweitschönste in Frankreich zu sein. Und sie hat einen prominenten Kronzeugen – Victor Hugo: „Nehmt Versailles, mischt etwas Antwerpen dazu, und ihr habt Bordeaux.“ Immerhin wollen nach Umfragen knapp 40 Prozent aller Franzosen dort gern leben. Zu dieser Präferenz dürfte der gleichnamige, weltweit geschätzte Wein das seinige beitragen …

An einem gewöhnlichen Freitagnachmittag im späten April herrscht auf den Straßen und Plätzen sowie in den teils engen Gassen der historischen Altstadt quirliges Treiben. Vor allem Einheimische und insbesondere junge Menschen bevölkern die Stühle und Tische vor zahllosen Cafés, Restaurants und Bars etwa rund um die Kathedrale Saint André mit ihrem vorgelagerten beeindruckenden Glockenturm Pey-Berland, der, 1466 vollendet, an einen italienischen Campanile erinnert. Auf manchen Plätzen ist der Geräuschpegel der zu Hunderten versammelten Gäste ohrenbetäubend.

Weithin gerühmt ist der Miroir d’Eau (Wasserspiegel) an der Place de la Bourse, Bordeauxs repräsentativstem Platze. Der Touristenmagnet direkt auf dem Kai der Garonne bietet auf 3500 Quadratmetern einer zwei Zentimeter hohen Wasserfläche ein einmaliges Schauspiel: das Spiegelbild der angrenzenden Gebäude, das jedoch alle fünf Minuten durch einen bis zu zwei Meter hohen Nebeleffekt unterbrochen wird, durch den insbesondere an heißen Tagen Einheimische wie Besucher gern toben. Doch nicht schon Ende April, denn da liegt der Miroir leider noch im Winterschlaf.

Am Rande der historischen Altstadt, unweit des Ufers der Garonne – die monumentale marmorne Gedenksäule für die Girondisten mit üppigen, in Metall gegossenen allegorischen Figurengruppen samt zahlreichen Wasserspeiern um ihren Sockel. Die Girondisten waren eine der maßgeblichen Parteien der französischen Revolution, deren Namen sich von dem Landstrich ableitet, in den Bordeaux eingebettet ist und aus der viele ihrer Mitglieder im Pariser Nationalkonvent stammten. Zusammen mit den Jakobinern stürzten sie einerseits die Monarchie, doch da sie andererseits zum erheblichen Teile dem gehobenen Bürgertum zugehörig waren, plädierten sie im Konvent schließlich für die Beendigung der Revolution, um ihr Eigentum vor der um sich greifenden Anarchie zu schützen. Das war am 31. Mai 1793 einer der Auslöser des Aufstands des Pariser Proletariats, der Sansculotten, in dessen Folge führende Vertreter der Girondisten arretiert und anschließend dem Schafott überantwortet wurden. – An einer hervorgehobenen Position im Sockelbereich des Denkmals – der Gallische Hahn. Mit gespreizten Flügeln und in so heldenhafter Pose, die Brust stolz geschwellt, dass der Betrachter sich unwillkürlich fragt, wie dieses Tier je in einem Kochtopf landen und der Erfindung einer der – zugegebenermaßen köstlichen – Essentials der französischen Küche dienen konnte, des Coq au vin.

Einige Tramstationen die Garonne abwärts erheben sich an beiden Flussufern je zwei der grazilen 77 Meter hohen Pylonen (Hebetürme) des Pont Jacques Chaban-Delmas, die den 110 Meter langen Brückenabschnitt direkt über dem Fluss bei Bedarf binnen zwölf Minuten auf 55 Meter über Flussgrund anheben, damit Kreuzfahrtschiffe passieren und flussaufwärts am Kai festmachen können.

Nur einen Steinwurf von der Brücke entfernt breitet sich ebenfalls direkt am Ufer die Cité du Vin – in Gestalt einer gigantischen, farbenprächtigen Dekantierkaraffe – aus. Das Tourismusprojekt, das sich auch bei den Bordelaisern großer Beliebtheit erfreut, ist eine Mischung aus Weinbaumuseum und Freizeitpark, entsprechende Gastronomie inklusive.

20 Fußminuten entfernt hat das Dritte Reich einen Bau für die Ewigkeit hinterlassen – einen U-Boot-Bunker für insgesamt neun Schiffe aus derart massivem Beton, dass eine Sprengung nach dem Krieg zugleich große Teile der Stadt zerstört hätte. Seit 2020 präsentieren sich dort die Bassins de Lumiéres – vier begehbare, je 110 Meter lange, 22 Meter breite und 12 Meter hohe Wasserbecken – als größtes digitales Kunstzentrum der Welt. 90 Videoprojektoren werfen Bilder auf insgesamt 12.000 Quadratmeter Fläche. Derzeit laufen Produktionen über die Bilderwelt Salvador Dalís und die Architektur Antonio Gaudis – aus 80 Lautsprechern unterlegt mit Bombast-Pop à la Pink Floyd („The Wall“). Wahrlich ein einmaliges Spektakel.

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Letzter Zwischenstopp, bereits in Nordspanien: Bilbao. Dort reichte die Zeit nur für einen Blick auf das wie ein futuristisches Schiff am Ufer des Nerbioi hingebreitete Guggenheim Museum und einen Streifzug durch die Altstadt am gegenüberliegenden Flussufer. Am Sonntagnachmittag quirliges Treiben auch dort in den Gassen und auf den Plätzen. Vor einem Café zwei junge Gitarristen, umgeben von gleichaltrigen Frauen und Männern, die zur flamencoartigen Musik singen, im Chor oder solo, immer mal auch mit einer rhythmischen Tanzeinlage aus dem Publikum …

Wird fortgesetzt.