26. Jahrgang | Nummer 15 | 17. Juli 2023

Durch Spaniens Norden (VI)

von Alfons Markuske

Der Parador von Alcañiz im Süden der Region Aragon – im Mittelalter neben Kastilien das zweitwichtigste christliche Reich in Spanien – thront förmlich über der Stadt. Wie der Porkpie auf dem Haupte von Gene Hackman in „French Connection“. Ältere Kinogänger und Freunde von Gangsterfilmen werden sich des Streifens, der Anfang der 1970er Jahre unter dem deutschen Titel „Brennpunkt Brooklyn“ auch in hiesigen Lichtspielhäusern lief, gewiss erinnern.

Der Porkpie von Alcañiz auf der Spitze des die Stadt überragenden sogenannten Pui Pinos-Hügels hingegen ist eine nach der Rückeroberung des Ortes von den Mauren im Jahre 1157 zum Schutz gegen diese vom Calatrava-Orden errichtete Burganlage, eine der trutzigsten in ganz Aragon. Der im zwölften Jahrhundert gegründete (und bis heute existente) Militärorden katholischer Prägung, der schon in seiner Frühzeit ein eigenes Heer von 20.000 Mann auf die Beine stellte, spielte eine wichtige Rolle im Rahmen der spanischen Reconquista, des Rollbacks der maurischen Herrschaft.

Von der Burganlage aus hat man einen herrlichen Rund- und Weitblick über die Stadt und die umliegende Landschaft.

Apropos Reconquista: Die hatte zwar bereits im Jahre 720 begonnen, endete aber bekanntlich erst im Jahr der Ankunft von Kolumbus in der Karibik, 1492, zog sich also über fast 800 Jahre hin. In meiner Reiselektüre fand ich zumindest einen Grund für dieses, nun ja, Schneckentempo. Und zwar in Manuel Vásquez Montalbáns historischem Roman „O César o nada“ („Kaiser oder nichts“). Das war das Motto Césare Borgias, jenes berüchtigten spanischen Adligen, der während des Pontifikats seines Vaters Rodrigo Borgia als Papst Alexander VI. versuchte, Italien gegen die in den großen Städten herrschenden Adelsgeschlechter wie die der Medici (Florenz), Sforza (Mailand), Este (Ferrara) oder Della Rovere (Savona) sowie gegen deren Kurienkardinäle im Vatikan militärisch zu einigen und sich selbst zum König von Italien zu erheben und damit scheiterte. Montalbán lässt Alexander VI. erklären, er stamme aus Spanien und wisse daher, „was die Reconquista bedeutet. Kriegführen und Siesta. Ein Land der Gegensätze, immer zwischen Krieg und Siesta.“

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Nächster Halt auf unserer Reise – Tortosa, eine alte katalanische Bischofsstadt am Unterlauf des Ebros, erfolgreich von den Mauren zurückerobert im Jahre 1148. Die hatten dort immerhin seit 714 geherrscht und am höchsten Punkt ihre eigene Burg errichtet, spanisch: Castell de la Suda. Noch so ein Porkpie, der heute einen äußerst stilvollen Parador beherbergt.

An den steilen Hängen unterhalb der Burg blühen im Mai Kapernsträucher und Kakteen. Letztere recken sich teilweise bis in fünf, sechs Meter Höhe gen Himmel. Vom Balkon unseres Zimmers aus schweift der Blick zu den Jardins del Princep, einer gepflegten Parkanlage auf einem benachbarten Hügel. Von dort ertönen Pfauenschreie. Abends schluchzt ein Pirol.

Der Pool im Innenhof des Paradors war Mitte Mai bereits geöffnet, doch die Wassertemperatur für genussvolles Baden noch nicht wirklich zureichend. Im Jahr zuvor hatten wir um diese Zeit in Südspanien bereits Temperaturen bis über 30 Grad; dieses Mal reisten wir durchgängig bei angenehmeren um die 20 Grad.

Themenwechsel: In Spanien konnte sich das als Sieger aus dem Bürgerkrieg von 1936 bis 1939 hervorgegangene faschistische Terrorregime unter Franco nicht zuletzt deshalb bis zu dessen Tod im Jahr 1975 halten, weil das Land sich als militärisches Drehkreuz im Kalten Krieg eignete und daher nach 1945 unter wohlwollender Patronage Washingtons stand. Spanien bot mit dem Atlantikhafen Rota nördlich der Straße von Gibraltar US-Atom-U-Booten ebenso einen Stützpunkt wie der US-Luftwaffe mit Torrejón bei Madrid einen ihrer größten Militärflughäfen im Ausland. Diese Symbiose nahm auch dann keinen Schaden, als nahe dem Ort Palomares an der südlichen Mittelmeerküste am 17. Januar 1966 eine B-52 abstürzte, von deren vier 1,45-Megatonnen-Wasserstoffbomben eine im Meer landete. Die drei anderen explodierten zwar auch nicht, verseuchten aber das Gelände, auf das sie krachten, durch hochradioaktives Plutonium aus ihren Zündern. (Die strahlenden Hinterlassenschaften sind von den USA bis heute nicht abschließend beseitigt worden.)

Nach Francos Tod schaffte Spanien mit Mühen – antidemokratischer Militärputsch mit Erstürmung des Parlamentes 1981 – den Übergang zur Demokratie westlicher Provenienz. Um diesen jedoch nicht zu gefährden, wurde auf jede politische und schon gar juristische Aufarbeitung der Diktatur verzichtet. Kein Scherge des Regimes, von hohen und höchsten Amtsträgern ganz zu schweigen, wurde je zur Verantwortung gezogen. (Die Anzahl der Diktatur-Toten wird von Experten und Angehörigenverbänden immerhin auf mindestens 100.000 bis 150.000 geschätzt.) Auf die Folgen stößt man in Spanien auch als Tourist nicht nur gelegentlich.

So nicht zuletzt in Tortosa.

Am Ebro hatte vom 25. Juli bis 16. November 1938 die größte und blutigste Schlacht des Bürgerkrieges und zugleich die letzte Großoffensive der republikanischen Streitkräfte einschließlich der Interbrigaden stattgefunden. Gekämpft wurde mit erbarmungsloser Härte und in der Manier des Ersten Weltkrieges. Entsprechend hoch waren die Verluste auf beiden Seiten, Quellen nennen bis zu 100.000 Tote und Verwundete. Die Franquisten siegten, nicht zuletzt dank militärischer Hilfe aus Berlin – im Einsatz war auch die berüchtigte Legion Condor – und Rom.

An diesen Triumph, der das Schicksal der spanischen Republik militärisch besiegelte, erinnert in Tortosa nach wie vor ein 1966 errichtetes franquistisches Denkmal. Der Monolith steht mitten in der Stadt, vis-à-vis der Kathedrale, und mitten – im Ebro. Mit etwa 15 Metern Höhe ist er das größte Denkmal seiner Art in Katalonien. Auf der Beschilderung am Flussufer heißt es ohne jede weitere Kommentierung: „A los compatentes que hallaron gloria en la batalla del Ebro“ („Den Landsleuten, die Ruhm in der Schlacht am Ebro erlangten“). Vor einigen Jahren scheiterte der Versuch demokratischer Kräfte, das Denkmal abzureißen. Nach Entfernung einiger franquistischer Symbole meinten örtliche Autoritäten seinerzeit, nun könne man es ja als den Gefallenen beider Seiten gewidmet betrachten. Dagegen gibt es aber offenbar nach wie vor mindestens subtilen Widerstand. Auf dem Stadtplan beispielsweise, den wir im Parador erhielten und auf dem alle Sehenswürdigkeiten von Tortosa vermerkt waren, fehlte das Monument …

 

Wird fortgesetzt.

Die bereits erschienenen Teile dieser Reisenotizen finden sich in folgenden Ausgaben: 10/2023, 11/2023, 12/2023, 13/2023 und 14/2023.